Heißer Asphalt, trockene Pampa
Eine historische Dürre trifft die argentinischen Agrarexporte und erschwert die wirtschaftlichen Pläne der Regierung
Von Robert Samstag
Buenos Aires, Ende März. Der Sommer auf der Südhalbkugel neigt sich dem Ende entgegen, doch die Hitze lässt nicht nach. Bereits am achten Tag hintereinander steigen die Temperaturen über 32 Grad. Erneut blockieren Anwohner*innen des im Westen der Stadt gelegenen Arbeiter*innenviertels Flores eine wichtige Straßenkreuzung. Seit vier Tagen habe sie keinen Strom und Wasser in ihren Wohnungen, berichtet Martina Carrazzi, die gemeinsam mit ihren Nachbar*innen protestiert.
Es ist die längste Hitzewelle in Buenos Aires seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1902, und bereits zum neunten Mal verzeichnet der nationale Wetterdienst SMN dieses Jahr solch langanhaltende Höchstwerte. Die Rekordtemperaturen haben das Stromnetz in diesem Sommer immer wieder zum Kollaps gebracht und im Großraum Buenos Aires zu Stromausfällen geführt, die insgesamt bis zu 1,5 Millionen Menschen betroffen haben. »Es ist eine unmenschliche Situation, besonders ältere und kranke Menschen sind auf Strom und Wasser angewiesen. Einige von uns sind schon seit mehr als zehn Tagen ohne Strom«, sagt Martina Carrazzi.
Wenn der Dollar-Regen ausbleibt
Weiter im Landesinneren, in der besonders fruchtbaren »feuchten Pampa« hat der Rekordsommer verheerende Auswirkungen auf die Ernten. Das Herzstück der argentinischen Landwirtschaft, in dem Weizen, Mais und in besonders großen Mengen Soja angebaut und verarbeitet wird, erlebt die härteste Dürre seit 1929. Bereits jetzt verzeichnet der wichtige Hafen in der Stadt Rosario einen Einbruch der Getreideexporte von mehr als 50 Prozent. Schätzungen der argentinischen Handelsbörse zufolge könnte die andauernde Trockenheit Schäden von bis zu 15 Milliarden US-Dollar durch ausbleibende Ernten zur Folge haben. Zum Vergleich: Im Jahr 2022 machten die Getreideexporte mit 42 Milliarden US-Dollar 48 Prozent der gesamten Exportsumme des Landes aus. Sollte fast die Hälfte der erwirtschafteten Devisen wegfallen, würde dies auch für die Zentralbank herbe Verluste bedeuten, deren Reserven von Einnahmen aus Exportzöllen abhängen.
Eben jene Reserven befinden sich jedoch auf einem historischen Tiefstand. Dem Wirtschaftsinstitut GERES zufolge besaß die Zentralbank Ende März nur noch Reserven in Höhe von 1,48 Milliarden US-Dollar, die sowohl für den Import als auch zur Aufrechterhaltung des Wechselkurses des argentinischen Peso genutzt werden müssen. Dieser habe seit Jahresbeginn bereits 17 Prozent seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren, so das nationale Statistikinstitut Indec. Direkt mit der Entwertung verbunden ist die grassierende Inflation, die im Februar zum ersten Mal seit 1992 den Jahreswert von 100 Prozent überschritt. Besonders stark stiegen die Preise von Lebensmitteln und Waren des alltäglichen Gebrauchs an, was die arbeitende Bevölkerung besonders hart trifft.
Die fortwährende Teuerung ist die größte Baustelle von Sergio Massa, der im vergangenen Juli das Wirtschaftsministerium übernahm und eine Senkung der Inflation sowie größerer Dollar-Reserven versprach. Übrig geblieben ist von diesen Versprechungen jedoch wenig. Trotz zahlreicher Zugeständnisse an die Agrarindustrie, die ihre Devisen aus dem Getreideexport zu besonders guten Konditionen bei der Zentralbank umtauschen konnte, schwinden die Reserven immer weiter. Und auch der Inflation konnte Massa, ein gern gesehener Gast in der US-amerikanischen Botschaft in Buenos Aires, mit halbherzigen Preiskontrollen nicht Herr werden.
Das Problem liegt in dem Abkommen, das die Regierung mit dem IWF abgeschlossen hatte.
Das grundlegende Problem hinter Inflation, Entwertung und fehlenden Dollar liegt in dem Abkommen, das die Mitte-Links-Regierung von Alberto Fernández im vergangenen März mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) abgeschlossen hatte, um die Abzahlung des Rekordkredites von insgesamt 57 Milliarden US-Dollar zu vereinbaren. (ak 681) Damals verpflichtete sich die Regierung, die Schulden bis 2034 zurückzuzahlen und die vom IWF geforderten Sparmaßnahmen zu erfüllen. Seitdem wird die wirtschaftliche Ausrichtung der argentinischen Regierung in Washington entschieden und in vierteljährigen Kontrollen überprüft. Erst Ende März gestattete der IWF in seiner vierten Kontrolle eine neue Tranche von 5,4 Milliarden US-Dollar, die ausschließlich zur Schuldentilgung verwendet wird, und forderte in Person der IWF-Chefökonomin Gita Gopinath weitere Sparmaßnahmen insbesondere bei Renten und Energiesubventionen.
Doch eben jene Kürzungen der Subventionen für Transportkosten sowie Strom- und Gaspreise für private Haushalte haben im vergangenen Jahr besonders stark zur gestiegenen Inflation beigetragen. Selbst in Regierungskreisen wird offen gesagt, dass das Abkommen mit dem IWF die Inflation geradezu antreibt und die Wirtschaft zusammen mit der Dürre in eine Rezession treibt. Dazu kommen Kürzungen von Sozialausgaben für Arme und Arbeitslose, die schon jetzt am meisten unter der Krise zu leiden haben. Aktuelle Zahlen des Indec sprechen eine deutliche Sprache: Mehr als jede*r Dritte (37,8 Prozent) lebt unter der Armutsgrenze. Zwei Drittel aller Arbeitslosen, selbst ein Drittel der Beschäftigten (28,3 Prozent) sind arm, ein neues Phänomen in der argentinischen Gesellschaft.
Schwelende Krise im Wahljahr
In diesem wirtschaftlichen Panorama hat weder der als Kandidat der Regierungskoalition gehandelte Massa, noch der unbeliebte Präsident Alberto Fernández große Chancen auf eine Wiederwahl im Oktober. Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner, bei weitem die aussichtsreichste Vertreterin der peronistischen »Frente de Todos« (Front Aller), wird nach eigenen Aussagen nicht zur Wahl antreten. Sie spricht von einem Amtsverbot, das die Justiz in einem politisch motivierten Prozess gegen sie verhängt habe. Der Ex-Präsidentin wird Korruption vorgeworfen.
In der rechten Opposition streiten sich indes der aktuelle Bürgermeister von Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, und die ehemalige Innenministerin und repressive Hardlinerin, Patricia Bullrich, um die vielversprechende Präsidentschaftskandidatur der Koalition »Juntos por el Cambio« (Gemeinsam für den Wandel). Während Bullrich jegliche Sozialhilfen streichen und Proteste mit brachialer Gewalt stoppen will, vermittelt Larreta zwischen seinen neoliberalen Plänen und der Notwendigkeit, die Regierungsfähigkeit angesichts der Unbeliebtheit dieser Maßnahmen aufrechtzuerhalten.
Rechts der etablierten Koalitionen konnte sich der marktradikale Ökonom Javier Milei als »Outsider« in den Medien und sozialen Netzwerken etablieren und mit kruden Losungen wie der Legalisierung des Organhandels Gehör verschaffen. Mileis Forderungen nach einer Auflösung der Zentralbank und der Dollarisierung der Wirtschaft haben kein reales Fundament, stoßen angesichts des wirtschaftlichen Debakels der Regierung und der Unzufriedenheit mit dem politischen System jedoch besonders bei Jugendlichen auf eine gewisse Unterstützung.
Zurück in Buenos Aires. »Die Stromkonzerne investieren seit Jahrzehnten keinen Peso in das Stromnetz, das vollkommen veraltet ist und ständig Probleme bereitet. Die Strompreise werden erhöht, doch die Gewinne bringen sie ins Ausland«, erklärt Mauro Zavaleta, einer der Protestierenden, die sich vor dem Sitz des Energiekonzerns Edesur in Flores zusammengefunden haben. Edesur, im Zuge der Privatisierungswelle Anfang der 1990er Jahre entstanden, gehört aktuell dem italienischen Energiekonzern Enel. Wie viele der Anwesenden unterstützt auch er die Forderung der »Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad« (Front der Linken und Arbeiteri*nnen – Einheit) nach einer Verstaatlichung der Energiekonzerne unter Kontrolle der Beschäftigten und Nutzer*innen.
Bei den letzten Parlamentswahlen 2021 wurde die trotzkistische Linke landesweit drittstärkste Kraft und erzielte in vielen proletarischen Vororten von Buenos Aires zweistellige Ergebnisse. Der indigene Müllarbeiter Alejandro Vilca konnte im nördlich gelegenen Jujuy sogar 25 Prozent der Stimmen erzielen. Die voraussichtliche Präsidentschaftskandidatin der Front, die Menschenrechtsanwältin Myriam Bregman ist eine bekannte Vertreterin sozialer Proteste und stellt sich sowohl gegen die Kürzungspolitik von Regierung und Opposition als auch gegen die extreme Rechte, die Milei verkörpert. Es bleibt abzuwarten, ob die radikalen Forderung der Linken, wie die Nichtzahlung der Auslandsschulden, angesichts der sich verschärfenden Krise auf die breite Unterstützung trifft, die für ihre Durchsetzung nötig wäre. Die Ausgangslage dafür könnte schlechter sein.