Gedenken, Widerstand, Handeln
Amina und Nissar über Gelungenes und Leerstellen des Aktionstages gegen Rassismus und Antisemitismus am 8. Mai
Interview: Nelli Tügel
Am diesjährigen 8. Mai fand ein bundesweiter, dezentraler Aktionstag gegen Rassismus und Antisemitismus statt. Nach den rassistischen Morden in Hanau hatte sich ein Bündnis gebildet und zunächst zu einem Generalstreik gegen den rassistischen und antisemitischen Normalzustand aufgerufen. Aktionen gab es schließlich in Hanau, in verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen, in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Offenbach, Würzburg, Hannover und anderswo. Amina und Nissar sind in dem Bündnis aktiv und erzählen im Interview, wie die Bilanz des 8. Mai aus ihrer Sicht ausfällt, weshalb dieses Datum ausgewählt wurde – und wie es nun weitergeht.
Am 8. Mai fanden an vielen Orten Proteste und Aktionen im Rahmen eines Tages des Zorns statt, den migrantische Selbstorganisationen nach den rassistischen Morden in Hanau ausgerufen hatten. Wie bilanziert ihr als Mitorganisatorinnen diesen Tag?
Amina: Das war eine Herausforderung, denn aufgrund der Pandemie-Situation gab es viele Hürden. In Anbetracht dessen war das, was dann am 8. Mai passiert ist, sehr schön. Trotz der Auflagen ist es gelungen, zu gedenken und öffentlichen Raum einzunehmen für unsere Forderungen nach Verantwortungsübernahme von Politik und Gesellschaft und für ein Kämpfen um Orte des lebendigen Erinnerns. Gleichzeitig ist inhaltlich einiges zu kurz gekommen.
Was zum Beispiel?
Amina: Für uns war wichtig, eine Brücke zu schlagen zwischen den Kämpfen gegen Antisemitismus und Rassismus. Es gab ja auch die Kooperation etwa mit der VVN-BdA und die Unterstützung der Petition von Esther Bejarano, den 8. Mai zum bundesweiten Feiertag zu erklären. Doch diesen Bogen nach außen zu kommunizieren, ist nicht so gut gelungen. Außerdem ist in der Kommunikation nach außen die Begründung dafür zu kurz gekommen, weshalb wir die Form eines Streiktages gewählt haben. Unser Anliegen bleibt es, dass wir möglichst viele Menschen einbeziehen möchten, die möglicherweise von den akademisierten Debatten um Rassismus, Antisemitismus oder Postkolonialismus nicht so viel mitbekommen haben. Die gemeinsame Niederlegung der Arbeit setzt ein Zeichen, und die Ausformulierung von Forderungen macht konkret, wofür wir kämpfen und dass sich mit diesen Kämpfen solidarisiert werden kann.
Nissar: Unsere Forderungen sind in einem selbstorganisierten Bündnis entstanden von POC, Schwarzen, von muslimischen und jüdischen Menschen sowie von Romn*ja- und Überlebenden-Initiativen. Es ist also verkürzt, von einer migrantischen Selbstorganisierung zu sprechen, weil sich nicht alle als migrantisch verstehen. Es ist auch bewusst nichtaus nur einer Initiative heraus entstanden. Wir wollten zudem, aus Respekt vor den Ermordeten und auch den Überlebenden der Shoah und den Überlebenden und Angehörigen von Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt nach 1945, nicht personalisiert, auf eine Initiative oder ein einziges Ereignis fokussiert den 8. Mai kapern.
Wie hat sich das in der Planung der Aktionen niedergeschlagen?
Nissar: Wir haben uns bewusst dafür entschieden, nicht zu zentralisieren, sondern lokal und kontextspezifisch zu arbeiten. Es gibt nicht den einen richtigen Weg des Widerstandes oder Gedenkens oder Kämpfens dafür, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wir brauchen aber Räume für die Auseinandersetzung darum.
Der 8. Mai ist das Jubiläum des Kriegsendes in Europa. Wieso habt ihr gerade dieses Datum ausgewählt?
Nissar: Es war uns wichtig, ein Datum zu nehmen, das nicht für einen bestimmten Anschlag alleine steht, um Kontinuitäten und die vielfältigen Anknüpfungspunkte rechter Ideologien in der sogenannten Mitte der Gesellschaft aufzuzeigen. Wir leben in einem Land, in dem das Leben von Juden und Jüdinnen wieder gefährlich geworden ist, in einem Land, in dem es kein neues Gefühl ist, dass unsere Würde als Schwarze und POC missachtet werden und dass unter uns Menschen mitten aus dem Leben gerissen werden. Als Migrantin finde ich es erschütternd, wie wenig der 8. Mai gefeiert wird in Deutschland, wie wenig Raum für Trauer und Gedenken ist und wie ausgiebig stattdessen der Opfermythos gepflegt wird. Wir brauchen keine Floskeln, sondern politische und gesellschaftliche Verantwortungsübernahme. Dabei geht es uns ausdrücklich nicht darum zu vermitteln: Wir haben Rassismus und Antisemitismus in Deutschland jetzt verstanden, und ihr als sogenannte Mehrheitsgesellschaft, Politik, Institutionen kommt nicht hinterher. Sondern eher: Unsere Lebensrealitäten zeigen uns, wie Antisemitismus und Rassismus wirken, und darüber in einen Austausch zu kommen ist wichtig.
Welche Rolle haben eure Forderungen gespielt?
Nissar: Gerade nach Halle und auch nach Hanau waren es Betroffene, Überlebende und auch Angehörige, die sehr schnell, sehr klar Forderungen und präzise Analysen formuliert haben. Ich habe festgestellt, dass weiße Bekannte sehr verwundert darüber waren. Es hat mich erstaunt, wie überrascht andere davon sind, dass Menschen, gegen die sich rassistische oder antisemitische Anschläge richten, Wissen haben dazu. Wie wenig beschäftigen wir uns eigentlich mit den Wissensbeständen der Betroffenen?
Amina: Wir haben als Streikbündnis 24 Forderungen aufgestellt, die im Austausch mit Betroffenen und Opferangehörigen entstanden sind. Also zum Beispiel die niedrigschwellige finanzielle Unterstützung für Opfer und Angehörige von Rassismus und Antisemitismus, verbindliche, unabhängige und selbstorganisierte Kommissionen gegen Rassismus und Antisemitismus, die Freigabe der NSU-Akten und die Aufklärung des NSU-Netzwerks, aber auch die Anerkennung deutscher Kolonialverbrechen und die Stärkung des Rechts auf Asyl. Es gab eine Verwunderung darüber, wie die jetzt so schnell aufgestellt werden konnten, woher die kamen. Da frage ich mich: Habt ihr den Opfern rechter Gewalt und rassifizierten Menschen nicht zugehört? Denn das sind keine neuen Forderungen, sie sind nicht aus dem Nichts entstanden, es gibt sie seit Jahren.
Nissar: In der Auseinandersetzung mit Halle und dann Hanau sind die Ideen für den 8. Mai entstanden. Es ging darum, eine Sprache zu finden, trauern zu können und auch wieder handlungsfähig zu werden, darum, dass wir uns gegenseitig hören, Mitgefühl mit den Angehörigen zeigen. Doch so groß unsere Wut und unsere Trauer auch waren und sind – unsere Forderungen sind ganz klar.
Ich habe die Idee mit einem Streik am 8. Mai auch so verstanden, dass ein neuer Schritt gegangen werden und der Alltag spürbar gestört werden sollte. Amina hat vorhin betont, dass es auch darum ging, aus den akademischen Debatten herauszukommen. Dann hat Corona diesen Plänen zu einem gewissen Grad einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wie seid ihr damit umgegangen?
Amina: Pragmatisch. Wir haben den Aufruf zum Streik salopp formuliert. Wir kommen selber aus Arbeiter*innenfamilien, wir sind selber Arbeiter*innen, einige von uns sind akademisierte Arbeiter*innen, andere nicht, wieder andere erwerbslos. Wir sehen uns – als fast ausschließlich von Frauen und queeren Personen getragenes Bündnis – in der Tradition von Frauen, die in der Vergangenheit gestreikt haben, Anfang der 1970er Jahre bei Pierburg in Neuss beispielsweise. Wir sehen uns in der Tradition derjenigen, die vor uns geschuftet haben, damit wir es besser haben als sie. Unsere Ausgangsidee war, Flyer in Betrieben, in kleinen Läden usw. zu verteilen, wir wollten breit mobilisieren, abseits von dem, was in Social Media oder im Feuilleton stattfindet. Die jetzige Situation, von der auch Arbeiter*innen stark betroffenen sind, zum Beispiel in den Fleischfabriken, bestärkt uns in unserem Vorhaben.
Nissar: Darin liegen allerdings auch Fragen für die Zukunft. Viele Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen sind Migrant*innen, POC, Schwarze. Was kann da ein politischer Streik eigentlich bedeuten, wie kann der konkret aussehen? Das sind Fragen, mit denen wir uns jetzt mit Blick auf den nächsten 8. Mai beschäftigen müssen.
Euer Bündnis arbeitet also weiter? Es wird im nächsten Jahr zum 8. Mai erneut einen Aktions- und Streiktag geben?
Amina: Wir haben gar keine andere Wahl, als weiter aktiv zu bleiben.
Nissar: Ein Jahr Zeit bedeutet auch Zeit dafür, noch einmal mehr darüber nachzudenken, wie Ausschlüsse verhindert werden können, wie der Bogen von gemeinsamen Kämpfen gegen Antisemitismus und Rassismus tatsächlich gespannt werden kann. Wie ein Gedenken und Feiern am 8. Mai gleichzeitig stattfinden kann. Wie Angehörige und Überlebende noch größeren Raum bekommen können.