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Im Visier Erdoğans

Bei den türkischen Angriffen in Nordirak stehen nicht nur die Guerilla, sondern zunehmend auch kritische Medien und Zivilbevölkerung unter Beschuss

Von Justus Johannsen

Vier kurdische Guerilla-Kämpferinnen mit der Flagge der autonomen Frauenarmee YJA Star.
Seit Monaten leistet die PKK-Guerilla in den Bergen Widerstand gegen die türkischen Angriffe in Südkurdistan. Foto: Kurdishstruggle / Flickr, CC BY 2.0

Die Türkei führt derzeit einen verdeckten Besatzungskrieg in Südkurdistan, im Norden des irakischen Staatsgebietes. Nach vierzig Jahren Konflikt mit der widerständigen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat der türkische Präsident Erdoğan erneut einen entscheidenden Krieg gegen die Organisation ausgerufen. »Wir werden die Frage der irakischen Grenze in diesem Sommer endgültig klären«, verkündete er Anfang März vor seinem Kriegskabinett. Doch der Widerstand der PKK-Guerilla hält auch im Spätsommer an.

Neben der Bombardierung der Guerilla-Gebiete setzt die Türkei vor allem auf Angriffe gegen die Zivilbevölkerung. Dazu gehören die Zerstörung der Landwirtschaft und die Vertreibung der Bevölkerung aus bergigen dörflichen Regionen ebenso wie extralegale Hinrichtungen von vermeintlichen Anhänger*innen der kurdischen Freiheitsbewegung.

»Sie war mit ihren Freund*innen der Wahrheit auf der Spur«, sagt Fatma Ülkem Isen über ihre Schwester, die Journalistin Gulistan Tara, die am 23. August zusammen mit einer weiteren Journalistin, Hêro Bahadîn, bei einem türkischen Drohnenangriff getötet wurde. Sechs weitere Kolleg*innen, darunter ihr Fahrer Rêbîn Bekir, wurden verletzt. Die beiden kurdischen Frauen waren mit ihrem Team der Firma Chatr Multimedia Production im Auftrag des kurdischen Fernsehsenders SterkTV zwischen der Stadt Silêmanî und der Region Hewraman unterwegs. »Sie und ihre Kollegin Hêro verbrannten zusammen mit ihrer Kamera in ihrem Auto. Diese verbrannte Kamera ist ein schrecklicher Anblick für mich. Jedes Mal, wenn ich die Bilder sehe, schmerzt mein Herz noch mehr«, sagt ihre Schwester Ülkem, die in Deutschland im Exil lebt.

Um »mit Stift und Kamera die Wahrheit ans Licht zu bringen«, habe sich Gulistan entschieden, Journalistin zu werden. Zunehmend geraten kurdische Journalist*innen, die über den völkerrechtswidrigen Krieg der Türkei im Nordirak berichten, ins Visier der Angriffe. Ziel der Türkei sei es, sie zum Schweigen zu bringen und zu verhindern, dass die Wahrheit an die Öffentlichkeit gelangt, so Kamal Raouf, Chefredakteur der unabhängigen Medienagentur Sharpress in Silêmanî: »Ein Akt, der als Staatsterrorismus bezeichnet werden kann.«

Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı berichtete unter Berufung auf »Sicherheitsquellen«, der Angriff sei Teil einer größeren Operation des türkischen Geheimdienstes zur »Neutralisierung« von »PKK-Terroristen« gewesen. Die Tatsache, dass die Anti-Terror-Abteilung der kurdischen Regionalregierung (KRG) in Nordirak kurz nach dem Angriff eine ähnliche Erklärung abgab, lässt lokalen Quellen zufolge vermuten, dass die Behörde über den Angriff informiert war oder zumindest versuchte, die Ereignisse zugunsten der Türkei zu manipulieren. Kamal Heme Reza, Direktor der Medienfirma Chatr, widersprach der Behauptung, der Angriff sei gegen Mitglieder der PKK gerichtet gewesen, und bezeichnete die Darstellung der von der Barzanî-Familie dominierten Behörde als »unethisch und irreführend«.

Gegen die Frauenbewegung

Es ist nicht der erste Angriff auf Journalist*innen. Genau ein Jahr vor dem tödlichen Angriff in Silêmanî am 23. August 2023 wurde ein Auto des kurdischen Frauenfernsehsenders JinTV in Nordostsyrien von einer türkischen Drohne bombardiert. Dabei wurde der Fahrer Necmeddîn Feysel Hec Sînan getötet und die Journalistin Delîla Egîd schwer verletzt. Im Oktober 2022 wurde die Journalistin und Frauenrechtlerin Nagihan Akarsel am helllichten Tag vor ihrem Haus in Silêmanî erschossen. »Wir werden uns immer an Nagihan Akarsel erinnern, die jahrzehntelang daran gearbeitet hat, die geistige und intellektuelle Kraft der Frauenrevolution zu schaffen, deren Slogan ›Jin, Jiyan, Azadî‹ heute in der ganzen Welt widerhallt«, hieß es damals in einer Erklärung der Zeitschrift Jineolojî, deren Mitherausgeberin sie war. Die Frauenvereinigung Rosa in Silêmanî verurteilte den Mord an Akarsel als das Ergebnis von Hass und Wut gegen den Kampf für Frauenbefreiung.

Die Femizide an Journalistinnen reihen sich ein in eine Vielzahl von gezielten Angriffen auf Frauen und insbesondere auf die kurdische Frauenbewegung.

»Vor ein paar Jahren habe ich Gulistan im Fernsehen gesehen. Sie zog in der Region Silêmanî von Dorf zu Dorf. Sie hat sich sehr viel Mühe gegeben, um auf die sehr schwierige Situation der Frauen in Südkurdistan aufmerksam zu machen«, erinnert sich Gulistan Taras Schwester Ülkem. »Auch ihre Freundin Hêro hatte als Frau mit ihrer starken Haltung und ihrer journalistischen Arbeit einen sehr großen Einfluss, vor allem auf junge Frauen. Ihre Arbeit war ein Licht für ihr Volk. Das hat ihren Mördern Angst gemacht.« Die Femizide an Journalistinnen reihen sich ein in eine Vielzahl von gezielten Angriffen auf Frauen und insbesondere auf die kurdische Frauenbewegung.

Im Juli dieses Jahres fand auch ein Drohnenangriff auf ein Fahrzeug des êzîdischen Medienunternehmens Çira TV in Shingal in Nordirak statt, bei dem der 27-jährige Murad Mirza Ibrahim getötet und die 21-jährige Medya Kemal Hassan verletzt wurde. »Die Ermordung von drei Journalist*innen in weniger als zwei Monaten macht die Autonome Region Kurdistan-Irak zu einem der gefährlichsten Orte für Journalist*innen weltweit«, erklärte Jonathan Dagher, Leiter der Nahostabteilung von Reporter ohne Grenzen.

Dagher betonte, dass die tödlichen Luftangriffe auf Journalist*innen und die zunehmende Gewalt seitens der Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregierung bislang ohne Konsequenzen geblieben seien. Dies gelte insbesondere für Übergriffe und Verhaftungen von Journalist*innen durch Sicherheitskräfte der Barzanî-geführten Partei KDP. Expert*innen zufolge befürchtet die Familie Barzanî, die enge Verbindungen zum türkischen Staat unterhält, dass Journalist*innen ihre Kollaboration und intransparenten Ölgeschäfte aufdecken könnten. »Heute fühlen sich nicht nur Journalist*innen direkt bedroht, sondern auch Aktivist*innen und alle, die eine klare Haltung gegen die türkische Invasion und ihre Verbrechen einnehmen«, sagt Kamal Raouf.

Türkische Besatzungspläne

Unbeeindruckt von den Erklärungen lokaler und internationaler Journalist*innenverbände setzt Ankara die Bombardierungen mit dem stillschweigenden Einverständnis der USA und Europas fort. Bis zum ak-Redaktionsschluss sind bereits sieben weitere kurdische Zivilist*innen, darunter Kinder und Minderjährige, durch türkische Luftangriffe in Südkurdistan getötet worden. Diese Angriffe sind Teil eines eskalierenden Krieges gegen die Kurd*innen, seit das Regime in Ankara 2015 nach den Wahlerfolgen der kurdischen Bewegung den Dialogprozess aufgekündigt hat, der vom inhaftierten Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, initiiert worden war.

Es folgte ein politischer Vernichtungsfeldzug mit Tausenden Verhaftungen kurdischer Aktivist*innen und Politiker*innen, der Schließung zivilgesellschaftlicher Organisationen im Inland sowie eine Ausweitung des Krieges über die Grenzen der Türkei hinaus. Wiederholt kündigte Erdoğan an, einen 30-40 Kilometer breiten »Sicherheitsgürtel« entlang der Grenze zu Syrien und dem Irak besetzen zu wollen, um »terroristische Bedrohungen« aus der Region zu bekämpfen.

In Nordsyrien haben türkische Streitkräfte und dschihadistische Milizen in drei völkerrechtswidrigen Angriffskriegen in den Jahren 2016, 2018 und 2019 Gebiete entlang der Grenze unter ihre Kontrolle gebracht. Auch dort haben türkische Drohnenangriffe seit Anfang 2024 zugenommen, das Rojava Information Center hat mindestens 115 Angriffe gemeldet. Parallel dazu weitet die türkische Armee, insbesondere seit 2022, ihre Besetzung strategisch wichtiger Gebiete im Nordirak aus. Die Türkei hat in der Region 74 Militärbasen errichtet, viele Dörfer wurden geleert und Tausende von Menschen vertrieben.

Auch die Bundesregierung unterstützt den türkischen Machthaber weiterhin, indem sie Kurd*innen hierzulande kriminalisiert.

Es ist zu erwarten, dass Erdoğan seine antikurdische Politik fortsetzen wird, um ein breites nationalistisches Bündnis zu schüren. Durch diplomatische Manöver und wirtschaftliche Zugeständnisse scheint es ihm gelungen zu sein, nicht nur die Barzanî-Familie, sondern auch Teile der irakischen Elite für seine Pläne zu gewinnen und sich auf Kosten der Kurd*innen als Regionalmacht zu etablieren. Auch die Bundesregierung unterstützt ihn weiterhin direkt, indem sie kurdische Aktivist*innen hierzulande kriminalisiert und verfolgt. Es ist jedoch zu erwarten, dass die kurdische Freiheitsbewegung weiterhin Widerstand leistet und ihre politischen Errungenschaften verteidigt.

Justus Johannsen

ist Aktivist, politischer Bildungsreferent und schreibt regelmäßig über soziale Bewegungen und internationale Konflikte.

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