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Hundert Jahre Nordirland

Republikanischer Vormarsch und loyalistischer Frust

Von Dietrich Schulze-Marmeling

Die katholisch geprägte Falls Road in Belfast, geschmückt mit zahlreichen politischen Wandgemälden. Foto: thomasfyoung, CC BY-SA 2.0

Mit einer Gruppe deutscher Englisch- und Religionslehrer*innen besuchte ich 1990 Community-Projekte im Lower-Falls-Gebiet in West Belfast. Der Stadtteil war eine Hochburg der Irish Republican Army (IRA). Im angrenzenden Shankill-Viertel hatten mit der Ulster Volunteer Force (UVF) und der Ulster Defence Association (UDA) loyalistische, London-treue Paramilitärs das Sagen.  

Im republikanischen West Belfast trafen wir in der Conway Mill den »Volkspfarrer« Des Wilson, begleitet von Tom Cahill, Bruder der IRA-Legende Joe Cahill. Die Conway Mill ist eine ehemalige Leinenfabrik, die nun selbstorganisierte Projekte, Werkstätten und kleine Firmen beherbergte. Pfarrer Wilson selbst gründete das Conway Education Centre (CEC), ein Bildungszentrum, das Lernmöglichkeiten für Erwachsene, Jugendliche und Kinder anbot. Die britische Regierung hatte jahrelang versucht, den Projekten den Geldhahn zuzudrehen – mit Verweis auf angebliche Verbindungen zur IRA.

Die Rückwand des alten Fabrikgebäudes stieß an ein Militärfort mit Wachtürmen. Das ganze Lower-Falls-Viertel war ein militärisch besetztes Gebiet. Schwer bewaffnete Soldaten patrouillierten die Straßen, ihre Gewehre auf die Köpfe von Passanten gerichtet. Über den Häusern kreiste ein Helikopter der Armee. Trotzdem war die Stimmung bei unseren Gesprächspartner*innen und auf der Straße alles andere als niedergeschlagen. Der republikanische Westen wirkte optimistisch, kreativ und geschäftig. Und ausländische Gäste war man gewohnt.

Die andere Seite der Mauer

Einige Stunden später wechselten wir auf die andere Seite der Mauer, die das Lower-Falls-Gebiet von Shankill trennt. Als wir die Shankill Road hochliefen, begleiteten uns misstrauische bis ablehnende Blicke. Im Hinterhof eines Community Centres empfing uns William »Plum« Smith, der sich als Sozialarbeiter vorstellte. Dass Smith ein führendes Mitglied der loyalistschen UVF war, erfuhr ich erst einige Jahre später.

Smith wusste, dass das Bild, das das Ausland von den Loyalisten hatte, miserabel war. Was ist schon romantisch an Truppen, die lediglich der Verteidigung eines reaktionären Status Quo dienen? Und das Massakrieren von katholischen Zivilist*innen als legitim betrachten.

Smith erklärte uns, den Protestanten in Shankill ginge es mindestens genauso schlecht wie den Katholiken auf der anderen Seite der Mauer. Genau betrachtet sogar noch schlechter. Denn die andere Seite sei auf dem Vormarsch. Katholiken und Republikaner würden zwar die britische Herrschaft ablehnen, wüssten aber sehr gut, wie man an Staatskohle komme. Auch von der staatlichen Repression seien die Loyalisten mindestens genauso stark betroffen wie die Republikaner. Allerdings waren in Shankill Militärforts und Militärpatrouillen nur sehr selten zu sehen –  achtsam den Gewehrlauf nach unten gerichtet.

Das Bild der Paras wurde von Leuten wie Johnny Adair geprägt, von mit Steroiden vollgepumpten Typen, die mit ihrem Pit Pull über die Shankill Road flanierten und sich der Zahl der von ihnen ermordeten Katholiken rühmten.

Das nächste Mal sah ich den Sozialarbeiter William Smith am 13. Oktober 1994, als die BBC vom Waffenstillstand der loyalistischen Paramilitärs berichtete. Am 31. August hatte die IRA einen unbefristeten Waffenstillstand verkündet. UVF und UDA befürchteten zunächst einen geheimen Deal zwischen den Republikanern und den Briten, zogen dann aber nach. Auf dem Podium im Fernhill House in North Belfast saß auch William Smith, links neben der UVF-Legende Gusty Spence, der die Waffenstillstandserklärung des Combined Loyalist Military Command, einer Art Dachverband für loyalistische paramilitärische Gruppen, verlas. 1998 gehörte Smith zur Delegation der Loyalisten, die an jenen Gesprächen teilnahm, die zum Karfreitagsabkommen und zur Beendigung des bewaffneten Konflikts führten.

Mangel an Bildung und Debatte

Smith und Co. saßen bei diesen Gesprächen allerdings nur am Katzentisch. Sie besaßen kein politisches Mandat. Im Gegensatz zur IRA, die durch Sinn Féin vertreten wurde. Bei den ersten Wahlen zu einer nordirischen Versammlung konnten die Republikaner knapp 18 Prozent der Wählerstimmen verbuchen. Von den 18 gewählten Abgeordneten hatten etwa acht eine IRA-Vergangenheit. Drei von ihnen galten als ehemalige Mitglieder des IRA-Armeerats. Die von Smith und anderen gegründete Progressive Unionist Party (PUP), ein Versuch, die Politik von IRA und Sinn Féin zu kopieren, kam nur auf 2,6 Prozent – zu wenig für einen Einzug ins Parlament.

Den loyalistischen Paramilitärs ist der Wechsel auf die politische Bühne nie gelungen. Ein Grund hierfür ist sicherlich der unterschiedliche Zugang beider Gruppen zu Bildung und Debatte. Nach dem Hungerstreik von 1981 hatten IRA-Gefangene im Maze Prison mit dem Aufbau einer beeindruckenden Bibliothek begonnen. Als das Gefängnis im Jahr 2000 schloss, wurden allein der Belfaster Linen Hall Library über 1.700 Bücher übergeben. Darunter Werke von Marx, Lenin, Trotzki und Mao, Schriften von Frantz Fanon und Sigmund Freud, Belletristik von Franz Kafka oder James Joyce, Berichte über die Konflikte in Nicaragua, Palästina und im Baskenland und Ausgaben der Irish Feminist Review. Ein loyalistisches Äquivalent wurde nie gefunden.

Der 2016 verstorbene William »Plum« Smith gehörte zu den wenigen intellektuelleren Vertretern des militanten Loyalismus, die die UVF politisieren wollten. Im Gegensatz zu den großen unionistischen Parteien bemühte sich die von ihm mitgegründete Progressive Unionist Party um eine offene und moderne Vision des Unionismus. Aber unionistische Modernisierer*innen, geschweige denn Sozialist*innen waren noch nie populär.

Smiths Vater hatte auf den Belfaster Werften gearbeitet, die bis in die 1970er Jahre hinein das industrielle Rückgrat des Unionismus und Loyalismus gewesen waren. Auch Smith Junior arbeitete einige Jahre auf Harland & Wolff, wo 1911 die Titanic vom Stapel gelaufen war.

Ein Problem des militanten Loyalismus war und ist: Von Smith’ Sorte gab und gibt es nicht viele. Das Gros der UDA- und UVF-Paramilitärs bestand und besteht einfach aus Katholikenhassern. Das Bild der Paras wurde von Leuten wie Johnny Adair geprägt, von mit Steroiden vollgepumpten Typen, die mit ihrem Pit Pull über die Shankill Road flanierten, in den Drogenhandel involviert waren und sich der Zahl der von ihnen ermordeten Katholiken rühmten. Das Gros der etablierten unionistischen Politiker*innen hielt Distanz zu ihnen. Was sie nicht daran hinderte, die »Prolls« aufzuhetzen, wenn sie mal wieder die Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich bedroht sahen. Wie zuletzt anlässlich der Konflikte um die Handelsgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien, die »Irish Sea border«.

Sinn Féins Aufstieg als Wahlpartei begann 1981 mit der Wahl des (im Mai 1981 verstorbenen) IRA-Hungerstreikers Bobby Sands ins britische Unterhaus. Sands’ Sieg stärkte die Fraktion um Gerry Adams, Martin McGuinness und Danny Morrison, die den bewaffneten Kampf um eine politische Strategie ergänzen wollte. Adams und Co. waren bereits Mitte der 1970er zu der Erkenntnis gelangt, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen sei. Einen Monat nach dem Ende des Hungerstreiks verkündete Morrison die sogenannte »The Armalite and Ballot Box«-Strategie, eine Doppelstrategie aus bewaffnetem Kampf und der Teilnahme an Wahlen.

Sinn Féin wollte die Social Democratic and Labour Party (SDLP) als erste Kraft im Lager der Katholiken und Nationalisten ablösen. Dies gelang aber erst nach dem Karfreitagsabkommen und dem Ende des bewaffneten Kampfes.

Bei den Regionalwahlen 2003 zog Sinn Féin mit 23,5 Prozent an der SDLP (17 Prozent) vorbei. 2017 wurde Sinn Féin zweitstärkste Partei in der nordirischen Versammlung – knapp hinter der Democratic Unionist Party (DUP). Insgesamt erhielt das pro-irisch-nationalistische Lager 52,8 Prozent der Stimmen, 45,4 Prozent wurden für die unionistischen Parteien abgegeben. Die Unionisten hatten ihre Mehrheit verloren. In einem Staat, der vor 100 Jahren nur für sie gegründet worden war.

Die Unionisten hatten ihre Mehrheit verloren. In einem Staat, der vor 100 Jahren nur für sie gegründet worden war.

Denn als die irische Insel im Mai 1921 in zwei Staaten geteilt worden war, folgte die Grenzziehung nicht historischen oder geografischen Erwägungen. Sie basierte auf einem sektiererischen »headcount«. Die Grenze wurde so gezogen, dass im Norden, der im Vereinigten Königreich blieb, eine deutliche probritische Mehrheit garantiert war. Fast zwei Drittel der Bürger*innen waren protestantisch.

Bis Anfang der 1970er war Nordirland de facto ein Einparteienstaat. Es regierte die Unionist Party, die nordirischen Regierungen waren exklusiv protestantisch. Katholik*innen waren Bürger*innen zweiter Klasse, die bei der Vergabe von öffentlichem Wohnraum und Arbeitsplätzen diskriminiert wurden. 1972 brach dieses System nordirischer Selbstverwaltung und unionistischer Alleinherrschaft unter der Kampagne der IRA zusammen. Nun übernahm London die Regierungsgeschäfte.

Richtung Republik geschubst

100 Jahre nach seiner Gründung ist der »protestant state for protestant people« Vergangenheit. Die Unionisten müssen die Macht mit ihren ärgsten Gegner*innen teilen, was auch demografischen Veränderungen geschuldet ist. Und die Aussichten sind nicht schlecht, dass nach den nächsten Wahlen Sinn Féin den First Minister stellt. Die bei Katholik*innen verhasste Polizei, ehemals zu über 90 Prozent protestantisch und faktisch ein bewaffneter Arm der Unionisten, wurde durch den Police Service Northern Ireland (PSNI) ersetzt. Er wird von einem Polizeirat kontrolliert, in dem auch zwei prominente Ex-IRAler sitzen.

Die Brexit-bedingte Seegrenze zwischen Nordirland und Großbritannien verstärkt das bei Nordirlands Unionisten und Loyalisten ohnehin grassierende Gefühl einer Abkoppelung vom »Rest« des Vereinigten Königreichs. Man fühlt sich in Richtung Republik geschubst. Im April kam es in einigen protestantischen Vierteln zu Ausschreitungen. Vorwiegend junge Menschen lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die loyalistischen Paramilitärs agierten dabei mehr im Hintergrund.

Der sozial deprivierte Charakter der betroffenen Viertel spielte sicherlich eine Rolle bei den Ausschreitungen, entscheidender war aber, dass die DUP die Stimmung befeuerte, indem sie behauptete, die Handelsgrenze bedrohe die »britische Identität« der Protestant*innen. Im Bemühen, in der eigenen Partei verloren gegangenen Boden gutzumachen, scheute Nordirlands Ministerpräsidentin Arlene Foster nicht davor zurück, die Legitimität des PSNI infrage zu stellen. Mittlerweile hat sie ihren Rückzug angekündigt.

Sinn Féin fordert eine baldige Abstimmung über die Grenze und über die Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich. Eine von der BBC in Auftrag gegebene Umfrage kommt zu dem Ergebnis: 49 Prozent wollen im britischen Staatsverband bleiben, 43 Prozent sich mit der Republik Irland vereinigen, acht Prozent sind unentschlossen. Verglichen mit vergangenen Umfragen sind die Republikaner auch hier auf dem Vormarsch.

Dietrich Schulze-Marmeling

ist Autor, hält Vorträge und schreibt gelegentlich für Zeitungen über Fußball, Nordirland und Antisemitismus.