Die Wut ist spürbar
Linke Gruppen, Verbände und Bündnisse beginnen langsam mit der Organisierung von Sozialprotesten für die kommenden Monate
Von Fabian Lehmann
Massiv steigende Nahrungsmittel-, Strom- und Gaspreise sowie anhaltend hohe Mietkosten fressen immer mehr von den Löhnen und Gehältern auf. Die Anzeichen verdichten sich, dass in den kommenden Monaten viele Menschen nicht mehr über die Runden kommen werden. Schon sprechen Politiker*innen und Journalist*innen von einer drohenden sozialen Katastrophe, die Sicherheitsbehörden blicken nervös auf den Herbst und die Bundesregierung warnt öffentlich vor »Volksaufständen« bei einem Gasstopp.
Ob es wirklich zu Massenprotesten kommen wird, ist noch unklar – die Schlagworte »heißer Herbst« und »Wutwinter« kursieren jedenfalls. Zahlreiche Berichte belegen, dass sich die organisierte extreme Rechte sowie Gegner*innen der Corona-Maßnahmen auf mögliche Interventionen vorbereiten und bereits erste Kundgebungen durchführen.
Die spannende Frage ist, wie die gesellschaftliche Linke reagieren wird – vorausgesetzt, sie will mögliche Proteste nicht nur als Zaungast mit Kritik begleiten und den Rechten das Feld überlassen. Tatsächlich haben viele Gruppen, Verbände und Bündnisse die Brisanz der Lage auf dem Schirm – die Planungen für den jeweils eigenen Protestbeitrag sind jedoch unterschiedlich weit fortgeschritten.
»Wir alle sind von den Preiserhöhungen betroffen«
Am weitesten ist man offenbar bisher in Bremen. Hier hatte sich im Juni das Bremer Bündnis gegen Preiserhöhungen gebildet, erste Kundgebungen gab es bereits. Im Juli organisierte das Bündnis im eher ärmeren Stadtteil Vegesack eine Versammlung mit rund 120 Teilnehmer*innen. »Die Wut der Menschen ist deutlich spür- und hörbar«, betont Tobias Helfst vom Bündnis gegenüber »ak«. Schon im Vorfeld der Veranstaltungen habe man beim Plakatieren und Flugblattverteilen vor Supermärkten und Bahnhöfen Zuspruch von Anwohner*innen erhalten. »Wir halten die Kundgebung für einen ersten kleinen Erfolg«, so Helfst. Das Ziel sei nun, über den Sommer in möglichst vielen Stadtteilen einen dort verankerten selbstorganisierten Protest gegen die Preiserhöhungen aufzubauen. Man plane weitere Kundgebungen und Aktionen in sozial prekären Vierteln und vor ausgewählten Betrieben und Berufsschulen, aber auch an den Universitäten. Helfst betont, dass es bei den Protesten auch um die soziale Lage der linken Aktivist*innen selbst gehe. »Bei all unseren unterschiedlichen Lebenslagen sind auch wir alle von den Preiserhöhungen, von der Krise betroffen.« Nicht zuletzt böten frühzeitig organisierte linke Proteste aber auch eine Chance, »einmal vor den Fans rechter Krisenlösungen da zu sein«.
Die Linke darf jetzt nicht versuchen, den Widerspruch zwischen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu einer Seite hin aufzulösen.
Liv Roth, …ums Ganze!
In Berlin formiert sich derzeit ebenfalls ein Bündnis aus verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen. Erste Treffen haben bereits stattgefunden, man ist jedoch noch im Planungsstatus. Das aus verschiedenen linken Gruppen bestehende Bündnis »#NichtaufunseremRücken«, das sich 2020 gegründet hatte, um bundesweit gegen die Abwälzung der Folgen von Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie auf die Lohnabhängigen zu kämpfen, protestierte bereits im Juni in mehreren Städten gegen »Aufrüstung und Preisexplosion«. Das »Wer hat, der gibt«-Bündnis demonstrierte Mitte Juli auf Sylt für Umverteilung.
»Armut macht keine Sommerpause«
Doch wie ist die Lage bei den großen Organisationen? Die Linkspartei-Vorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan haben mittlerweile auch zu Protesten im Herbst aufgerufen. Was die Partei genau plant, ist indes noch nicht bekannt. Auf der Webseite wird angekündigt, dass am 17. September in »möglichst vielen Kreisverbänden« Aktionen gegen die Teuerungen durchgeführt werden sollen. Derweil hat die Klimastreikbewegung Fridays for Future für den 23. September ihren nächsten globalen Streiktag angekündigt. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch hier die soziale Frage thematisiert wird, vor allem mit Blick auf den ÖPNV. Bereits Anfang August gab es Proteste der Klimastreikenden vor der Berliner FDP-Zentrale für die Einführung einer Übergewinnsteuer, um sozial gerechte Maßnahmen wie die Weiterführung des 9-Euro-Tickets zu finanzieren.
Die Tafel-Jugend, der Zusammenschluss junger Tafel-Aktiver, veranstaltet wiederum am 21. August eine Kundgebung vor dem Paul-Löbe-Haus in Berlin unter dem Motto »Armut macht keine Sommerpause«. Weitere Aktionen seien noch nicht spruchreif, heißt es von der Hilfsorganisation gegenüber »ak«. Dass sie notwendig seien, stehe aber außer Frage: »Wir beobachten die aktuelle Lage mit großer Sorge und sehen sofortigen Handlungsbedarf«, sagt Annegret Hintze, Referentin der Tafel. Die bundesweit 962 Tafel-Projekte unterstützen demnach schon jetzt über zwei Millionen Menschen, die sich Güter zur Befriedigung einfacher Grundbedürfnisse wie Lebensmittel nicht mehr leisten können. Die wachsende Nachfrage könne man kaum noch bedienen, die soziale Ungleichheit in Deutschland nicht ausgleichen. »Wir fordern die Bundesregierung auf, sofort armutsfeste Regelsätze, Löhne und Renten sowie eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung zu beschließen«, so Hintze.
»Krisengewinne abschöpfen, Kosten deckeln«
Bei den Anfragen an die großen Gewerkschaften kam lediglich von der IG Metall eine Rückmeldung: »Die kommenden Monate werden für uns vor allem durch die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie bestimmt sein – dabei geht es um Entgelterhöhungen für fast vier Millionen Beschäftigte«, heißt es von der IG-Metall-Sprecherin Alina Heisig gegenüber »ak«. Im Rahmen der Tarifrunde, die unter dem Motto »Solidarität gewinnt!« läuft, werde es sicher auch zu Aktionen und Kundgebungen kommen. Ziel sei eine Erhöhung der Entgelte der Mitglieder um acht Prozent. Heisig verweist weiterhin auf die Kampagne »Krisengewinne abschöpfen, Kosten deckeln«, mit der sich die IG Metall seit Juni für Entlastungen einsetze. Zudem wolle man aber auch als »Teil der konzertierten Aktion im Kanzleramt auf entsprechende Ergebnisse drängen« – also beim sozialpartnerschaftlichen Dialog mit den Unternehmensverbänden und der Regierung.
In eine ganz andere Richtung denkt wiederum das bundesweite postautonome Bündnis »…ums Ganze!«. »Die gesellschaftliche Linke darf jetzt nicht versuchen, den Widerspruch zwischen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit – der im Kapitalismus ja durchaus real ist – zu einer Seite hin aufzulösen«, sagt die Sprecherin Liv Roth gegenüber »ak«. Dabei könne man nur verlieren. Aus ihrer Sicht lautet die wichtige Frage: »Wenn im Winter Leute frieren müssen, weil sie sich die Rechnung nicht mehr leisten können, aber die Autoindustrie munter weiter ihren Scheiß produzieren kann – wieso dann nicht mal deren Werke blockieren?«
Die beiden großen postautonomen Bündnisse »…ums Ganze!« und Interventionistische Linke hatten Anfang August noch viel Aufmerksamkeit auf das »System Change Camp« und die Aktionstage gegen Gas und Neokolonialismus Mitte August in Hamburg fokussiert. Größere neue Kampagnen werden von ihnen wohl erst danach verkündet werden.
Alles in allem zeigt sich, dass es zwar schon verschiedene Ideen und Initiativen gibt. Die bisher bekannten Planungen für linke Protestangebote stecken jedoch noch in den Anfängen oder sind organisatorisch wie regional fragmentiert. Mögliche Forderungen gibt es genug. Solche, die die Kapitalseite oder Vermögende betreffen, sind zum Beispiel die Einführung einer Übergewinn- oder Reichensteuer, verbindliche Energiesparziele für Konzerne, Preisdeckel für Gas, Sprit, Nahrung oder Hygieneartikel oder die Vergesellschaftung von Energieunternehmen. Forderungen, die auf die Abfederung der sozialen Folgen oder die Schaffung einer sozialen Infrastruktur zielen, sind ein Mietmoratorium, ein Inflationsausgleich oder ein kostenloser ÖPNV sowie die Erhöhung von Mindestlohn und Hartz-IV-Regelsätzen.
»Don‘t pay« in Großbritannien
Und auch an Aktionsformen gibt es neben den klassischen Großdemonstrationen einiges, was als Inspiration dienen könnte. Die niedrigschwelligen Protestmethoden der Gelbwesten-Bewegung aus Frankreich sind vielen auch in Deutschland noch in Erinnerung. Im Vereinigten Königreich wiederum gewinnt gerade die Kampagne »Don‘t pay« (Zahle nicht!) gegen steigende Energiepreise an Dynamik. Die Kampagne fordert eine Senkung der Energiepreise auf ein erschwingliches Niveau. Falls die Regierung und die Stromkonzerne diese Forderung ignorieren, wird damit gedroht, die Konto-Lastschriften für die Abschläge ab dem 1. Oktober zu kündigen. Die Kampagne erklärt, den Protest erst umzusetzen, wenn bis dahin auf der Webseite eine Million Absichtserklärungen zur Teilnahme eingegangen sind. Bisher haben knapp 100.000 Menschen ihre Bereitschaft bekundet. Laut der Kampagne bildeten sich zudem bereits 120 lokale Gruppen. Solidarische Jurist*innen haben für den Fall rechtlicher Probleme ihre Unterstützung angekündigt.
Es lohnt sich, von solchen Beispielen zu lernen. Nach den Hartz-IV-Demonstrationen 2004/05 könnte es in Deutschland das erste Mal wieder zu größeren Sozialprotesten kommen – abseits der Mieter*innenbewegung, die auch in den vergangenen Jahren sehr aktiv war. Die gesellschaftliche Linke hat eine reale Chance, sinnvoll zu diesen Protesten beizutragen – aus eigenem Interesse als Betroffene, um die Forderungen der Proteste zuzuspitzen, um rechte Krisenlösungen zurückzudrängen – und um die Lähmung der vergangenen Jahre hinter sich zulassen.