Willkommenskultur und Pushbacks
In Polen, wo Schutzsuchende an der Grenze zu Belarus gewaltsam bekämpft werden, zeigt sich die rassistische Einteilung geflüchteter Menschen besonders drastisch
Von Jos Stübner
Unmittelbar nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine setzte die große Fluchtbewegung ein. Mehrere Hunderttausend Menschen überquerten bereits in den ersten Tagen des Krieges die Grenze zum Nachbarland Polen. Dort trafen sie auf überwältigende Hilfsbereitschaft. In Windeseile und mit viel Einsatz wurde auf allen Ebenen die Versorgung der Flüchtenden sichergestellt. Privat und spontan organisierten die Menschen Transporte von der Grenze und stellten Unterkünfte zur Verfügung. Riesige Spendenberge mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Kinderspielzeug erwarteten die Ankömmlinge in den polnischen Städten. Zugfahrten im ganzen Land und der ÖPNV in den Kommunen sind für Ukrainer*innen kostenlos. Unbürokratisch und schnell wurden Sammel- und Informationszentren eingerichtet.
Die politisch meist liberal dominierten Städte und die rechtsautoritäre Regierung ziehen bei der Koordination der Flüchtlingshilfe an einem Strang. Der populäre liberale Journalist Tomasz Lis bedankte sich gar bei den Ukrainer*innen für die »gute Energie«, die deren Ankunft unter den Polinnen und Polen freigesetzt habe. Das ist natürlich angesichts des Hintergrunds der Flucht ein absurd geschmackloser Kommentar, zeigt aber welches geradezu überschwängliche Selbstverständnis lagerübergreifend in der eigentlich so gespaltenen Gesellschaft Raum greift.
Bewegende Hilfsbereitschaft
Man könnte meinen, gesellschaftlicher Diskurs und Politik in Polen hätten sich innerhalb kürzester Zeit um 180 Grad gedreht: vom autoritären Nationalismus unter der Regierung der Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS), die seit 2015 jegliche innereuropäische Zuteilung von Flüchtlingskontingenten ablehnt, und einer Politik, deren Grundlage der Kampf gegen innere und äußere Feinde ist, hin zu einer gemeinschaftlichen Willkommenskultur.
In der Tat sei diese massenhafte und schnelle Hilfsbereitschaft sehr bewegend, bemerkt etwa die Flüchtlingshilfsorganisation Fundacja Ocalenie in einer Erklärung. Zugleich aber zeigt sich die Organisation frustriert. Denn während an der polnisch-ukrainischen Grenze Menschen ohne Ausweis oder Visum einreisen können und von einer Welle der Solidarität empfangen werden, kämpfen gleichzeitig immer noch Menschen in den Wäldern und Sümpfen an der Grenze zu Belarus ums Überleben. Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Irak oder verschiedenen afrikanischen Ländern werden weiterhin brutal über die Grenze zurückgedrängt. Gelingt es ihnen, dem Kältetod und den Pushbacks zu entgehen, landen sie in geschlossenen Lagern, wo sie monatelang unter menschenrechtswidrigen Bedingungen vor sich hin vegetieren. Auch die befestigte Zaunanlage an der EU-Außengrenze wird weitergebaut. Das Zugangsverbot für Medien und Flüchtlingshelfer*innen im polnisch-belarusischen Grenzgebiet wurde soeben bis Ende Juni verlängert. Abgesehen von dem zweifellos beeindruckenden Netzwerk engagierter Aktivist*innen war und ist in der breiten Bevölkerung Gleichgültigkeit oder auch Ablehnung gegenüber diesen Geflüchteten vorherrschend.
Es ist geradezu ein Hohn, dass die paramilitärischen Territorialwehr-Milizen (WOT) nun zur Versorgung der Menschen aus der Ukraine eingesetzt werden.
Die Aufnahmebereitschaft für immense Kontingente ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Polen macht die rassistische Differenz zu den vergleichsweise wenigen Geflüchteten aus nicht-europäischen Ländern, die mit allen Mitteln bekämpft werden, schlaglichtartig sichtbar. Es ist geradezu ein Hohn, dass die paramilitärischen Territorialwehr-Milizen (WOT), die seit Monaten in brutaler Manier Jagd auf Geflüchtete an der Grenze zu Belarus machen, nun zur Versorgung der Menschen aus der Ukraine eingesetzt werden. Auf Bildern präsentieren die Paramilitärs, wie fürsorglich sie mit bedürftigen Frauen, Kinder und Gebrechlichen umgehen können.
»Aggressive Abenteurer«
Das Flüchtlingshilfsnetzwerk Grupa Granica spricht von Segregation nach Herkunft. Für die begleitende Erzählung zentral ist die Unterscheidung in richtige »Flüchtlinge« wie jene aus der Ukraine einerseits und »Migrant*innen« andererseits, die sich angeblich ohne direkte Not einen kostspieligen Flug nach Europa geleistet hätten; klischeehaft als vornehmlich junge männliche, zudem aggressive Abenteurer dargestellt. »Das hier sind Geflüchtete und nicht die jungen Typen mit iPhones, die die Grenze zu Belarus stürmen«, kommentiert etwa der Chef der rechtsextremen Partei Ruch Narodowy, Robert Winnicki, das Bild einer Familie aus der Ukraine. Neben die vermeintlich rationale Erzählung vom Migranten ohne Not tritt schnell auch die rassistische Zuweisung von Temperament und Charakter oder aber gleich die vor allem im rechten Lager verbreitete Rede von den »kulturell Fremden«.
Diesem offen oder nur implizit artikulierten Prinzip nach, erscheinen ukrainische Geflüchtete als »kulturell näherstehend«. Gleichwohl ist der aktuelle Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten bemerkenswert. Und es bleibt zu hoffen, dass die Solidarität über den situativen Hilfsakt hinausreichen wird. Denn auch wenn sie in der rassistischen Hierarchie einen höheren Rang einnehmen als jene aus dem Nahen Osten oder Afrika, so sehen sich auch Menschen aus der Ukraine in Polen seit Jahren im Alltag, bei der Wohnungssuche und insbesondere bei der Ausbeutung der Arbeitskraft Diskriminierungen und Vorstellungen von Ungleichwertigkeit ausgesetzt. Abgesehen davon muss es aber ohnehin heißen »All refugees welcome!«, wie es die Fundacja Ocalenie-Organisation fordert.