Biodiversität als handelbare Ware
Der grüne Kapitalismus könnte die natürlichen Grundlagen noch umfassender vernichten als der fossile
Von Eva Gelinsky
Das erklärte Ziel der alle zwei Jahre stattfindenden UN-Weltnaturkonferenzen ist die Erhaltung der Vielfalt von Arten und Ökosystemen. Alle bisherigen Versuche, den weiteren Verlust der Biodiversität (1) zu verlangsamen und damit das sechste Massenaussterben abzuwenden, sind gescheitert. (siehe Kasten) Die Hauptursache für die fortlaufende Zerstörung ist die kapitalistische Wirtschaftsweise, die Natur als rentable Ressource nutzt.
Doch anstatt den herrschenden Umgang mit Natur grundsätzlich infrage zu stellen, behauptet inzwischen auch der internationale Naturschutz, dass die Zerstörung vor allem deshalb stattfindet, weil die »Natur« keinen bzw. keinen korrekten Preis hat. Um die »Vermögenswerte« der Natur zu erhalten, seien es Biodiversität, Wasser oder Rohstoffe, sollten sie als »Naturkapital« betrachtet und in die ökonomische Gesamtrechnung integriert werden.
Seit der UNO-Konferenz über Nachhaltige Entwicklung (2012) wird hierfür auf internationaler Ebene der entsprechende Rahmen geschaffen. Die jüngsten Vorstöße zielen unter anderem auf die Schaffung eines Marktes für biodiversity offsets. Instrumente wie biocredits sollen »Einheiten der Biodiversität« in eine handelbare Ware verwandeln.
Das neue globale Biodiversitätsrahmenwerk, das im Dezember auf der COP15 in Montréal verabschiedet wurde, folgt dieser Logik und macht deutlich, wie ein »grüner Umbau« des Kapitalismus funktionieren soll. Naturschutz ist hier kein unbedingtes Ziel, sondern primär Mittel, um weiteres Wachstum – insbesondere für die Industriestaaten – zu sichern und zu fördern. Festhalten am Status quo so lange es geht – dies gilt nicht nur für den Klima-, sondern inzwischen genauso für den Naturschutz. Die auf der Konferenz beschlossenen Maßnahmen, die in Anlehnung an das Klimaabkommen von 2015 als »Pariser Moment für die biologische Vielfalt« gefeiert wurden, werden daher den weiteren Verlust an Arten und Lebensräumen nicht aufhalten. Forciert wird hingegen die ökonomische Zurichtung der Natur, was fatale Folgen vor allem für Umwelt und Menschen im Globalen Süden haben wird.
Nur die Natur soll geschützt werden, die einen monetarisierbaren Nutzen hat.
Exemplarisch kann dies am 30×30-Ziel gezeigt werden: Beschlossen wurde, mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresfläche bis zum Jahr 2030 unter »effektiven Schutz« zu stellen. Die Vereinbarung verspricht, sich auf »Gebiete von besonderer Bedeutung für die biologische Vielfalt« mit »wichtigen Ökosystemfunktionen und -leistungen« zu konzentrieren. Die erste Frage, die sich hier stellt, lautet: Welche Art von Natur soll hier – für welche Zwecke und für wen – geschützt werden?
Natur als Dienstleisterin
Im Konzept der Ökosystemdienstleistungen, auf das im 30×30-Ziel Bezug genommen wird, setzt sich die Natur aus Systemen zusammen, die sich selbst organisieren und regulieren können. Es besteht der Anspruch, diese Systeme nicht nur in ihrer Funktionsweise zu verstehen, sondern technisch über sie verfügen zu können. Ökosysteme können demnach also auch (wieder-)hergestellt werden, sie können auf eine oder mehrere Funktionen hin konstruiert, optimiert und reguliert werden. Das Interesse bei der »(Re-)Konstruktion« eines Ökosystems bezieht sich auf einen Nutzen: Die Funktion des Systems besteht beispielsweise darin, Kohlenstoff zu binden, Abwasser zu reinigen oder seltenen Arten einen Lebensraum zu bieten.
Um ökonomische Anreize dafür zu schaffen, dass die Leistungen der Natur erhalten bleiben, müssen sie monetär bewertet werden. Dies setzt voraus, dass die Leistungen erfasst und gemessen werden können (2), es müssen ihnen Eigentums- und Nutzungsrechte zugewiesen werden (Privatisierung), und es muss ein Markt geschaffen werden, auf dem die Eigentümer*innen die »Ökosystemdienstleistungen« anbieten und handeln können.
Folgt man dieser Logik, dann kann der Schutz eines Systems nur aufgrund seiner Leistungen begründet werden und der Schutz einer oder mehrerer Arten, der Vielfalt an Arten oder auch bestimmter Individuen nur durch ihren jeweiligen Beitrag zu diesen Leistungen. Das aber heißt, dass zukünftig nur das an Natur geschützt werden sollte, von dem wir wissen, dass es einen messbaren und damit monetarisierbaren Nutzen für uns hat. Da viele Leistungen mit einem Minimum an Artenvielfalt erbracht werden können, wäre es ökonomisch vernünftig, die Artenvielfalt eines Systems auf die »notwendige« Vielfalt zu reduzieren oder zumindest nicht in die für die Leistungserbringung nachteiligen Arten zu investieren.
20 Ziele – alle verfehlt
Um den weiteren Rückgang der biologischen Vielfalt aufzuhalten, wurde bereits 1992 das UN-Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) verabschiedet. Im Laufe der vergangenen 30 Jahre hat die Weltnaturkonferenz CBD bereits Dutzende Ziele beschlossen. Im Jahr 2002 verpflichteten sich die Vertragsparteien, »bis zum Jahr 2010 eine erhebliche Verringerung der derzeitigen Verlustrate bei der biologischen Vielfalt zu erreichen«. Dieses Ziel verfehlten sie. Im Jahr 2010 einigte man sich auf einen neuen Plan, der die sogenannten
Aichi-Ziele enthielt: So sollte bis 2020 etwa der Schwund aller natürlichen Lebensräume, einschließlich der Wälder, mindestens halbiert und, wo möglich, auf nahezu null gebracht werden. Land- und forstwirtschaftliche Flächen sowie Aquakulturen sollten nachhaltig bewirtschaftet werden, um die Artenvielfalt zu erhalten. Von den 20 Aichi-Zielen wurde kein einziges bis zum Jahr 2020 vollständig erreicht. Ein nicht unwichtiges Detail: Keiner der Bestandteile des Übereinkommens über die biologische Vielfalt (CBD) – einschließlich des globalen Rahmenwerks und der Beschlusstexte – ist rechtlich bindend.
Das Ziel eines Naturschutzes unter Kostengesichtspunkten besteht zusammengefasst also darin, die Existenz der Natur als »Dienstleisterin« und Ressource des Wachstums zu sichern. Mehr ist nicht drin.
Darüber hinaus lösen Instrumente wie biodiversity offset credits nicht das Problem, dass mit dem Preis die Zerstörung der Natur nicht verhindert, sondern nur gesteuert wird. Wer über ausreichende Geldmittel verfügt, kann und darf – ökonomisch gesehen – weiterhin Arten ausbeuten und Lebensraum zerstören. Kapitalistisch betrachtet ist der Schutz der Umwelt ohnehin nur dann rational, wenn seine Kosten unter denen der Umweltzerstörung liegen. Wo der Artenschutz zu teuer ist, unterbleibt er.
Neokolonialer Umweltschutz
Die zweite Frage, die im Zusammenhang mit dem 30×30-Ziel zu stellen ist, betrifft die Menschen, die in den potenziell schützenswerten Gebieten leben. Auch wenn explizit festgehalten wird, dass die Rechte indigener und lokaler Gemeinschaften gewahrt und eine »nachhaltige Nutzung« der geschützten Natur möglich sein soll, ist davon auszugehen, dass Vertreibungen und andere Menschenrechtsverletzungen, wie sie inzwischen unzählige Male im Zusammenhang mit der Errichtung von Naturschutzgebieten dokumentiert wurden, weitergehen werden.
Allein deshalb, weil der Nutzungs- und Privatisierungsdruck auf den Boden vor allem im Globalen Süden über den Naturschutz hinaus massiv zunimmt: Offset-Geschäfte wie das Anpflanzen schnell wachsender Eukalyptus-Bäume in Afrika zur CO2-Kompensation von Flugreisen in Europa, Geoengineering-Projekte, die Produktion »grüner« Energie, die steigende Nachfrage nach Wasser, aber auch nach seltenen Erden und anderen Rohstoffen für den »Energieumbau«, die auch im Abschlussdokument der COP15 erwähnten nature-based-solutions, mit denen fossile Unternehmen wie Shell ihr »Netto-Null«-Ziel erreichen wollen – all diese Nutzungsformen erfordern Land, sehr viel Land.
Der »grüne« Umbau des Kapitalismus, der nach der COP27 auch durch die COP15 weiter forciert wird, löst die ökologischen Krisen also in keiner Weise. Stattdessen wird in neokolonialer Manier versucht, die Natur im Globalen Süden als »natürliche« Ausgleichs-, Puffer- und Entwicklungszone in den Dienst zu nehmen, damit das ökonomische Wachstum im Norden (zumindest noch eine Weile) weitergehen kann.
Ein Spekulationsobjekt
Das im Rahmen der Green Economy populär gewordene Konzept der Ökosystemdienstleitungen suggeriert, dass sich die »Leistungen« der Natur kontrollieren und bei Bedarf auch wiederherstellen lassen. Die aktuelle Entwicklung der Klimakrise zeigt aber klar, dass wir weit davon entfernt sind, im Detail zu verstehen, wie »die Natur« funktioniert. Von einer Beherrschbarkeit oder gar Steuer- und Konstruierbarkeit ganz zu schweigen. Doch ist der Anspruch in der Welt, genau dies zu tun – und das Finanzkapital, immer auf der Suche nach lukrativen Anlagemöglichkeiten, fließt in entsprechende Projekte, wie sie beispielsweise der Green Climate Fund finanziert.
Der »grüne« Kapitalismus, so ist zu befürchten, wird die natürlichen Grundlagen also noch gründlicher und bis in die letzten »unberührten« Ecken hinein vernichten, als es seiner »alten«, fossilen Variante gelungen ist. Denn hinzu kommt noch: Die weitere ökonomische Steuerung, Nutzung und Zuteilung der Ökosystemdienstleistungsnatur wird in der Green Economy den Spekulant*innen an den Finanzmärkten überantwortet. Einer Sphäre also, die nicht erst seit den letzten Finanzkrisen für ihre Volatilität und »Irrationalität« bekannt ist. Welche Folgen diese Verbindung von beabsichtigter »rationaler« Steuerung der Natur und potenziell »chaotischer« Spekulation haben wird, bleibt abzuwarten.
Anmerkungen:
1) Im Gegensatz zum ökologischen, deskriptiv-naturwissenschaftlichen Begriff der »Diversität«, hat »Biodiversität« einen wertenden und appellierenden Charakter. Dazu ist »Biodiversität« hochgradig unbestimmt: Der Begriff umfasst so viel, von der Artenvielfalt über die genetische Vielfalt bis hin zur Vielfalt ökologischer Einheiten, jeweils in sehr vielen möglichen Ausprägungen, dass wenig in der lebendigen Welt nicht darunter gefasst werden kann.
2) International wird seit Jahren versucht, Pflanzen, Tierarten und Ökosystemen einen in Geld messbaren Wert zu geben. 2021 einigte sich die UN auf einen statistischen Rahmen, der die Beiträge von natürlichen Lebensräumen wie Feuchtgebieten, Wäldern oder Ozeanen bei der Berechnung der Wirtschaftsleistung besser berücksichtigen soll.