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»In Russland droht ein faschistisches Regime«

Der Moskauer Soziologe Greg Yudin über Putins entfesselten Machtapparat und die politischen Motive hinter dem Angriff auf die Ukraine

Interview: David Ernesto García Doell

Wladimir Putin in Wintermantel mit Mikrofon vor einer Menschenmenge, die russische Fahnen schwenkt
Wladimir Putin am 18. März im Luzhniki Stadion in Moskau bei einer nationalistischen Massenveranstaltung zum achten Jahrestag der Annexion der Krim. Foto: Kremlin.ru, CC BY 4.0

Greg Yudin ist Philosoph und Soziologe an der Moscow School of Social and Economic Sciences. Zwei Tage vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine erschien ein Artikel von ihm bei Open Democracy, dessen erster Satz lautete: »In naher Zukunft wird ein großer Krieg beginnen – ein Krieg, wie wir ihn zu Lebzeiten meiner Generation und vielleicht auch der vorherigen Generation nicht erlebt haben.« Yudin warnt schon seit längerem vor dem aggressiven Machtanspruch Putins und davor, dass die ideologische Begründung des Krieges als Entnazifizierungsmission exzessive Gewalt gegen die ukrainische Bevölkerung legitimieren werde. Mit den Gräueltaten in Bucha und anderen Orten scheinen sich Yudins Warnungen abermals zu bestätigen. Im Interview, das Ende März geführt wurde, beschreibt er die Machtmechanismen, auf die sich das System Putin stützt, den Umbau der russischen Gesellschaft hin zu einer präfaschistischen Ordnung und die Aussichten für die Antikriegsbewegung.

Zwei Tage vor dem offiziellen Kriegsbeginn warntest du als einer der wenigen Intellektuellen vor einem Krieg ungeahnter Größenordnung. Während viele Linke noch dachten, es ginge Putin um die Annexion des Donbas, sagtest du einen Krieg voraus, in dem es zentral um Kiew, Charkiw und Odessa gehen wird. Wie bist du zu dieser Einschätzung gekommen?

Greg Yudin: Ich warne schon seit zwei Jahren vor diesem Krieg, aber ich war nicht der Einzige, der ihn kommen sah. Leute, die zur russischer Politik forschen, warnten ebenfalls schon länger, später läuteten auch Experten für das russische Militär die Alarmglocken. Aber viele andere Experten haben die reale Gefahr eines großen Krieges abgetan oder sich sogar darüber lustig gemacht – nicht, weil sie inkompetent wären, sondern weil sie von falschen Grundannahmen ausgingen. Leider sieht es nicht so aus, als hätten sie dazu gelernt, denn heute schließen sie mit ähnlicher Überzeugung eine nukleare Eskalation aus. Hierbei gehen sie von denselben falschen Voraussetzungen aus.

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Der Hauptfehler war die Annahme, dass Putin nach dem Einmarsch in die Ukraine definitiv schlechter dastehen würde als vorher und dass das seine Überlegungen beeinflussen müsste. Putin wog jedoch die Kosten eines Krieges gegen die Kosten ab, die Untätigkeit haben würde. Es war ihm ziemlich klar, dass er sich sehr bald in einer ausweglosen Situation befinden würde, wenn er nicht jetzt mit dieser Militäroperation beginnt.

Das heutige Russland ist ein bonapartistisches Regime, das dem von Marx beschriebenen französischen Regime von 1848–1870, aber auch dem Deutschland der Zwischenkriegszeit sehr ähnlich ist. Es stützt sich auf Wahlen, wobei es von der plötzlichen Einführung des allgemeinen Wahlrechts profitiert, und schürt – im Anschluss an eine großen Niederlage (im Falle Russlands nach dem Kalten Krieg) – aggressiv Ressentiments und Revanchismus in der Gesellschaft. Solche Regime, die von einem Führer mit nahezu unbegrenzter Machtfülle regiert werden, neigen dazu, zu Wahlmonarchien zu verkommen, die alle inneren Widersprüche unterdrücken und feindselig gegenüber ihren Nachbarn auftreten. Sie sind wirtschaftlich stabil, was ihnen hilft, die Massen zu entpolitisieren. Der Deal lautet: absolute politische Passivität gegen relativen Wohlstand; so wird der Rückzug ins Privatleben gefördert. All das führt dazu, dass sie militärisch immer aggressiver werden, innere Konflikte nach außen verlagern, äußere Bedrohungen überschätzen und so schließlich starke Militärbündnisse gegen sich aufbringen. Sie sind von Selbstmordtendenzen getrieben und steuern unausweichlich auf die Niederlage zu – aber die hat einen hohen Preis, besonders jetzt, im Atomzeitalter.

Für Putin ist kein Preis zu hoch, um die Kontrolle über die Ukraine zu erlangen, er sieht sich durch das »Anti-Russland« an seinen Grenzen existenziell bedroht.

Nachdem Putin Russland mit seinem Verfassungsreferendum im Jahr 2020 in eine Quasi-Monarchie verwandelt und außerdem versucht hat, seinen einzigen politischen Gegner, Alexei Nawalny, zu ermorden, war für mich klar, dass er einen großen Krieg plant. Putin sieht die Existenz eines großen und kulturell ähnlichen Nachbarstaates mit einem politischen Regime, das von den Vereinigten Staaten militärisch gestützt wird, als extrem bedrohlich an. Es war offensichtlich, dass er einen Krieg beginnen würde, um die Ukraine zu erobern, wenn es ihm nicht gelingt, sie friedlich zu unterwerfen. Für Putin ist kein Preis zu hoch, um die Kontrolle über die Ukraine zu erlangen, denn er sieht sich durch das, was er als »Anti-Russland« bezeichnet, an seinen Grenzen existenziell bedroht. Hinzu kommt, dass Putin im eigenen Land mit sinkender Popularität zu kämpfen hat, insbesondere bei der Jugend, und wahrscheinlich sehr bald mit einer Widerstandsbewegung konfrontiert gewesen wäre. Er musste sicher sein, dass er sie um jeden Preis unterdrücken kann.

Was kannst du über die Repression und die Aussichten der Antikriegsbewegung sagen?

Die Antikriegsbewegung hat erfolgreich eine Spaltung der russischen Gesellschaft aufgezeigt. Die Menschen, die auf der Straße protestiert oder öffentliche Erklärungen gegen den Krieg abgegeben haben, haben deutlich gemacht, dass es einen bedeutenden Teil der russischen Gesellschaft gibt, der diesen Krieg ablehnt und ihn nicht nur als ein Verbrechen gegen die Ukraine, sondern auch als Verrat an den Interessen Russlands betrachtet. In den ersten Tagen, als Meinungsumfragen noch einen gewissen Sinn hatten (den sie nicht mehr haben, wenn man mit bis zu 20 Jahren Gefängnis rechnen muss, nur weil man diese »Spezialoperation« als Krieg bezeichnet), war deren Tenor, dass bis zu 25 Prozent der Russen gegen die Militäraktion sind. Das ist ein beachtlicher Erfolg.

Aber die Proteste sind ins Stocken geraten. Es ist nicht allein die Repression, die sie verhindert, sondern vor allem der Mangel an Organisation. Putin war klug genug, alle politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen und Netzwerke zu zerstören, bevor er den Krieg begann. Es ist unglaublich schwierig, sich hier zu organisieren. Man wird sofort von der Polizei verhaftet oder von Schlägern im Auftrag des Staates zusammengeschlagen. Der Mangel an Organisierung ist demoralisierend. Die Menschen sind bereit, ihr Leben zu riskieren, trotz der neuen Gesetze und der zunehmenden Polizeigewalt. Aber es ist schwer, das zu tun, wenn man keinen Weg sieht, etwas zu erreichen. Putin siegt immer wieder durch das Verbreiten von Ohnmacht und Hilflosigkeit.

In einem Interview mit Robin Celikates für die taz hast du die heutige Situation mit 1938 verglichen, als Deutschland das Sudentenland annektierte. Dieser Vergleich ist höchst umstritten, da er eine Erzählung bedient, die Putin in eine Reihe mit Hitler stellt, während George Bush nie auf dieselbe Weise beschrieben wurde, als er in den Irak einmarschiert ist und Hunderttausende Menschen getötet hat.

Der Hitler-Vergleich war viele Jahre lang unglücklich, und ich habe ihn nie unterstützt. Er sollte das Publikum vor allem erschrecken, indem er Putin mit dem radikal Bösen gleichsetzte. Dabei war Putin viel näher an Napoleon III. oder vielleicht an Franco, wenn man seine Rücksichtslosigkeit betonen wollte. Das bedeutet nicht, dass er »nicht böse genug« war, sondern eher, dass es sich um eine andere Art repressives autoritäres Regime handelte.

Ich bin mir nicht sicher, ob die neue politische Situation außerhalb Russlands hinreichend verstanden wird.

Aber jetzt hat sich die Situation geändert, und ich bin mir nicht sicher, ob das außerhalb Russlands hinreichend verstanden wird. Hier findet gerade eine Entwicklung vom Autoritarismus hin zu einem totalitären Regime statt. Dabei geht es um die Frage, wie die Gesellschaft politisch strukturiert ist und worauf sich die Macht stützt. Mit anderen Worten, es ist keine Frage der Quantität, sondern der Qualität. Und ja, in dieser Hinsicht zeigen sich, gerade in den letzten Tagen und Wochen, deutlich mehr Gemeinsamkeiten mit dem, was man klassischerweise als Faschismus bezeichnet.

In Deutschland haben wir eine sehr strenge Konzeptualisierung von Faschismus und Nationalsozialismus, wobei letzterer immer mit einem eliminatorischen Antisemitismus verbunden ist. Intellektuelle in Deutschland wie Felix Jaitner analysieren Putins Regime eher mit Marx’ und Poulantzas’ Begriff des »Bonapartismus«, etwas zwischen Militärdiktatur und Faschismus.

Die Besessenheit vom Wesen der ukrainischen Nation und ihrer Entsprechung mit der russischen Nation ist das, was als besonders nazistisches Element und nicht nur als faschistisches hervorsticht. Als anekdotischen Beleg möchte ich hinzufügen, dass es unter den russischen Eliten seit langem eine Menge Bewunderer Mussolinis gibt. Ich empfehle auch einen Blick in Putins Artikel im National Interest von 2020, in dem er die Ursachen des Zweiten Weltkriegs erläutert. Es ist aufschlussreich, wie oft er in diesem Artikel Polen für diesen Krieg verantwortlich macht, im Vergleich zu Deutschland. Was den Antisemitismus betrifft, so sehe ich im Regime derzeit kein antisemitisches Element. Aber es gibt eine Menge stillschweigenden Antisemitismus in Russland, vor allem in den Geheimdiensten, die jetzt die Oberhand haben.

Siehst du die Z-Bewegung als einen Indikator für den beschriebenen qualitativen Wandel hin zum Faschismus?

Das Z-Zeichen wurde von den russischen Militärfahrzeugen in der Ukraine übernommen (Fahrzeuge, die zum westlichen Militärbezirk gehören, sind mit Z-Zeichen versehen wegen des russischen Wortes »Zapad« für Westen), es wurde von den staatlichen Propagandisten gefördert, denen sicher klar ist, dass es wie ein halbes Hakenkreuz aussieht. Einige ältere Menschen waren völlig entsetzt über dieses Zeichen, das sie sofort an ihre Kindheit erinnerte. Jetzt findet man die Z-Zeichen an den Türen von Kriegsgegnern, oft zusammen mit Drohungen, was darauf hindeutet, dass es eine Gruppe von Nazis unter den Silowiki (Angehörige des Sicherheitsapparats; Anm. ak) gibt, die jetzt die Rückendeckung haben, so etwas zu tun.

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Noch erschreckender sind die Zeichen in Z-Form, die Menschen in ganz Russland mit ihren Körpern formen. Nicht nur Beamte, sondern auch Kinder in Schulen und Kindergärten werden aufgefordert, sich in Z-Form zu versammeln und Putin zu grüßen. Beim Anblick eines solchen »Z«, geformt von unheilbar kranken Kindern oder von knienden Kleinkindern, fällt es schwer, nicht an Nazi-Deutschland zu denken.

Eine weitere beunruhigende Dynamik ist die offene Propaganda in Bildungseinrichtungen, von Universitäten bis hin zu Kindergärten. Putins Sicht der ukrainischen Geschichte wird nun in die Köpfe der Kinder gehämmert. Das war früher nie der Fall: Trotz einiger beunruhigender Entwicklungen im Geschichtsunterricht war es nie erforderlich, das offizielle Geschichtsurteil zu teilen, geschweige denn Putins wahnwitzige Theorien.

Die faschistische Mobilisierung der Gesellschaft findet vor allem auf der Ebene der politischen Symbolik statt?

Zu diesem Bild muss man noch die entfesselte Gewalt hinzufügen. Seit Beginn der Antikriegsproteste gibt es bereits zahlreiche Belege für Schläge, Folter und sexuelle Übergriffe auf Polizeistationen. Zwar ist Polizeigewalt in Russland nichts Neues, doch sie erreicht möglicherweise eine neue Stufe. Zudem gibt es einen massiven Angriff auf unabhängige Medien in Russland. Gerade wurde die letzte unabhängige Zeitschrift, Novaya Gazeta, deren Herausgeber letztes Jahr den Nobelpreis erhielt, geschlossen, so dass es praktisch keine unabhängigen Medien mehr gibt. Diejenigen, die noch übrig sind, sind von Russland aus nicht zugänglich und werden offiziell entweder als »ausländische Agenten« oder »extremistische Organisationen« bezeichnet.

Das beunruhigendste Element dieses neuen potenziell totalitären Systems ist die ideologische Wende, die Putin seit den ersten Kriegstagen vollzogen hat: sein neues Narrativ der »Entnazifizierung« der Ukraine. Die Anschuldigung, dass die ukrainischen Behörden die extreme Rechte unterstützen, ist im offiziellen russischen Diskurs schon seit geraumer Zeit allgegenwärtig – und auch nicht völlig unbegründet. Im Februar wurde daraus jedoch eine essenzialistische Rhetorik, die besagt, dass das ukrainische Wesen, das angeblich von Natur aus russisch ist, durch ein nationalsozialistisches Element kontaminiert wurde. Daher sei es die Aufgabe der russischen Armee, die Ukraine von diesem Nazi-Element zu befreien. Das russische Verteidigungsministerium spricht bereits von der Einrichtung von »Reinigungsverfahren« in den besetzten Gebieten. Und da sich die Ukrainer*innen hartnäckig wehren, ist die einzige Erklärung, dass sie noch viel »nazifizierter« waren als erwartet, was leicht zu der Schlussfolgerung führen kann, dass sie es verdienen, ausgelöscht zu werden. Dasselbe »Reinheits«-Narrativ hat Putin erst vor wenigen Tagen verwendet, als er vom »inneren Feind« sprach, den so genannten »Volksverrätern«, die von der russischen Gesellschaft »ausgespuckt werden sollten wie eine Motte«, um die Gesundheit der Gesellschaft zu erhalten.

Ist es möglich, Aussagen über die Größe der Z-Bewegung zu machen?

Das hängt davon ab, wie man sie definiert. Die Zahl der Menschen, die an den öffentlichen Körper-Installationen teilgenommen haben, die das Z-Zeichen tragen, es an ihren Autos anbringen oder es in den sozialen Netzwerken verwenden, ist enorm. Ich schätze, dass es in allen Bereichen der Gesellschaft etwa 30 bis 40 Prozent sein könnten. Sie alle als eine Bewegung zu bezeichnen, ist jedoch nicht korrekt. Viele von ihnen wurden von ihren – oft staatlichen – Arbeitgebern gezwungen, das Zeichen zu zeigen. Viele sind nicht glücklich darüber, aber ich habe Leute sagen hören: »Ich werde alles tun, was sie von mir verlangen, wenn es meinen Arbeitsplatz rettet.« Menschen, die das freiwillig tun, sind weit weniger zahlreich. Einige sind jedoch wirklich aggressiv.

Menschen bilden vor einem Gebäude auf einem schneebedeckten Platz ein Z.
Dieses Foto soll der Direktor einer Krebsklinik in Kazan mit Mitarbeiter*innen und krebskranken Patient*innen, auch Kindern, Anfang März zur Unterstützung der russischen Truppen aufgenommen haben. Es kursiert seit dem 5. März 2022 auf Twitter.

Um es klar zu sagen: Genau hier liegt die Grenze zwischen dem guten alten Putinschen Autoritarismus und einer neuen Art von totalitärem Staat. Solange diese Bewegung hauptsächlich gegen den Willen des Volkes inszeniert wird, ist der politische Umbau noch nicht vollzogen. Doch die Passivität der Massen ist wirklich grenzenlos, sie können leicht in einen aggressiven Mob verwandelt werden.

Wir haben gesehen, dass der Aktienmarkt innerhalb von zwei Wochen um 40 Prozent eingebrochen ist, aber der Rubel hat sich seit Mitte März bereits wieder erholt. Wie lange kann eine Kriegswirtschaft in Russland funktionieren? Werden die sozialen Folgen des wirtschaftlichen Absturzes nicht zu großer Unzufriedenheit führen?

Putin wird nicht untätig bleiben und warten, bis die Krise so schwer ist, dass sich die Russen gegen ihn wenden. Er ist sich des Risikos durchaus bewusst und wird daher höchstwahrscheinlich versuchen, die Krise den »Verrätern« in die Schuhe zu schieben, die gemeinsam mit dem Westen handeln, um Russland zu schaden. Sollte es Putin jedoch aus irgendeinem Grund nicht gelingen, den Terror in Gang zu setzen, und er die Initiative verlieren, werden sich wahrscheinlich Teile der Gesellschaft, die jetzt am stärksten von der Krise betroffen sind, mit den Eliten gegen ihn verbünden. Dies könnte relativ bald geschehen.

Wie sieht Putins ökonomische Machtbasis aus? Gibt es eine Spaltung innerhalb der wirtschaftlichen Eliten in pro/contra Krieg?

Putin war in der Lage, eine starke und robuste neoliberale Wirtschaft aufzubauen, indem er am Modell des entfesselten Marktes aus den 1990er Jahren festhielt. Tatsächlich haben die Liberalen, die unter Jelzin an der Macht waren, auch unter Putin das Sagen in der Wirtschaft, allen voran Elvira Nabiullina, die Chefin der russischen Zentralbank. Dieses neoliberale System weist einige Besonderheiten auf, etwa die Vermischung privater und öffentlicher Unternehmen wie Gazprom oder Rosneft, die theoretisch dem Staat gehören, in Wirklichkeit aber die Einnahmen in die Taschen von Putins Komplizen leiten. Dieses Modell sorgte für ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum während Putins erstem Jahrzehnt an der Macht und für relative Widerstandsfähigkeit gegenüber ausländischen Sanktionen im zweiten Jahrzehnt.

Das Wachstum hatte jedoch enorme Ungleichheit zur Folge. Heute ist Russland eines der ungleichsten Länder der Welt, das in dieser Hinsicht fast mit den Vereinigten Staaten konkurrieren kann: Im Jahr 2019 gehörten 58 Prozent des Reichtums einem Prozent der Bevölkerung, die obersten zehn Prozent besaßen laut Credit Suisse 83 Prozent des gesamten Reichtums. Gleichzeitig hat Putin ein Trickle-Down-System aufgebaut, das dem seinerzeit von Ronald Reagan geschaffenen ähnelt: Während die Eliten wahnsinnig reich wurden und endlose Luxusjachten und Paläste kauften, konnte die breite Bevölkerung ihren Lebensstandard durch Hypotheken und Verbraucherkredite erhöhen. Russland hat eine unverhältnismäßig hohe Privatverschuldung, wobei ein erheblicher Teil der ärmeren Familien die Hälfte ihres Einkommens für Zinszahlungen an Banken oder Mikrofinanzorganisationen aufwendet.

Putin hat die Superreichen wie auch die Technokraten an der Spitze der Wirtschaft darauf eingeschworen, sich nicht in die Politik einzumischen, und sie wagen es nicht, seine Entscheidungen in Frage zu stellen.

Putins Oligarchen lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Einige von ihnen sind langjährige Freunde Putins aus dem KGB. Sie teilen seine imperialistische Weltanschauung und haben wahrscheinlich dazu beigetragen, ihn in diesen Krieg zu treiben. Eine andere Gruppe besteht aus jenen Leuten, die in den 1990er Jahren superreich wurden und ihr Vermögen unter Putin halten und vergrößern konnten. Sie sind offensichtlich unzufrieden mit diesem Krieg, und einige sagen das sogar öffentlich, wenn auch auf subtile Art und Weise.

Allerdings sind sowohl die Superreichen als auch die Technokraten an der Spitze der russischen Wirtschaft völlig frei von jeglicher politischer Subjektivität. Putin hat sie darauf eingeschworen, sich niemals in die Politik einzumischen, und sie wagen es nicht, seine Entscheidungen in Frage zu stellen. Sie haben Angst vor ihm und akzeptieren, dass dieser Krieg das Schicksal ist, das sie mit ihrem Land teilen werden. Berichten zufolge wollte Elvira Nabiullina nach Beginn des Krieges zurücktreten, aber Putin bedrohte ihre Familie und zwang sie zu bleiben. Diese Menschen fühlen sich in ihrer Geiselhaft sehr wohl.

Als wir vor dem Gespräch geschrieben haben, sagtest du, dass Putin als nächstes in Polen einmarschieren wird. Wenn das passiert, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die USA/Nato überlassen Putin die Kontrolle über Osteuropa, oder wir werden mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen dritten Weltkrieg zusteuern. Ich habe immer noch Schwierigkeiten, mir ein solches Szenario vorzustellen, da das Militär der Nato dem Russlands so weit überlegen zu sein scheint.

Putins Ziel ist weder ein Krieg mit der Ukraine noch mit Polen. Diese Länder sind für ihn entweder nicht existent oder nur Marionetten der Vereinigten Staaten. In den Augen der russischen Militärführung ist der Krieg ein Verteidigungskrieg gegen die USA/Nato/den Westen, wobei diese Begriffe synonym verwendet werden. Das ukrainische Territorium ist lediglich der erste Schritt in diesem großen Krieg. Die russischen Truppen in Transnistrien sind bereits mobilisiert und warten darauf, sich mit der russischen Armee zu verbinden, falls diese Odessa einnimmt, was bedeuten würde, dass eine Invasion der Republik Moldau möglich würde. Die baltischen Staaten und Polen sind sicherlich mittelfristige Ziele. Es ist kein Zufall, dass Putin den vollständigen Abzug der Nato-Truppen aus den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes gefordert hat.

Seine militärische Strategie ist einfach: mit Atomwaffen drohen und Gebiete erobern. Er hält den Westen für grundsätzlich schwach, korrupt und feige. Diese Haltung ist in Russland äußerst populär, und Putin verstärkt sie. In Russland herrscht die tiefe Überzeugung, dass der Westen niemals einen Atomkonflikt mit Russland wegen eines Landes im Osten, sei es die Ukraine oder Polen, riskieren wird. Was wir jetzt in der Ukraine erleben, bestätigt seine Einschätzung: Es reicht aus, dass Putin einen Atomkonflikt heraufbeschwört, damit Westeuropa seine Bereitschaft, der Ukraine zu helfen, in Frage stellt.

Ich glaube, dass die Welt in großer Gefahr ist. Wir kennen dieses Ungeheuer von innen, es kann nur durch internationale Solidarität gestoppt werden.

Putin glaubt auch, dass er im Moment einen gewissen militärischen Vorteil gegenüber den USA bei Hyperschallwaffen hat. Wahrscheinlich glaubt er, dass dies ausreichen würde, um die USA von einer möglichen nuklearen Konfrontation abzuhalten. Die russische Armee hat nach eigenen Angaben bereits Hyperschallraketen in der Ukraine eingesetzt, ohne dass dafür eine militärische Notwendigkeit bestand. Es sieht nach einer Botschaft an den Westen aus. Wichtig ist, dass Putin wiederholt gesagt hat, dass dieser Vorteil nicht allzu lange anhalten wird, denn die Amerikaner würden bald aufholen. Das bedeutet, dass er jetzt daraus Kapital schlagen muss.

Wie kann die Linke in Deutschland die Linke in der Ukraine und in Russland in ihren aktuellen Kämpfen unterstützen?

Ich glaube ehrlich gesagt, dass die Welt in großer Gefahr ist. Wir kennen dieses Ungeheuer von innen, und wir haben wenig Illusionen, dass es von selbst aufhören wird. Die Linke hat den Vorteil, dass sie weiß, wie wichtig internationale Bewegungen während großer Kriege sind. Deshalb sollte sie sich dagegen wehren, diesen Konflikt in nationalstaatliche Kategorien zu fassen, denn das würde nur die Staaten stärken und die Menschen weiter schwächen. Nur durch internationale Solidarität kann dieses Monster gestoppt werden. Und es sollte jetzt gestoppt werden, bevor es zu spät ist.

Eine wichtige Maßnahme wäre, das Geld der Superreichen ins Visier zu nehmen. Der Krieg hat deutlich gemacht, dass das Kapital durchdreht, wenn es keiner Kontrolle unterliegt. Putins Erfolg bei der Korrumpierung der politischen und wirtschaftlichen Eliten in der ganzen Welt basiert auf seinem Wissen, dass Gier und Eigennutz die Eckpfeiler des Kapitalismus sind. Er glaubt fest daran, dass man mit Geld alles kaufen kann. Er weiß, dass die liberale Demokratie Heuchelei ist. Putin ist ein Ultraneoliberaler, er hat jegliche Solidarität in Russland zerschlagen und sie durch ungezügelten Zynismus ersetzt. Deshalb ist er sich sicher, dass niemand seine militärischen Pläne wirklich durchkreuzen wird und alle Sanktionen schließlich aufgehoben werden, denn das Kapital interessiert sich nur für seinen Profit. Beweise hierfür hierfür hat er genug, und Merkels Russlandpolitik ist ein Paradebeispiel dafür, wie Gier die politische Macht im Kapitalismus beherrscht.

Jetzt gibt es endlich eine Chance, diese riesigen Vermögen unter demokratische Kontrolle zu bringen. Jetzt, wo es dieses Zeitfenster gibt, sollten wir nicht zulassen, dass Putins Leute davonkommen und ihr Geld verstecken. Wir sollten gegen all die Menschen in anderen Ländern vorgehen, die von Putin bestochen wurden. Wir sollten auf die Einrichtung eines transparenten internationalen Registers für die großen Vermögen drängen. Dies ist ein entscheidender Moment, um die Ungleichheit zu bekämpfen, die durch Putins schmutziges Geld erheblich vergrößert wurde. Die Welt erkennt endlich, welche Gefahr vom Kapital ausgeht, und wir sollten diese Gelegenheit nutzen, um die rücksichtslose Weltordnung zu ändern, die zu diesem Krieg geführt hat.

English version

In der ursprünglichen Version ist uns ein Fehler unterlaufen. Dort stand: »Im Jahr 2019 gehörten 58 Prozent des Reichtums einem Prozent der Bevölkerung, die obersten zehn Prozent besaßen laut Swiss Bank 83 Prozent des gesamten Reichtums.« Eine solche Bank gibt es jedoch nicht, tatsächlich handelt es sich um die Credit Suisse.