Verstorben bei Hajnowka
Polen verschärft die Abschottung der Grenze zu Belarus – immer mehr Menschen kostet diese Politik das Leben
Vier Schutzsuchende wurden Mitte Februar innerhalb einer Woche tot im polnischen Grenzgebiet zu Belarus gefunden. Anwohner*innen entdeckten am 12. Februar den Körper einer Frau aus Äthiopien im Wald in der Nähe der ostpolnischen Kleinstadt Hajnowka. Die Frau war 28 Jahre alt, als sie im Grenzwald zu Tode kam. Vier Tage später fanden Anwohner*innen und Aktivist*innen die menschlichen Überreste einer weiteren schutzsuchenden Person. Der Mann, ebenfalls aus Äthiopien, war zwischen 20 und 30 Jahren alt. Neben seinen Knochen wurden persönliche Fotos und Dokumente gefunden, trotzdem ist seine Identität bisher ungeklärt. Am selben Tag teilte der polnische Grenzschutz mit, dass zwei Leichen in der Nähe des Flusses Switslatsch entdeckt wurden. Bei den Toten handelt es sich um eine weibliche und eine männliche Person, die bei der Überquerung des Grenzflusses ums Leben kamen. Genauere Informationen über die Todesursache oder die Identität der Verstorbenen sind bisher nicht öffentlich.
Die vier sind nicht die ersten Menschen, die im polnisch-belarussischen Grenzgebiet ihr Leben verloren – und sie werden leider nicht die letzten sein. Die EU-Abschottungspolitik, die Fliehende mit brutalen Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen am Grenzübertritt auf polnisches EU-Gebiet hindert, fordert regelmäßig Opfer. Das öffentliche Interesse an den Todesfällen ist klein.
Misshandlungen auf der östlichen Landroute
Der im Herbst 2022 fertiggestellte 186 Kilometer lange, über fünf Meter hohe und mit Stacheldraht versehene polnische Grenzzaun soll die EU an ihrer Außengrenze nach Belarus hin abschotten. Der Hochsicherheitszaun ist die menschenfeindliche Antwort Polens und der Union auf die vermehrte Nutzung der sogenannten »östlichen Migrationsroute«. Die Mauer löste die militärisch hochgerüstete Sperrzone ab, die die polnische Regierung im Sommer 2021 zunächst als »Schutzwall« gegen die Asylsuchenden installiert hatte. Auch regelmäßige Grenzschutzpatrouillen sowie Pushbacks (gewaltsame Rückschiebungen nach Belarus, die aufgrund der fehlenden individuellen Prüfung der Asylanträge nach Genfer Flüchtlingskonvention illegal sind) gehören zur alltäglichen Abschottungspraxis im Grenzgebiet.
Neben den Einheiten des Grenzschutzes (Straż Graniczna) und der Polizei gibt es seit 2017 eine spezielle militärische Einheit zur Überwachung der Staatsgrenzen, die sogenannte Territorialverteidigungsarmee (Wojska Obrony Terytorialnej, kurz WOT). (ak 679) Die Grenzer*innen versuchen, Schutzsuchende entlang des Zauns und im umliegenden Wald aufzuspüren, um sie nach Belarus zurückzuschieben – oft unter Gewaltanwendung. Auch wenn der Hochsicherheitszaun sein ultimatives Ziel, die Unterbindung illegalisierter Migration, verfehlt, erschwert er den Grenzübertritt und gefährdet Schutzsuchende. Aktivist*innen berichten, dass sich zahlreiche Menschen beim Versuch, den Grenzzaun unentdeckt zu überqueren, mitunter schwere Verletzungen wie Schnittwunden und Knochenbrüche zuziehen. Polnische Grenzschützer*innen feiern ihre Abschottungserfolge immer wieder öffentlich auf Social Media. Kürzlich tauchte ein Video auf, in dem polnische Grenzbeamte lachend einen von der Mauer kopfüber hängenden Menschen filmen, der beim Überkletterungsversuch mit den Füßen im Stacheldraht hängen geblieben war, und ihn dabei rassistisch beleidigen.
Der Hochsicherheitszaun verfehlt sein ultimatives Ziel, die Unterbindung illegalisierter Migration.
Solche und andere Grausamkeiten sind auf der »östlichen Migrationsroute« Alltag geworden. Seit Herbst 2021 wurden insgesamt 38 Todesfälle registriert. Nur zehn der Toten konnten bisher identifiziert werden. Zu den festgestellten Todesursachen gehören Hypothermie, Erschöpfung und Ertrinken. Die Dunkelziffer derjenigen, die ihr Leben im polnisch-belarussischen Grenzwald verloren haben, ist wohl sehr viel höher.
Aktivist*innen brechen das Schweigen
Als direkte Antwort auf die vier Leichenfunde im Februar, aber auch in Erinnerung an die mindestens 34 weiteren Menschen, die die Flucht durch Polen nicht überlebt haben, organisierten polnische Aktivist*innen Ende Februar Protestaktionen im Grenzgebiet sowie in einigen Großstädten. Sie hängten Poster mit Informationen über die Toten an öffentliche Orte; die Plakate waren Traueranzeigen nachempfunden, die traditionell am Wohnort von Verstorbenen aufgehängt werden. In Großstädten wie Warschau, Krakau und Poznań wurden Plakate aufgehängt und Banner platziert, die auf den tödlichen Grenzschutz aufmerksam machten. Außerdem fanden Demonstrationen und Mahnwachen statt.
»Mit den Aktionen wollen wir das Schweigen über die Toten brechen«, erklärt eine Aktivistin gegenüber ak. Der Tod von Menschen wie Jaber al-Jawabra, Kawa Anwar Mahmud al Jaf, Wafaa Kamal, Raja Hasan, Avin Irfan Zahir, Ibrahim Jaber Ahmed Dehya, Tawfik al-Hashiri, Siddig Musa Hamid Eisa, Mustafa Mohammed Murshed Al-Raimi und ihren noch nicht identifizierten Gefährt*innen ist die Folge des brutalen Grenzschutzes, der Teil der EU-Migrationspolitik ist. Mit ihren Aktionen wollen die Aktivist*innen an die Verantwortung der EU für diese Zustände erinnern.
In Polen wie auch in anderen europäischen Grenzgebieten, etwa der griechisch-türkischen Evros-Region, müssen Verstorbene immer wieder als Unbekannte begraben werden, weil eine Identifizierung nicht möglich ist. Schutzsuchende haben oft keine Dokumente bei sich, die Aufschluss über ihre Identität geben könnten. Außerdem liegen ihre Körper oft wochen-, manchmal monatelang unentdeckt im Wald und sind, wenn sie gefunden werden, kaum noch zu erkennen.
Auf der anderen Seite suchen zahlreiche Familien nach Angehörigen, die auf der Flucht verschwunden sind. In Polen sind es Aktivist*innen, die selbstorganisiert Informationen über verstorbene und vermisste Schutzsuchende sammeln und veröffentlichen. Wenn möglich organisieren sie in Absprache mit Angehörigen auch Beerdigungen und Gedenkfeiern für die Verstorbenen. Am 9. Februar wurde der zum Zeitpunkt seines Todes 36-jährige Ibrahim Jabe Ahmed Dhya auf dem muslimischen Friedhof in Bohoniki beigesetzt. Der Bruder des Verstorbenen und Aktivist*innen trauerten an diesem Tag gemeinsam, den drei Kindern Dhyas und ihrer Mutter blieb die Möglichkeit, persönlich Abschied zu nehmen, verwehrt.
Solidarität wird kriminalisiert
Seit mehr als einem Jahr organisieren Aktivist*innen zudem überlebenssichernde Interventionen, indem sie Schutzsuchende im Grenzwald mit Suppe, Tee und Kleidung sowie mit medizinischer Erster Hilfe versorgen. Die Behörden antworten mit Repression. Beteiligte berichten von regelmäßigen Kontrollen und Durchsuchungen sowie von ordnungs- und strafrechtlichen Konsequenzen. Mehr als 20 Menschen wurden seit Herbst 2021 wegen solcher solidarischer Interventionen in Polen verhört, angeklagt, in Gewahrsam genommen oder zu Bußgeldern verurteilt.
Ein weiterer Bestandteil der EU-Abschottungspolitik sind die polnischen Internierungslager. Aktuell gibt es in Polen sieben dieser gefängnisähnlichen Lager, in denen Schutzsuchende widerrechtlich eingepfercht werden. Die Asylsuchenden werden dort oft monatelang festgehalten, ohne Informationen über ihren Asylprozess und fast ohne Kontakt zur Außenwelt. Betroffene berichten von Misshandlungen durch die in den Zentren operierenden Beamt*innen der Grenzschutzeinheit Straż Graniczna, die auch für die Verwaltung der Lager zuständig ist.
Seit Jahresbeginn gibt es Bestrebungen der polnischen Regierung, die Befugnisse der Einheit noch auszuweiten. Durch Änderungen im Ausländergesetz soll die Führungsriege der Grenzschutzeinheit anstelle der Ausländerbehörde zur Anlaufstelle bei Beschwerden über die ihnen untergeordneten Grenzschützer*innen werden. Die Straż Graniczna würde damit auch final über Ausreisepflichten, Duldungen und Einreiseverbote von Schutzsuchenden entscheiden.
Die vorgeschlagenen Änderungen würden einen groben Verstoß gegen EU-Recht, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und die Verfassung Polens darstellen. Sie schränken das Grundrecht auf eine faire Anhörung durch ein unabhängiges Gericht ein. Noch muss das polnische Parlament den Vorschlag diskutieren, doch es sieht danach aus, als würde er verabschiedet werden. Aktivist*innen machten Anfang Februar in Warschau mit einer weiteren Banneraktion auf die geplanten Menschenrechtseinschränkungen aufmerksam. Auch wenn die Neuerungen EU-Recht widersprechen, ist nicht mit einer negativen Reaktion der Union zu rechnen. Trotz der brutalen polnischen Grenzschutzpraxis, den folterähnlichen Zuständen in den Internierungslagern und der Aushöhlung des Rechtsstaats finden weiterhin Abschiebungen von Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten nach Polen statt.