analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 696 | Deutschland

Günstiger wird es nicht

Die Anwerbung von Pflegekräften wird die hiesige Krise des Gesundheitssystems nicht beheben

Von Karen Spannenkrebs

Eine Nonne steht neben einem Krankenhausbett, darin eine Person in einem blauen Hemd
Unbezahlte Sorgearbeit unter dem Dach der Kirche. Pflegetätigkeiten wurden in Deutschland bis in die 1960er Jahren vor allem von Nonnen verrichtet. Als sie immer weniger wurden, mussten plötzlich Löhne gezahlt werden. Foto: Ermd38 / Wikimedia, CC BY-SA 4.0

In der Pflege sollen die Löhne steigen. Im kommenden Jahr wird der Mindestlohn von Altenpfleger*innen auf bis zu 20,50 Euro die Stunde erhöht. Das Bundesarbeitsministerium möchte dadurch nicht zur Hilfs-Gewerkschaft werden. Vielmehr reagiert der zuständige Minister Hubertus Heil (SPD) auf den eklatanten Mangel an Fachkräften im Bereich der Pflege. Gesundheitsberufe sollen attraktiver werden.

Es wird aber auch an anderen Stellschrauben durch die Politik gedreht. Ab November dieses Jahres werden sukzessive die Regeln des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes angewandt. Die Rechnung wirkt aus deutscher Sicht zunächst ganz simpel: Wenn Fachkräfte in Deutschland nicht vorhanden sind, müssen sie aus dem Ausland geholt werden. Die Bundesregierung wirbt diese gezielt an. Dabei ist schon die Grundannahme fraglich. In der Studie »Ich pflege wieder, wenn…« der Arbeitnehmerkammer Bremen wurden Pflegekräfte befragt, die aus ihrem Job ausgeschieden sind. Es stellte sich heraus, dass sehr viele bereit wären, unter besseren Bedingungen, was vor allem meint: mit besseren Personalquoten, wieder zurückzukehren. Die Fachkräfte wären also prinzipiell in Deutschland vorhanden.

Nützlichkeitsdebatte

Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz eröffnet für Migrant*innen neue Möglichkeiten, birgt aber auch die Gefahr einer Migrationspolitik anhand von Nützlichkeitskriterien und des »Ausspielens eines Anwerberegimes gegen humanitäre Kriterien«, wie die Politikwissenschaftlerin Susanne Schultz schreibt. Der Arbeitsmarkt wird gegen Geflüchtete in Stellung gebracht. Dabei kommen die meisten ausländischen Gesundheitsfachkräfte weiterhin aus dem europäischen Ausland, vor allem aus den östlichen EU-Staaten und dem Westbalkan, nach Deutschland.

Deren Auswanderung hat teilweise katastrophale Folgen für ihre Herkunftsländer. Beispielsweise machen Ärzt*innen mit rumänischer Staatsbürgerschaft in Deutschland zwar nur ein Prozent der Ärzt*innen aus, doch gleichzeitig entspricht deren Anzahl zehn Prozent der in Rumänien beschäftigen Ärzt*innen. Und in Deutschland pflegen beinahe ebenso viele bosnische Krankenpflegekräfte Patient*innen wie in Bosnien-Herzegowina. Während aus Osteuropa deshalb die Kritik an der deutschen Anwerbepolitik immer lauter wird, verstärkt die Bundesregierung seit  2013 ihre Bemühungen, Fachkräfte aus außereuropäischen Drittstaaten zu holen, etwa durch die bilateralen Triple-Win-Abkommen. Sie werden von der Bundesagentur für Arbeit und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit geleitet. Zuletzt war die Südamerikareise von Annalena Baerbock und Hubertus Heil in den Medien, bei der sich Heil etwa mit seinem brasilianischen Amtskollegen über ein mögliches Anwerbeabkommen für Pflegekräfte verständigte.

In Deutschland pflegen beinahe ebenso viele bosnische Krankenpflegekräfte Patient*innen wie in Bosnien-Herzegowina.

Die Debatte um den Pflegemangel ist nicht neu, und das Problem ist hausgemacht. Schuld ist vor allem die hohe Arbeitsbelastung der Gesundheitsfachkräfte: OP-Säle und Betten müssen gesperrt bleiben und chirurgische Abteilungen feilschen darum, wer wann operieren kann. Die Politik nennt oft den demografischen Wandel als Grund für den Mangel an Gesundheitsfachkräften. Aber nicht die beginnende Rente der geburtenstarken Jahrgänge, sondern vorzeitiger Berufsausstieg und die Reduzierung der Arbeitszeit vieler Gesundheitsfachkräfte haben zu der aktuellen Situation geführt. Die Zumutungen der Corona-Pandemie haben diese Tendenz noch einmal drastisch verschärft.

Mit der Einführung der Fallpauschalen 2003 sollte mithilfe der sogenannten Diagnose Related Groups (DRG) die angebliche Kostenexplosion des deutschen Gesundheitssystems gestoppt werden. Seither werden mit der Krankenhausbehandlung von Patient*innen Diagnosen in bestimmten Gruppen abgerechnet und damit systematisch Gewinne und Verluste gemacht. Dies war die Voraussetzung für eine große Privatisierungswelle der Kliniken und setzte Anreize dafür, die Behandlung von Patient*innen möglichst kostengünstig durchzuführen. Das führte etwas dazu, dass in einigen Kliniken die gemeinsame Visite mit Kolleg*innen aus der Pflege und Ärzt*innen abgeschafft wurde. Unverzichtbar scheint aber in vielen Häusern die wöchentliche DRG-Visite, in denen eine DRG-Fachkraft Tipps zur Liegezeitoptimierung gibt und auf lukrative Diagnosen hinweist, die eventuell noch gestellt werden könnten. Unter diesen Bedingungen kann man unmöglich professionelle Standards einhalten.

Hausgemachtes Problem

Auf den Druck der Beschäftigten, die durch Streiks und Öffentlichkeit auf die Zustände aufmerksam machten, musste zuletzt auch die Politik reagieren. Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ließ die Pflege (am Bett) ab dem Jahr 2020 aus den DRG herausnehmen und nach Selbstkostendeckungsprinzip bezahlen. Der jetzige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) versprach dann letztes Jahr zwar die »radikale Entökonomisierung« durch eine Krankenhausreform (ak689), doch die Abwesenheit des Marktes scheint in weiter Ferne. Das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik schreibt dazu: »Die vereinbarten Eckpunkte beinhalten aber weder eine Überwindung des Fallpauschalensystems noch die notwendige Entökonomisierung der Krankenhäuser. Auf was sich hier geeinigt wurde, ist keine Revolution, sondern ein Etikettenschwindel.«

Die strukturellen Probleme im deutschen Gesundheitswesen sind ungelöst. Da erscheint es logisch, nach einfachen Lösungen außerhalb des Systems zu suchen. 2013 schloss Deutschland die ersten Triple-Win-Abkommen mit Tunesien und den Philippinen ab und stieg damit in das globale Ringen um Gesundheitsfachkräfte ein. Ironischerweise nur drei Jahre nach Unterzeichnung des WHO Code of Practice , der die Anwerbung von Gesundheitsfachkräften eigentlich regulieren und eindämmen sollte.

Zwar wird die staatliche Anwerbepraxis Deutschlands international als vorbildlich gehandelt, doch finden die meisten Anwerbungen gar nicht im Zuge staatlicher Abkommen statt, sondern werden in einem sehr schlecht regulierten Markt von privaten Agenturen durchgeführt. Deren Arbeit war in der Vergangenheit kritikwürdig: von völlig überzogenen Versprechungen, die deutsche Sprache in wenigen Wochen zu lernen, bis zu Knebelverträgen, die die Menschen an einzelne Arbeitgeber*innen banden.  Viele migrierende Fachkräfte hatten es mit Agenturen zu tun, denen es vor allem um den eigenen Profit ging.

Es ist nicht das erste Mal, dass Pflegekräfte nach Deutschland angeworben werden. Bereits in den 1960er Jahren, zeitgleich mit der Anwerbung von Gastarbeiter*innen in anderen Branchen, wurden viele Krankenpfleger*innen besonders aus Indien und Südkorea nach Deutschland geholt. Damals war es die unbezahlte Arbeit der Ordensschwestern, die in eine Krise geraten war, weil immer weniger Frauen ihr Leben als Nonne führen wollten. Die Anwerbung von Gesundheitsfachkräften fand in dieser Zeit des Übergangs von der unbezahlten zur (schlecht) bezahlten professionalisierten Pflegearbeit statt. Die Anwerbung von damals folgte einem ähnlichen politischen Muster wie heute: Anstatt gesellschaftliche Probleme um die Verteilung von Care-Arbeit zu lösen, wird die Arbeit unter prekären Bedingungen an Migrant*innen ausgelagert – ebenso wie die Folgen von deren Fehlen in ihren Herkunftsländern.

Auf der Website von Triple Win wird ausgeführt, dass die Bundesregierung nur in Ländern aktiv anwerbe, die ohnehin über einen »Überschuss« von arbeitslosen Gesundheitsfachkräften verfügen. Dabei wird aber verschwiegen, dass die Arbeitslosigkeit dieser Gesundheitsfachkräfte oftmals eine Folge von neoliberalem Umbau und Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem der Herkunftsländer ist. In allen Ländern, aus denen Gesundheitsfachkräfte nach Deutschland angeworben werden, ist ihr Anteil in der Bevölkerung sehr viel niedriger als in Deutschland.

Wenn Menschen sich entscheiden, hierzulande als Gesundheitsfachkraft arbeiten zu wollen, müssen wir uns dafür einsetzen, dass sie dies unter möglichst fairen Bedingungen tun können. Gleichzeitig gilt es, das Versprechen einer Lösung gesellschaftlicher Probleme etwa im Gesundheitssystem durch Fachkräftemigration kritisch zu hinterfragen. Denn gerade die aktive Anwerbung von »nützlichen« Fachkräften in Branchen wie der Pflege, in denen besonders prekäre Bedingungen herrschen, ist keine humane Migrationspolitik. In einem kürzlich erschienenen Positionspapier der deutschen Plattform für globale Gesundheit ist es so formuliert: »Mit der Abwerbung von Gesundheitspersonal profitiert Deutschland von schlechten Arbeitsbedingungen und der Unterfinanzierung der Gesundheitssysteme in anderen Ländern und weicht der Verantwortung aus, die Arbeitsbedingungen im eigenen Land wirkungsvoll zu verbessern.«

Karen Spannenkrebs

ist Ärztin und arbeitet in der Geschäftsstelle des Vereins demokratischer Ärzt*innen (vdää*). Zurzeit arbeitet sie dort im internationalen Projekt »Pillars of Health«, das sich mit europäischer Gesundheitsfachkräftemigration auseinandersetzt.