Haiti wartet auf Hoffnung
Der Karibikstaat ist ein Beispiel für das Scheitern einer Weltpolitik unter westlicher Hegemonie
Von Katja Maurer
Wer sich ernsthaft mit Haiti beschäftigt, steht immer vor dem Problem, die politische, ökonomische und soziale Lage des Karibikstaates mit Worten beschreiben zu müssen, die offenkundig richtig erscheinen und doch alles verfälschen. Die Katastrophenberichterstattung über Haiti hat seit dem Aufstand der Sklav*innen kurz nach der Französischen Revolution und der Unabhängigkeit von 1804 System. Dem Land ist die Katastrophe eingeschrieben wie ein Naturereignis, und zwar von denen, die einen großen Teil der Verantwortung dafür tragen und sie konsequent verleugnen. Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Sibylle Fischer nannte dieses Phänomen »die verleugnete Moderne«. Die Auslöschung der Erinnerung an die Revolution gegen die Sklaverei aus dem historischen Weltgedächtnis hat ein Konzept der Moderne zur Folge, das die weiße Dominanz fortschreibt.
Jüngst wiederholte sich diese Art der Erzählung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der im Oktober zur Lage in Haiti tagte. Ausgangspunkt waren unter anderem die aktuellen Warnmeldungen des Welternährungsprogramms, das von 4,7 Millionen Menschen in Haiti berichtete, die von akutem Hunger bedroht sind, darunter 19.000 Menschen in der Hauptstadt Port au Prince, die in der höchsten Katastrophenstufe leben, also bereits lebensgefährlichem Hunger ausgesetzt sind. Das ist zum ersten Mal in Haiti der Fall. Millionen von Kindern gehen seit Monaten nicht in die Schule, weil die Gewalt in den Straßen der Hauptstadt ein solches Ausmaß angenommen hat, dass die Eltern sie nicht mehr aus dem Haus lassen. Krankenhäuser und Gesundheitsstationen sind geschlossen, weil sie keinen Strom mehr haben. Die Cholera breitet sich im ganzen Land aus und ist zu einer lebensbedrohlichen Krankheit aufgrund der mangelnden Gesundheitsversorgung geworden.
Die beiden privatisierten Häfen in der Hauptstadt, über die Erdöl in das Land geliefert wird, standen über Monate unter der Kontrolle von bewaffneten Gruppen, die den Import verhinderten. Jetzt ist zwar einer der Häfen wieder frei, aber Benzin wird trotzdem nicht in großem Maßstab transportiert, weil man jederzeit überfallen werden könnte. Zuletzt mussten 100.000 Menschen das Elendsviertel Cité Soleil verlassen, weil bewaffnete Gruppen mit unvorstellbarer Grausamkeit, darunter mit Massenvergewaltigungen von Frauen und durch Zerstörung von Hütten mit Bulldozern, ihre Flucht erzwangen. Die Hauptstadt steht weitestgehend unter ihrer Kontrolle. Das wichtigste Gericht des Landes ist seit Monaten von Gangs besetzt, die die Akten über Strafverfahren unter ihre Kontrolle gebracht und zerstört haben. Das elende Frauengefängnis, in dem Frauen in Schichten schlafen, weil es zu wenig Platz gibt, ist von Gangs befreit worden.
Interventionsmacht UNO
Die Tagung des Weltsicherheitsrates wurde mit einer Rede des Generalsekretärs António Guterres eingeleitet, in der er einen Militäreinsatz in Haiti forderte. Allerdings war er nicht bereit, dafür noch einmal UNO-Truppen zur Verfügung zu stellen. Guterres machte sich damit zum Fürsprecher des haitianischen Regierungschefs Ariel Henry, der einen ausländischen Militäreinsatz im Vorfeld der Sitzung forderte. Henry wiederum besitzt außer der Unterstützung durch die UNO, die USA und anderen westlichen Staaten keinerlei Legitimation im Land.
Diese Organisationen und Staaten bilden die internationale Core-Group, deren Botschafter*innen Haiti seit dem Erdbeben 2010 quasi von außen verwalten. Menschenrechtsorganisationen aus Haiti, darunter das Menschenrechtsnetzwerk RNDDH (Résau National des Défense des Droits Humaines), haben ausführliche Reports über die nach wie vor nicht aufgeklärte Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im Juli 2021 vorgelegt. Danach stand der jetzige Regierungschef mit den wahrscheinlichen Auftraggeber*innen in der Mordnacht in engem Kontakt. UNO und Weltsicherheitsrat, die die entgrenzte Gewalt in Haiti debattieren, ohne über deren Hintermänner zu sprechen, wollen und können das Problem nicht wirklich aus der Welt schaffen.
Die Auslöschung der Erinnerung an die Revolution gegen die Sklaverei aus dem historischen Weltgedächtnis hat ein Konzept der Moderne zur Folge, das die weiße Dominanz fortschreibt.
So hat sich bei der Debatte um Haiti im Weltsicherheitsrat ein Welttheater abgespielt, das viel mehr erzählt als nur die haitianische Katastrophe. Während die westlichen Mitglieder einer Militärintervention in Haiti das Wort redeten und die Gangs zur Ursache des Problems erklärten, wandten sich Russland und China gegen eine solche Vereinfachung.
Der russische Vertreter fragte, ob es nicht klug wäre, erst einmal den Mord an dem Präsidenten Moïse aufzuklären, um dann zielgerichtet und möglicherweise auch militärisch einzugreifen. Dafür bot er die Unterstützung durch russische Söldner der berüchtigten Wagner-Truppen an. Der chinesische Vertreter wies darauf hin, dass möglicherweise ein Militäreinsatz von außen die Gewalt noch weiter anheizen werde, statt sie zu beenden. Auf den parallel stattfindenden Demonstrationen gegen eine internationale Intervention in Port au Prince trugen deshalb einige russische und chinesische Fahnen. Das sieht man bei solchen Demonstrationen in Haiti selten.
Das Dilemma des Westens besteht in Haiti darin, dass man angesichts der offenkundigen humanitären Katastrophe und einer sich ankündigenden massiven Hungersnot intervenieren muss, um die immer wieder humanitär begründete Interventionsmacht der UNO unter westlicher Hegemonie aufrecht zu erhalten. Mit dem Ukrainekrieg ist diese Interventionsmacht in die Krise geraten, denn die moralische Begründung, immer humanitär zu handeln, wird über die UNO zentral gesteuert. Handlungsfähigkeit im Humanitären ist die Legitimation für einen westlichen Führungsanspruch.
Doppelmoral der Humanität
Gleichzeitig ist das Feld des Humanitären voller Doppelmoral. Nirgendwo ist das besser zu besichtigen als in Haiti. Seit der Westen 2004 unter US-amerikanischer und französischer Führung den Präsidenten Aristide stürzte und danach UNO-Truppen 17 Jahre im Land stationierte, scheitert er zugleich am eigenen Überlegenheitsdenken, neoliberalem Marktglauben und der Idee einer repräsentativen Demokratie, die nur eine leere Hülle der Legitimation ist.
Schon Aristide arbeitete bereits mit bewaffneten Gangs aus Cité Soleil, während es 2004 zwei große Gangs gab, gibt es heute mehr als 200, ausgerüstet mit schweren Waffen, meistens US-amerikanischer Provenienz. Der Auftrag der UN-Truppen, die Gangkrise zu bewältigen, ist also vollends gescheitert. Nach dem Erdbeben haben westliche Staaten unter Führung der Clinton-Foundation für mehrere Jahre die Verwaltung des Landes übernommen und damit die ohnehin schwachen haitianische Verwaltungs- und Regierungsstrukturen maßgeblich geschwächt, wenn nicht vollends zerstört. An den immensen Hilfsgeldern, die damals zur Verfügung standen, sind vornehmlich internationale Akteure des sogenannten Humanitarismus, internationale Wirtschaftsberater*innen, die Bauindustrien der Anrainerstaaten Haitis und die einheimische Elite reich geworden. Bei den Menschen, um die es angeblich ging, landete fast nichts.
Ende Oktober einigte man sich nun im Sicherheitsrat der UNO auf eine Haiti-Resolution. Jetzt gibt es Sanktionen und einen internationalen Haftbefehl gegen einen der führenden Warlords, Jimmy Barbecue Cherizier, einen ehemaligen Polizisten, der eng mit dem ermordeten Präsidenten verknüpft war und eine revolutionäre Rhetorik pflegt. Eine punktuelle Intervention ist durch die Resolution abgesichert, zum Beispiel um humanitäre Transporte zu sichern. Unter kanadischer Führung soll nun eine Militäraktion oder -intervention stattfinden. Über deren Erfolgsmöglichkeiten macht sich allerdings niemand Illusionen. Selbst wenn es gelingen sollte, in Teilen der Hauptstadt die bewaffneten Gruppen zurückzudrängen und so irgendeine Art von haitianischer Normalität wieder herzustellen, wird das Problem erneut auftauchen, sobald die internationalen Truppen weg sind.
Dass die sogenannte Weltgemeinschaft Sanktionen gegen einen der Warlords beschließt, ist Ausdruck vollendeter Ohnmacht. Amy Wilentz, eine Autorin und Journalistikprofessorin aus den USA, die regelmäßig über Haiti schreibt, erklärte auf Anfrage von CBS, was man von diesen Sanktionen gegen eine Person halten solle: Hinter den Gangs stünden bedeutende Politiker und Geschäftsleute, in Haiti rede man von »Businessmafia«. Die aber seien die Hauptinformationsquellen und zentralen Kontakte der UN- und der US-Botschaft. Man müsse also die USA und die UNO als »ein bisschen korrupt« in diesen Fragen bezeichnen. Darum also konzentriert sich die UNO auf Chérezier, sonst würde man eigene Verbündete sanktionieren müssen.
Schwache Zivilgesellschaft
Haiti befindet sich nur 700 Meilen von der Küste Floridas entfernt. Ein fast vollständiger Rückzug ist nicht möglich. Eine Million Haitianer*innen leben in den USA, Hunderttausende in Kanada. Durch die unerträgliche Situation werden die Menschen weiter dorthin fliehen. Aber man kann in dieser Situation nicht wieder wie im vergangenen Jahr 19.000 Menschen in wenigen Monaten ins Land abschieben. Die Frage, wohin mit den haitianischen Geflüchteten, wird schon offen und brutal in den USA diskutiert. Ihre Ausweisung in ein anderes Land in gefängnisähnliche Unterbringung oder nach Guantanamo sind ernsthafte Überlegungen.
In Haiti selbst, das über eine traditionsreiche und vielfältige, wenn auch im Laufe der vielen Niederlagen geschwächte Zivilgesellschaft verfügt, zeichnet sich keine Alternative ab. Lange Zeit schien der nach der Moïse-Ermordung gegründete Montana-Accord eine Chance zu sein. Hier sammelten sich über 300 Gruppen aus Menschenrechts- und Frauenorganisationen wie politischen Parteien, die einen detaillierten Plan für eine technokratische Übergangsregierung erarbeitet hatte, die legitime Wahlen organisieren sollte. Sie verlangten die Absetzung des derzeitigen Premiers aufgrund der Verwicklungen in die Ermordung von Moïse und als Repräsentant der Regierungspartei PHNTK, die seit 2011 Haiti ins Desaster geführt hat. Doch der Druck von UNO und USA auf den Montana-Accord, sich mit Henry einigen zu müssen, führte letztlich zu dessen Spaltung.
Der neokolonialen Verwaltung Haitis in den Abgrund hinein steht derzeit nur eins entgegen: Im Zuge der post- und dekolonialen Debatten wird die haitianische Revolution und ihre globale Bedeutung für die Moderne gerade wieder entdeckt. Auch die Abhängigkeitsstrukturen, die nach der Unabhängigkeit durch Verschuldung geschaffen wurden, hat die New York Times detailliert untersucht. Für die Aufarbeitung der Geschichte von Emanzipation, die sich postkolonial schreiben muss, ist das von zentraler Bedeutung. Den Haitianer*innen, die einer anhaltenden und eskalierenden Krise ausgesetzt sind, hilft das allerdings wenig.