Risse im Pakt der Korrupten
In Guatemala demonstrieren Indigene für die demokratische Machtübergabe an den gewählten linken Präsidenten und gegen die Machenschaften des Establishments
Von Knut Henkel
Bernardo Caal Xol ist zuversichtlich: »Wir machen weiter bis zum 14. Januar, dem Tag der Vereidigung von Bernardo Arévalo, dem neuen Präsidenten Guatemalas«, erklärt der 51-jährige indigene Aktivist aus Alta Verapaz. Der Verwaltungsbezirk im Norden Guatemalas gehört zu jenen mit indigener Mehrheit, und dort hat der designierte Präsident Arévalo von der linken Partei Movimiento Semilla (Bewegung Samenkorn) bei den Präsidentschaftswahlen vom 20. August viel Rückhalt erfahren. »Nun organisieren wir die Proteste auf nationaler Ebene mit. Das ist unser Beitrag für die Zukunft Guatemalas.« Denn es sei offensichtlich, dass die herrschenden Eliten oder besser der »Pakt der Korrupten«, der alle Institutionen kontrolliere, die Macht nicht abgeben wolle, so Caal Xol weiter. Er ist Lehrer und Umweltaktivist und gehört zu den Anführern der indigenen Bewegung in und um Cobán.
Die Stadt, rund 200 Kilometer nördlich von Guatemala-Stadt, ist nicht nur Drehscheibe für Kaffee, Kardamom und Chili-Schoten, sondern auch für die Proteste, die Guatemala seit mehr als zwei Monaten in Atem halten. Mit Straßenblockaden, Demonstrationen und Kundgebungen, unter anderem vor dem Ministerio Público, der Generalstaatsanwaltschaft, und vor dem Parlament in der Hauptstadt des Landes, haben die indigenen Völker Guatemalas Präsenz gezeigt. »Sie sind die Speerspitze der Protestbewegung, verteidigen eine Demokratie, die nie die ihre war, eine Justiz, die oft dazu diente, sie zu kriminalisieren«, sagt der deutsche Rechtsanwalt Michael Mörth, der seit mehr als 30 Jahren in Guatemala-Stadt lebt. Warum die indigenen Ethnien, darunter mehrere Maya-Völker, mobil machen? »Wir haben uns zusammengetan, um die Demokratie und die Hoffnung auf einen Wandel zu verteidigen, denn die Korruption ist für viele unserer Probleme verantwortlich«, bringt es Caal Xol auf den Punkt, der fast fünf Jahre im Gefängnis saß, weil er die Proteste gegen ein Wasserkraftwerk anführte.
Kriminalisierung der Proteste
Eine derartige Kriminalisierung des Protests droht erneut. Gerüchten zufolge bereitet die Generalstaatsanwaltschaft Anklagen gegen die indigenen Autoritäten, die seit Monaten die landesweiten Proteste koordinieren, vor, so der Jurist und Leiter des Menschenrechtszentrums CalDH, Héctor Reyes. Längst haben sich Student*innen und etliche zivile Akteure den Protesten angeschlossen, doch die Koordination erfolge durch die indigenen Repräsentanten, sagt Reyes. Er verweist auch auf die kritische Haltung vieler katholischer Priester wie zum Beispiel von Kardinal Alberto Ramazzini. Der kritische Kirchenmann hat Anfang Dezember das Land Richtung Deutschland verlassen, weil Quellen aus dem Vatikan zufolge ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt worden sei.
Typisch für die Generalstaatsanwaltschaft, die quasi zum ausführenden Organ des »Paktes der Korrupten« geworden ist und alle Hebel in Bewegung setzt, um den designierten Präsidenten und seine Partei erst gar nicht ins Amt gelangen zu lassen oder ihn derart zu schwächen, dass er an den Verhältnissen wenig bis gar nichts ändern kann.
Die erste Option ist aufgrund des internationalen Drucks von den USA, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der Europäischen Union (EU) nahezu ausgeschlossen. Denn auch wirtschaftliche Sanktionen stehen im Raum, die vor allem die Wirtschaftsverbände fürchten. So bleibt der Versuch der Schwächung: Ende Oktober wurde der Partei Semilla aufgrund angeblich falscher Unterschriften bei der Gründung 2015 der juristische Status als Partei aberkannt. Für Héctor Reyes ein politisch motiviertes Unterfangen. »Kaum eine Partei wird jede geleistete Unterschrift zur Parteigründung sauber dokumentieren können. Das weiß jede und jeder im Land«, so der Jurist.
Die Generalstaatsanwaltschaft ist zum Staat im Staat mutiert, mit eigenem Sicherheitsdienst und schwerbewaffneter Brigade.
Die Annullierung des juristischen Status der Partei führt dazu, dass die 23 Semilla-Abgeordneten keine Fraktion bilden und nicht an Ausschüssen teilnehmen dürfen. Eine massive Einschränkung für die Partei, für die Rafael Curruchiche der Leiter der Staatsanwaltschaft gegen die Straflosigkeit verantwortlich ist. Curruchiche ist in den USA, genauso wie der Richter Fredy Orellana und seine Chefin, Generalstaatsanwältin María Consuello Porras, unerwünscht, darf nicht einreisen und keine Geschäfte tätigen: Der Grund: Er steht auf der sogenannten Lista Engel. Auf dieser landen korrupte, gegen demokratische Grundprinzipien verstoßende Politiker*innen, Unternehmer*innen und Funktionäre aus Mittelamerika. Die drei Genannten gelten in Guatemala als die Köpfe hinter der Kriminalisierung alternativer und demokratischer Strukturen. Ihre Rücktritte werden von der Protestbewegung seit mehr als zwei Monaten gefordert – bislang erfolglos.
Längst gelten in der Generalstaatsanwaltschaft eigene Regeln. Sie »ist zum Staat im Staat mutiert, mit eigenem Sicherheitsdienst, einer schwerbewaffneten Brigade und modernster Ausstattung«, sagt Anwalt Mörth. Und daran wird sich so schnell nichts ändern. Denn der Ende November verabschiedete Haushalt für das Jahr 2024 sieht einen Rekordetat von umgerechnet 431 Millionen Euro für die Generalstaatsanwaltschaft vor.
Juristischer Staatsputsch
Damit nicht genug: Erneut laufen Ermittlungen gegen Arévalo und Vizepräsidentin Karin Herrera sowie sechs amtierende oder gewählte Abgeordnete. Ihnen wurden in Zusammenhang mit der Besetzung einer Universität Plünderung von Kulturgütern, unerlaubte Vereinigung und Einflussnahme vorgeworfen. »Doch der zuständige Richter Víctor Cruz, durchaus ein willfähriger Kollege, hat nur sechs der ursprünglich 27 Haftbefehle zugelassen, weil die fingierten Belege so dünn sind«, meint Mörth. Für ihn ein Indiz, dass der »Pakt der Korrupten« so langsam sein Pulver verschossen hat und ihm die Ideen ausgehen, wie die Vereidigung des selbst ernannten Anti-Korruptionsbekämpfers Arévalo noch zu verhindern sei.
Der wiederum lässt keine Chance aus, das Vorgehen der Justiz national und international als »juristischen Staatsputsch« zu etikettieren. Viele Regierungen in der Region, darunter Kolumbien oder Uruguay, teilen diese Einschätzung – ein Grund dafür, weshalb die OAS wiederholt auf die demokratische Charta und die Möglichkeit von Sanktionen verwiesen hat. Die fürchtet vor allem das im CACIF zusammengeschlossene ökonomische Establishment. Doch durch den Wirtschaftsverband ziehen sich Risse, erste Kammern verhandeln hinter den Kulissen und unter Vermittlung der US-Botschaft mit den indigenen Autoritäten. Das sind positive Signale.
Sicher sei aber, so Héctor Reyes, dass die Regierung Arévalo zumindest in den ersten 18 Monaten kaum Akzente setzen könne. »Der verabschiedete Haushalt legt die Regierung an die Kette, die zudem gegen eine kontrollierte Justiz wird regieren müssen«. Die hohen Erwartungen an die neue Regierung werde sie kaum erfüllen können – und genau deshalb brauche es Geduld. Die ist jedoch in der guatemaltekischen Gesellschaft nach mehr als acht Jahren korrupter Regierungen kaum vorhanden. Vieles wird davon abhängen, ob die indigenen Autoritäten weiterhin so besonnen vorgehen, wie sie es seit nunmehr rund 70 Tagen des Protests tun.