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Solange der Vibe vibet

Die US-Wahlen sind wieder offen – doch der Harris-Hype könnte schnell vorbei sein

Von Lukas Hermsmeier

Porträts von Kamala Harris, Tim Walz und eine Kokosnuss mit einem Strohhalm vor einem grünen Plamen-Hintergrund
Kamala Harris und ihr Running Mate Tim Walz haben zumindest das Internet geknackt wie eine Kokosnuss. Collage: ak

Oh my God, diese Vibes. Seit Joe Biden seine Präsidentschaftskandidatur zurückgezogen und Kamala Harris übernommen hat, herrscht bei den US-Demokrat*innen plötzlich, man kann es nicht anders sagen: Euphorie. Die Umfragen sehen Harris vorn, die Spenden- und Meme-Maschine läuft, Zehntausende neue Wahlkampfhelfer*innen haben sich angemeldet. Und auch dass Tim Walz, der als Gouverneur in Minnesota eine Reihe wichtiger sozialpolitischer Reformen durchgesetzt hat, als Vize bestimmt wurde, zeigt: Die Partei bewegt sich.

Vibes können Wahlen mitentscheiden. So war das bei Barack Obama im Jahr 2008, der vor allem gewann, weil er einen Neuanfang verkörperte. Vibes alleine hätten es damals allerdings auch nicht getan, deshalb war es wichtig, dass er unter anderem eine Verbesserung des Gesundheitssystems ankündigte und später größtenteils umsetzte. Die jüngere Geschichte zeigt, dass abschreckende Vibes ebenso ein entscheidender Faktor sein können. Hillary Clinton verlor 2016 gegen Donald Trump nicht zuletzt, weil sie eine Kombination aus Überlegenheitsgefühl und Ideenlosigkeit vermittelte. Wenn sich das liberale Amerika, vom demokratischen Apparat über die diversen Thinktanks bis zu Medien wie MSNBC, allzu selbstsicher ist, sollten jedenfalls immer die Alarmglocken angehen.

So wohltuend der momentane Aufschwung der Demokrat*innen ist, weil man sich zum ersten Mal seit langer Zeit vorstellen kann, dass Trump die Wahl nicht gewinnt, und so ungewöhnlich umsichtig sich die demokratische Spitze in den vergangenen Wochen verhalten hat, so wenig sollte man sich darauf verlassen, dass diese Stimmung bis November anhält. Dafür sitzen viele Probleme zu tief. Dafür ist auch das politische Klima zu volatil.

Die Gegenseite, also Donald Trump und sein Vize J.D. Vance, erscheint derzeit schwach, fast ein bisschen verzweifelt.

Erstens geht es vielen Menschen in den USA immer noch dreckig. Rund 40 Millionen leben offiziell in Armut, viele Kosten sind in den vergangenen Jahren extrem gestiegen. In einer kürzlich veröffentlichten Umfrage gaben 59 Prozent der Befragten an, dass sie glauben, dass sich das Land in einer Rezession befände. Heißt: Auch in der Mittelschicht gibt es große Angst vor dem Abstieg. Es bleibt abzuwarten, ob es Harris und Walz gelingt, mit ihrem jüngst vorgestellten wirtschaftspolitischen Programm, das die Entlastung niedriger und mittlerer Einkommen verspricht, Wähler*innen zu überzeugen.

Zweitens führt das israelische Militär in Gaza immer noch einen verheerenden Krieg, der durch die USA ermöglicht wird. Laut Umfragen will eine parteiübergreifende Mehrheit der US-Bevölkerung, dass sich ihre Regierung für eine permanente Waffenruhe einsetzt. Bereits im März forderten 52 Prozent den Stopp von Waffenlieferungen an Israel. Insbesondere arabische, muslimische und linke Amerikaner*innen werden genau schauen, was Harris in dieser Richtung tut, denn bislang ist es nur Rhetorik.

Zeichnung einer freundlich dreinschauenden Freiheitsstatue, die ein Mikrofon in die Höhe recht, vor roten Streifen

Podcast zur US-Wahl What’s Left?

Ab 9. September jede Woche Montag: der linke Podcast zur US-Wahl. In jeder Folge spricht Lukas Hermsmeier mit Expert*innen und Aktivist*innen aus den USA über die Fragen, die das Land und die Welt bewegen.

Drittens ist Harris in ihrer bisherigen Karriere immer wieder mit inhaltlichen Rückziehern und kommunikativen Patzern aufgefallen. Früher unterstützte sie eine staatliche Krankenkasse für alle und ein Fracking-Verbot, heute hört man davon nichts mehr. Politische Verlässlichkeit sieht anders aus, linke Politik erst recht. In kritischen Interviews wirkte sie in der Vergangenheit manchmal patzig, bei öffentlichen Reden viel zu schwammig. Mal schauen, wie Harris in den kommenden Wochen unter wachsendem Druck und maximalem Scheinwerferlicht agiert.

Die Gegenseite, also Trump und sein Vize J.D. Vance, erscheint derzeit schwach, fast ein bisschen verzweifelt. Das ist insofern interessant, als Team MAGA davon lebt, dass es – bei allen programmatischen Widersprüchen, Skandalen und Lügen – Stärke und Klarheit inszeniert. Während Biden in erster Linie vor den Gefahren Trumps für die Demokratie warnte, gelingt es Harris und Walz, die republikanischen Politiker als jämmerlich darzustellen. Das scheint aktuell zu funktionieren, womöglich aber auch nur bis zum nächsten Vibeshift.

Lukas Hermsmeier

arbeitet als freier Journalist in New York.

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