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Glücksfall Milei

Wie steht es um den totgesagten Neoliberalismus – und was hat Argentiniens Präsident damit zu tun?

Von Samuel Decker

Neoliberaler der Herzen: Javier Milei, mit orangenem Parka und Schneebrille, beim Shake Hands mit Mitarbeiter*innen der argentinischen Arktisstation Marambio. Foto: Casa Rosada (Argentina Presidency of the Nation)/Wikimedia Commons, CC BY 2.5 AR

Javier Milei sei »ein Glücksfall für den Liberalismus«, so ließ sich Stefan Kooths, Vorsitzender der Hayek-Gesellschaft, im März im Handelsblatt zitieren. Am 22. Juni soll der argentinische Präsident in Hamburg eine Medaille des neoliberalen Think Tanks entgegennehmen, die ihn für seine bisherigen wirtschaftlichen »Erfolge« ehrt. Milei könnte, so hofft Kooths, ähnlich wie in den 1980er Jahren Margaret Thatcher dafür stehen, dass das Pendel, das zuletzt so weit in Richtung Interventionismus ausgeschlagen habe, nun zurückbewegt würde.

Tatsächlich wurde »der Neoliberalismus«, für den derzeit Milei wie kein anderer zu stehen scheint, seit Ausbruch der internationalen Finanzkrise von 2007/2008 immer wieder aufs Neue totgesagt, nur um wenig später sein Comeback zu verkünden. So war auch die Finanzkrise – nachdem der starke Staat kurzfristig einspringen durfte, um die Banken zu retten und Vermögenswerte abzusichern – Auftakt für eine neue Welle neoliberaler Austeritätspolitik. Die geldpolitische Erpressung Griechenlands durch die Europäische Zentralbank nach dem »Oxi-Referendum« im Sommer 2015 zeigte, wie weitreichend staatliche Institutionen eingreifen, wenn Interessen von Gläubiger*innen und Investor*innen in Gefahr geraten. Auch während der Corona-Pandemie und der Gaspreiskrise durfte der Staat zeigen, was er kann. Deutschland akzeptierte in dieser Zeit sogar eine einmalige gemeinsame Verschuldung der EU-Mitgliedsländer als Grundlage für den EU-Wiederaufbaufonds. Doch die Verstaatlichung des Gasriesen Uniper im Jahr 2022 erfolgte, wie auch schon die Teilverstaatlichung der Lufthansa während der Corona-Pandemie im Jahr 2020 oder der Commerzbank im Jahr 2009 nach dem Motto: »Die Verluste werden vergesellschaftet, die Gewinne privatisiert«.

Sozio-ökonomischer Paradigmenwechsel?

Spätestens seit dem »Inflation Reduction Act« in den USA von 2022 hat die Debatte um ein Ende des Neoliberalismus und eine neue und potenziell progressive Rolle des Staates nun wieder an Fahrt aufgenommen. Der in Berlin ansässige wirtschaftspolitische Thinktank »Forum for a New Economy« sprach in einer Anfang 2023 veröffentlichten Studie von einem »sozio-ökonomischen Paradigmenwechsel«. Diese Bezeichnung ist fragwürdig, denn schließlich geht es nicht um weitreichende soziale Umverteilung zur Finanzierung einer sozial-ökologischen Transformation, sondern um eine neue Subventionspolitik für Industriezweige, die eine hervorgehobene Rolle in der geopolitischen und ökonomischen Konkurrenz spielen. Eine Wirtschaftspolitik, die Subventionen für Unternehmen mit Sparpolitik für die Mehrheit kombiniert, ist damit kompatibel und zeichnet sich bereits ab.

Staatsinterventionen haben nicht zwangsläufig etwas mit anti-neoliberaler Politik zu tun.

Staatsinterventionen haben also nicht zwangsläufig etwas mit anti-neoliberaler Politik zu tun. Und tatsächlich ist die Theorie vom Rückzug des Staates als Kennzeichen des Neoliberalismus insgesamt mit Vorsicht zu genießen. Der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in fast allen Ländern weltweit seit 1970 angewachsen, in Deutschland beispielsweise von 30 auf 50, in den USA immerhin von 30 auf 36 Prozent.

Der Anteil der Steuereinnahmen am BIP stieg in derselben Zeitspanne von 14 auf 20 Prozentpunkte innerhalb der EU, in Deutschland blieb er zumindest stabil bei etwa elf Prozent. In manchen Ländern gab es zwar durchaus einen Rückgang der Staatsquote, aber alles in allem lässt sich mehr von einer Stagnation oder einem leichten Wachstum als von einem Rückgang sprechen. Es zeigt sich, dass die Gleichungen »Mehr Neoliberalismus gleich weniger Staat« oder umgekehrt »Mehr Staat gleich weniger Neoliberalismus« nicht hinhauen. 

Was sich im Zeitalter des Neoliberalismus maßgeblich verändert hat, sind nicht die Einnahmen oder Ausgaben des Staates per se, sondern ist die Art und Weise, wie der Staat Geld einsammelt und ausgibt. Reiche und Konzerne wurden weniger besteuert, während Sozialausgaben gekürzt wurden und Ausgaben für innere Sicherheit, für Schuldendienst oder für die oben angesprochenen staatlichen Rettungsprogramme für Unternehmen zunahmen. Außerdem haben Subventionen für bestimmte Wirtschaftsbereiche wie die Halbleiterproduktion, Rüstungsprogramme und (vermeintlich) grüne Technologien zuletzt deutlich zugenommen.

Die neun Leben des Neoliberalismus

Die Frage, ob der Neoliberalismus nun am Ende ist oder in Gestalt eines seiner »neun Leben«, die ihm nach Ausbruch der Finanzkrise bescheinigt wurden, weiterlebt, ist daher eigentlich nicht mehr hilfreich. Staatliche Wirtschaftspolitik als konkrete Form der Absicherung und gesellschaftlichen Vermittlung der Kapitalakkumulation ist einem fortdauernden Anpassungsdruck ausgesetzt. So werden bestimmte Elemente des Neoliberalismus über Bord geworfen, andere können unter geänderten Vorzeichen fortbestehen – ganz nach dem Motto »Neue Segel, alter Kurs« (Hans-Jürgen Bieling und Simon Guntrum).

Gerade weil der Staat sich im neoliberalen Zeitalter nicht wirklich zurückgezogen hat und er sich in Krisenzeiten besonders stark verschuldet, sind politische Strategien, die aufgeblähte öffentliche Haushalte und ineffizientes staatliches Handeln anprangern, noch immer fruchtbar. Der Neoliberalismus wurde politisch nie besiegt, daher lebt er in vielfältigen Variationen fort. Bis heute werden in neutral anmutenden Nachrichtensendungen neoliberale Mythen neu aufgelegt, etwa dass Staatsschulden zulasten zukünftiger Generationen gehen würden. Der im Mai 2024 veröffentlichte Fünf-Punkte-Plan, in dem die FDP mit rigoroser Sparpolitik eine »Wirtschaftswende« einläutete, passt da durchaus ins Bild, und anscheinend schießt sich die FDP damit auch nicht ins gesellschaftliche Abseits: Wie Umfragen zeigen, hat nach vierzig Jahren neoliberaler Propaganda eine Mehrheit mehr Angst vor öffentlicher Verschuldung als vor der Zerrüttung des Klimasystems und dem Zerfall der öffentlichen Infrastruktur. 54 Prozent der Menschen in Deutschland gaben bei einer Umfrage im Mai 2024 an, dass die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form aufrechterhalten werden sollte.

Zwar ist es für das Verständnis der derzeitigen Wirtschaftspolitik wichtig, unterschiedliche Kapitalfraktionen und ihre Strategien – etwa »grünes« vs. fossiles oder mittelständisches vs. globales Kapital – im Blick zu behalten. Die Auseinandersetzung um die Schuldenbremse etwa, deren Aufweichung durchaus im Interesse bestimmter Kapitalfraktionen wäre, ist Ausdruck solcher Interessenkonflikte. Und es bestehen signifikante Unterschiede zwischen der wirtschaftspolitischen Strategie etwa der Grünen und der FDP und jener Unternehmensbasis, die sie vertreten. Doch alles in allem überwiegen die Gemeinsamkeiten. Insgesamt haben wir es seit 2008 mit einer Kontinuität der Krisenpolitik zu tun, die sich mal mehr, mal weniger neoliberaler Politikelemente bedient. Die allgemeine Stoßrichtung, dass der Staat auf die eine oder andere Weise das Wirtschaftswachstum und die Unternehmensgewinne absichert, steht dabei nicht zur Debatte. Auch eine Reform der Schuldenbremse wäre unter aktuellen Kräfteverhältnissen kein linker Punktsieg. »Zukunftsinvestitionen« aus der Verschuldungsregel herauszunehmen, wie es manche Reformvorschläge anvisieren, kann letztlich zu noch höheren Unternehmenssubventionen und Rüstungsausgaben führen, während der Sozialbereich weiter zusammengekürzt wird.

Javier Milei lässt sich als Vertreter einer Strategie interpretieren, die in der derzeitigen Krise und Transformation des globalen Kapitalismus neoliberale Leitsätze weiterführt und sogar radikalisiert.  Mit diesem Programm wurde er im November 2023 mit deutlichem Vorsprung zum Präsidenten gewählt. Im Wahlkampf stellte er drastische Steuersenkungen und sogar die Abschaffung der Zentralbank in Aussicht. Tatsächlich löste er nach Amtsübernahme die Hälfte der Regierungsministerien auf, schloss auch Bildungs- und Kultureinrichtungen, wie das Staatstheater. Lediglich Polizei und Armee blieben von den drastischen Sparmaßnahmen unberührt. 

Auch wenn die ökonomischen und politischen Verhältnisse in Argentinien besondere sind, lässt sich hier dennoch eine idealtypische Variante staatlicher Wirtschaftspolitik in der andauernden »organischen Krise« des globalen Kapitalismus beobachten. Der ultra-libertäre Ansatz Mileis, der auch von Teilen der AfD vertreten wird, setzt auf entfesselten Marktkapitalismus und neoliberalen Sparkult. Milei repräsentiert damit die Lehrbuch-Variante des Neoliberalismus, die einigen schon als ausgestorben galt. Eine andere, weniger radikale Strategie versucht demgegenüber, moderate Subventionspolitik für Unternehmen mit einer Politik der Haushaltskonsolidierung in Einklang zu bringen. Die Politik der Ampel-Regierung ist dafür ein Beispiel. Nicht allzu weit entfernt davon setzt eine Strategie à la »Bidenomics« auf weitreichendere Staatsinterventionen und teilweise sogar Steuererhöhungen. Und am entgegengesetzten Pol zu Mileis pseudoreligiösem Anarchokapitalismus finden sich schließlich staatskapitalistische Modelle wieder, in denen Krisentendenzen durch umfassende öffentliche Wirtschaftsplanung abgemildert und geopolitische Ziele wirtschaftspolitisch abgesichert werden sollen. Die Volksrepublik China verfolgt einen solchen Kurs. 

Variationen von Krisenkapitalismus

Damit ließen sich vier »Variationen des Krisenkapitalismus« voneinander unterscheiden, die Unternehmensgewinne und Eigentumsstrukturen unter den regional spezifischen Bedingungen absichern und mit unterschiedlichen Strategien der Herrschaftssicherung verknüpfen. Auch die FDP würde Teile ihrer neoliberalen Ideologie opfern, wenn sie langfristig den Interessen dominanter Kapitalfraktionen zuwiderlaufen würde und die Partei ihre Rolle als innere Opposition in der Bundesregierung nicht mehr innehätte. Auch in Javier Mileis Regierungspolitik deuten sich Konzessionen an den Stellen an, an denen die ökonomische Stabilität, die für das Kapital wichtig ist, in Gefahr gerät.  Die New York Times titelte sogar jüngst, dass Milei nun zu einem »Anti-Milei« würde, um sein Regierungsprojekt zu retten. Auch wenn von seiner Regierung weiterhin eine desaströse Politik zu erwarten ist, ist nicht von einer kompletten Umsetzung seiner wirtschaftslibertären Fantasiewelt auszugehen. Es hilft, sich Engels‘ Bezeichnung des Staates als »ideeller Gesamtkapitalist« zu vergegenwärtigen. Regierungen haben die Aufgabe, die Gesamtakkumulation und allgemeine wirtschaftliche Stabilität abzusichern und zugleich ein Mindestmaß an öffentlicher Zustimmung zu organisieren.  Daran wird sich vermutlich auch Javier Milei halten müssen. 

In jedem Fall genügt es nicht, das gelegentliche Auftreten von »neoliberalen Zombies« wie Milei zu beklagen und den Neoliberalismus mal für wiedererwacht und mal für tot zu erklären. Vielmehr ist eine konkrete Kritik und sind konkrete politische Strategien nötig, um auf die Variationen des Krisenkapitalismus jeweils angemessene Antworten von Links zu formulieren. Eine reine Kritik des »Neoliberalismus« führt an dieser Stelle nicht mehr weiter. Der Begriff des Neoliberalismus hatte schon immer die Schwäche, dass er eine bestimmte Spielart des Kapitalismus anprangert, anstatt eine Kritik an seinen allgemeinen Prinzipien zu formulieren. Das rächt sich nun. Eine qualitativ tatsächlich neuartige Politik der kapitalistischen Transformation sichert weiterhin die Unternehmensgewinne und das Eigentum ab, wenn auch unter neuen und jeweils unterschiedlichen Vorzeichen. Der gesellschaftlichen Linken, die außer ihrer Kritik am Bestehenden ohnehin über keine anschlussfähigen Diskursangebote verfügt, kommt damit ihr zentraler analytischer Begriff abhanden. 

Eine »post-neoliberale Linke« könnte sich stärker auf ihr eigenes ökonomisches Programm konzentrieren. In der US-Linken ist beispielsweise eine fruchtbare Debatte zu dem progressiven Potenzial von »Bidenomics« entstanden. Hierzulande sind sowohl reformorientierte Kampagnen für eine Abschaffung der Schuldenbremse oder die Wiedereinführung der Vermögenssteuer als auch weitreichendere Forderungen nach Vergesellschaftung und demokratischer Wirtschaftsplanung gute Ansatzpunkte. 

Samuel Decker

ist kritischer Ökonom und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Netzwerk Plurale Ökonomik.