Erst befreit, dann fallen gelassen
Ein Gespräch über die Lage geflüchteter Afghan*innen in Pakistan
Interview: Mohammed Qasid
Sechs Monate liegt die erneute Machtübernahme der Taliban und der überstürzte Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan zurück. Die Menschen, die seitdem auf der Flucht sind, sind aus den Nachrichten weitgehend verschwunden. Tausende harren unter unsicheren Bedingungen im Nachbarland Pakistan aus. So bis Anfang Februar auch Musafer Ensan (Name geändert), ein langjähriger afghanischer Menschenrechtsaktivist. Mohammed Qasid kennt Musafer Ensan seit Jahren und hat ihn mehrmals in Afghanistan besucht; im Januar hat er mit ihm für ak über die Machtübernahme der Taliban, seine Flucht und die Erwartungen für die Zukunft gesprochen. Wenige Tage vor Redaktionsschluss ist Musafer die Ausreise nach Nordamerika geglückt. Was er über die Lage geflüchteter Afghan*innen und ihre Perspektive in Pakistan berichtet, gilt aber weiter für die große Mehrzahl derjenigen, die vor den Taliban ins Nachbarland geflohen sind.
Musafer, du und deine fünfköpfige Familie sitzen seit rund sechs Monaten in Pakistan fest. Wie geht es euch zurzeit?
Musafer Ensan: Sehr schlecht. Ich kann das mit Worten kaum beschreiben. Seit Monaten gleicht jeder Tag dem anderen, wir sind einfach nur ausgelaugt und deprimiert. Zu Hause in Afghanistan haben wir alles verloren, hier vor Ort wird die Lage immer prekärer, und unsere Zukunft ist total unsicher und liegt nicht in unseren eigenen Händen. Im Gegenteil, wir und zehntausend andere Afghan*innen sind und bleiben abhängig von einer westlichen Staatengemeinschaft, die in Afghanistan schon seit mindestens 2001 mit großen Worten und leeren Versprechungen um sich wirft, in Wirklichkeit aber seit jeher nur ihre eigenen, imperialen Interessen verfolgt und im Ernstfall kein Problem damit hat, nur die eigene Haut zu retten und die von ihnen »befreite« Bevölkerung jederzeit fallen zu lassen. Wir sind also bestenfalls abhängig von einem zynischen Humanitarismus, der uns irgendwann einmal vielleicht Asyl schenken wird, wofür wir uns dann artig zu bedanken haben. Schlimmstenfalls werden wir, wie so viele vor uns, den Rest unseres Lebens auf der Flucht verbringen. Es ist zum Verzweifeln.
Wie kann man sich euren Alltag vorstellen?
Wir wohnen in einer Art Motel, in einem zwölf Quadratmeter großen Raum mit eigenem Bad und kleiner Gemeinschaftsküche. Der Besitzer hat schon mehrfach versucht, die Preise zu erhöhen, aber bisher haben wir ihn davon abbringen können. Allerdings kenne ich andere Afghan*innen, die auf die Straße gesetzt wurden, sobald sie ihre Zimmer nicht mehr bezahlen konnten. Da wir ohne Papiere im Land sind, ist jeder Schritt vor die Tür mit großen Risiken verbunden. Sollten wir von der Polizei angehalten werden, so bedeutet das Gefängnis oder Abschiebung. Das ist in den letzten Wochen bereits vielen Afghan*innen passiert. Daher versuchen wir, uns so unauffällig wie möglich zu verhalten, uns so unsichtbar wie möglich zu machen. Die meiste Zeit verbringen wir in unserem Raum mit warten, schlafen und uns um die Zukunft sorgen. Glücklicherweise habe ich hin und wieder die Möglichkeit, anderen afghanischen Geflüchteten zu helfen. Da ich eine der pakistanischen Landessprachen spreche, unterstütze ich sie dabei, eine Unterkunft zu finden, Dokumente zu übersetzen oder sie zu einem mit uns solidarischen Arzt zu begleiten. Das alles sind zwar nur Kleinigkeiten, aber zumindest habe ich etwas um die Ohren und fühle mich in Ansätzen wieder wie der, der die letzten 15 Jahre von morgens bis abends unterwegs war, um für ein gerechteres und friedliches Afghanistan zu kämpfen.
Ihr seid damals nach der Machtübernahme der Taliban wegen ausbleibender Hilfe des Westens nach Pakistan geflüchtet. Wie lief das ab?
Es war ein einziger Albtraum. Die schlimmsten Tage meines Lebens. Dabei hatte sich alles ja schon seit Monaten angekündigt und die afghanische Zivilgesellschaft hatte vor den immer stärker werdenden Taliban gewarnt. Ich persönlich wurde schon Anfang 2020 mehrmals konkret bedroht und ich kenne viele Aktivist*innen und Menschenrechtsorganisationen, denen es ähnlich erging. Aber sowohl die afghanische Regierung als auch der Westen ignorierten unsere Analysen und Forderungen – mal wieder –, mit den katastrophalen Folgen, die wir jetzt erleben müssen. Als die Taliban dann Kabul einnahmen und ich von mehreren westlichen Regierungen das Versprechen bekam, mit meiner Familie evakuiert zu werden, hatte ich kurzzeitig die Hoffnung, dass das tatsächlich schnell geschehen würde. Wir wurden – angeblich – auf verschiedene Evakuierungslisten gesetzt und aufgefordert, zum Flughafen zu gehen. Und dann geschah nichts mehr. Insgesamt verbrachten wir mehr als 60 Stunden auf dem Flughafengelände. Die Bilder sind bekannt. Absoluter Horror. Ich selbst wurde von Taliban-Wächtern zusammengeschlagen während Nato-Soldaten nicht weit entfernt standen und wegsahen. Die Schreie meines kleinen Sohnes gehen mir nicht aus dem Kopf. Der Westen hat sich einfach nur schäbig aus dem Staub gemacht. Als uns das bewusst wurde, blieb nur noch die Flucht über Land nach Pakistan. Als Teil einer Art Konvoi machten wir uns auf den Weg und überquerten nach rund 72 Stunden zu Fuß die Grenze. Ich hatte noch nie so viel Angst, dass meiner Familie etwas geschehen würde. Nun sitzen wir seit sechs Monaten hier fest, befinden uns erneut auf zahlreichen Evakuierungslisten und verlieren mit jedem Tag etwas mehr den Verstand. Ich habe es so satt, überall nur ein Mensch zweiter Klasse zu sein.
Ich träume davon, so bald wie möglich zurückzukehren, meine Mutter noch ein letztes Mal zu umarmen und den Kampf für ein besseres Afghanistan wieder aufzunehmen.
Du hast in Afghanistan viele Jahre gegen jede Form vom Unterdrückung gekämpft. Wie siehst du die Zeit rückblickend?
In den besten Momenten haben wir es durch unsere zahlreichen politischen Aktivitäten vermocht, uns individuell und kollektiv selbst zu ermächtigen, uns gemeinsam zu organisieren und den in Afghanistan seit Jahrhunderten bestehenden Kreislauf von Gewalt und systematischer Unterdrückung, der sich auch dank ständiger externer Intervention am Leben erhält, zumindest vorübergehend zu unterbrechen und ein gerechteres Afghanistan im Hier und Jetzt zu erschaffen und zu erleben. Das mag nach nicht viel klingen, aber subjektiv hat es für unzählige Menschen im ganzen Land sehr viel bedeutet. Das sind Erinnerungen, die mir im Moment zumindest für kurze Zeit eine Art Zufriedenheit geben. Aber ehrlich gesagt überwiegt das Gefühl, dass alles umsonst gewesen ist. Ich empfinde eine unheimliche Leere. Ein Neuanfang ist zurzeit nur schwer denkbar. Aber irgendwie geht’s immer weiter.
Wie stellst du dir Zukunft vor?
Augenblicklich ist alles total unklar, und das bereitet uns große Sorgen. Ich habe aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass wir demnächst hier herauskommen werden. Wir haben in den letzten Wochen in einigen Botschaften vorgesprochen, auch wenn die Behandlung dort oft sehr unhöflich und unverbindlich war. Ich glaube, die meisten Menschen können sich überhaupt nicht vorstellen, was es bedeutet, seit Monaten jede Sekunde in absoluter Unsicherheit zu leben. Sollten wir dann endlich irgendwo anders ankommen, so frage ich mich natürlich, wie wir dort leben und überleben und wie die Menschen uns aufnehmen werden. Welche Vorurteile werden sie uns gegenüber haben? Werden sie uns als islamische Terrorist*innen behandeln? Wird es eine sinnvolle Arbeit für uns geben? Ich denke, meinen Kinder wird die Eingewöhnung etwas leichter fallen. Ich selbst träume jetzt schon davon, so bald wie möglich nach Afghanistan zurückzukehren, meine Mutter noch ein letztes Mal zu umarmen und den Kampf für ein besseres Afghanistan wieder aufzunehmen.