Lukrative Verstrickungen
Wie konnte Gazprom dem Gasmarkt seine Spielregeln aufdrücken?
Von Jörg Staude
Einen »Krieg« ums russische Gas? Das ist nichts Neues in Deutschland. Da muss man nur in das Jahr 1990 zurückgehen. Da lag die DDR in den letzten Zügen, und schon damals war Erdgas mehr als nur ein Rohstoff: Es war ein strategisches Machtmittel.
Doch der Reihe nach: Solange die Staatswirtschaft der DDR noch leidlich funktionierte, war ihr Gasnetz nichts weiter als eine Ansammlung von Leitungen, die dazu dienten, aus Kohle gewonnenes Stadtgas und das russische Erdgas zu verteilen. Nun ja, eine kleine eigene Gasförderung hatte die DDR auch. Der Verwalter des Ferngasnetzes, der Volkseigene Betrieb (VEB) Verbundnetz Gas, war nichts weiter als ein kleines Anhängsel des berühmten Lausitzer Gaskombinats »Schwarze Pumpe«.
Mit der Einheit und dem Zugang Ostdeutschlands zu den Weltmärkten von Öl und Gas war klar, dass die Tage des braunkohlebasierten Kombinats gezählt sind. Die Ferngasleitungen stellten nunmehr nicht mehr nur stählerne Röhren dar, die irgendwas transportieren – nein, wer in der Marktwirtschaft über die Netze verfügt, hat am Ende das Sagen auf dem Markt. Das ist die Logik leitungsgebundener Energieträger wie Strom und Gas. Sie gelten als sogenannte natürliche Monopole. Denn wegen der exorbitanten Kosten baut niemand eine zweite Leitung neben einer bestehenden, um dieser Konkurrenz zu machen.
Das hatten die Betriebsleiter des VEB Verbundnetz Gas schnell begriffen. Sie nutzten die Wendewirren, um sich vom Kombinat loszusagen und sich mit dem größten westdeutschen Gaskonzern, der Ruhrgas, zusammenzutun.
Ruhrgas versus Gazprom
Und weil der VEB zugleich unter die Regie der Treuhand kam, spekulierte Ruhrgas darauf, beides einsacken zu können: das Netz und die langfristigen Gasverträge der DDR. Über die hatte inzwischen die 1989 gegründete Gazprom die Verfügungsgewalt. Dass die Ruhrgas die Hand auch nach den Ostverträgen ausstreckte, passte dem damals sowjetischen Staatskonzern gar nicht. Er belieferte ja schon die Ruhrgas mit billigem Erdgas. Nun sollte unter deren Herrschaft auch noch ganz Ostdeutschland geraten?
Kleine Zwischenbemerkung: Bis Januar 1990 trieb sich ein Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes KGB namens Wladimir Putin in ostdeutschen Gefilden herum, und es ist nahezu unmöglich, dass er von den gasförmigen Interessen des wichtigsten Rohstoffexporteurs seines Landes keine Kenntnis hatte.
Gazprom nutzte also das Machtvakuum in der Ex-DDR auf seine Weise und gründete mit dem größten Erdgasverbraucher Westdeutschlands, dem Chemieriesen BASF, ein gemeinsames Gas-Handelshaus. Das bekam die Verfügungsgewalt über die Gaslieferverträge zwischen der DDR und der Sowjetunion/Gazprom. Die Ruhrgas-Tochter VNG, der ehemalige Verbundnetz-VEB, schaute buchstäblich in die Röhre.
Zwischen den beiden Gasmächten brach ein »Gaskrieg« aus. Der brachte Ostdeutschland an den Rand des Versorgungskollapses. Drei Jahre lang, bis 1994, schlugen die Lobbyabteilungen beider Seiten aufeinander ein – bis ihnen aufging, dass ihr »Krieg« den Ruf des Erdgases als Zukunftsenergieträger nach Öl und Kohle zu ruinieren drohte. Also schloss man Frieden. In der Folge überzogen Ruhrgas und Gazprom Deutschland und Europa mit einem Ferngasnetz und hievten zum Beispiel den Anteil des nunmehr russischen Gases an der deutschen Gebäudeheizung von einem Drittel auf zuletzt die Hälfte.
Das Schöne aus Unternehmersicht an so einem virtuellen Handel ist: Es lassen sich problemlos jede Menge Zwischenhändler installieren, um ein Land mit Gas zu beliefern.
Aber wie langweilig war das Gasgeschäft in den 1990er Jahren! Verkauft wurde über langlaufende Verträge, und der Gaspreis folgte zwangsweise dem Ölpreis. Diese Regelung stammte aus grauen Vorzeiten, als die fossilen Konzerne Öl und Gas zugleich verkauften und sich intern nicht Konkurrenz machen wollten. Erdgas sollte nicht billiger als Öl sein.
Was aber, fragte sich die Gasbranche, sollte das Gängelband mit dem Ölpreis, das ihre Expansion behinderte. Zudem hatte die Strombranche Ende der 1990er Jahre vorgemacht, wie man selbst unter einem natürlichen Monopol Börsengeschäfte mit ganz anderen Renditemöglichkeiten betreiben kann.
Einen Markt gibt es beim Strom eigentlich nicht. Physikalisch gesehen kommt beim Verbrauchenden immer der Strom aus der Steckdose, der vom nächstgelegenen Kraftwerk erzeugt wird, am besten natürlich vom eigenen Balkon oder Dach. Strom lässt sich auch nur schwer aufheben, Erzeugung und Verbrauch müssen stets deckungsgleich sein, damit das ganze System stabil bleibt.
Liberalisierung und spekulative Börsengeschäfte
Das aber hinderte seit der Marktliberalisierung 1998 Kohorten von Händlern nicht daran, Strommengen im Minutentakt hin- und herzuschieben, Kraftwerksleistungen für morgen, den Winter oder das nächste Jahr einzukaufen – und abzuwarten, ob sich der Kontrakt bis dahin nicht lukrativ losschlagen lässt. Die Strombörse spiegelt dabei nicht einmal den ganzen spekulativen Wahnsinn wider. Ein Großteil des Geschäfts wird in zweiseitigen sogenannten Over-the-Counter-Geschäften abgewickelt. Was dort an Strommengen und Preisen über den Tisch geht, erfährt die Öffentlichkeit so gut wie nie.
Auch der Gashandel läuft heutzutage darauf hinaus, dem Gasmolekül ein Preisetikett aufzukleben, und dann die Wetter- und Konjunkturberichte zu studieren, um abschätzen zu können, ob der Bedarf höher oder niedriger sein wird, wann günstig eingekauft und gewinnbringend weiterverkauft werden kann. Das Gas selbst kann sich noch in Tausenden Metern Tiefe befinden.
Ab 2007 war auch der Gasmarkt in Europa weitgehend liberalisiert. Und 2015 übernahm Gazprom dann zu 100 Prozent die Kontrolle über die deutschen Gasspeicher von Wintershall, des damals größten deutschen Produzenten von Gas und Öl. Wintershall gehörte zu der Zeit übrigens dem BASF-Konzern. Das zu Wendezeiten begründete Oligopol funktionierte weiter bestens. Spätestens ab 2015 hatte Gazprom alles beisammen, um dem Markt seine Spielregeln aufzudrücken.
Im Oktober 2021, also weit vor dem Krieg gegen die Ukraine, kamen in Europa wieder mal Befürchtungen über eine Gaskrise auf. Gazprom reagierte auf die besorgten Nachfragen zum einen mit dem Hinweis, man könne für mehr Gas ja Nordstream 2 in Betrieb nehmen. Zum anderen verkündete der Gasriese, es werde erst einmal nicht mehr von dem Brennstoff gefördert, sondern das zusätzlich nachgefragte Gas aus den Speichern entnommen.
Da konnte jeder Händler eins und eins zusammenzählen: Wenn die Speicher wegen der Entnahmen nicht so gut gefüllt sind, könnte im Winter das Gas knapp werden. Folgerichtig sprangen am Gasmarkt die Preise der November-Futures – also der Gaskontrakte, die in diesem Monat fällig werden – um 6,5 Prozent in die Höhe. Hatte ein Finanzinvestor so einen Future im Portfolio, konnte er einen ordentlichen Schnitt machen, indem er das Recht auf die künftige Lieferung losschlug.
So lassen sich Gewinne generieren, ohne ein einziges Gasmolekül real geliefert zu haben. Ähnlich läuft es auf den europäischen Märkten für Strom oder für CO2-Emissionsberechtigungen. Allen Akteuren ist klar, dass dort Energiekonzerne, aber auch Hedgefonds und andere »Investoren« die Kurse nach ihrem Gusto beeinflussen. Dass an solchen Börsen nach Kräften spekuliert wird, haben Studien bereits nachgewiesen. Uneinig sind sie sich in der Frage, ob die Märkte von solchen Aktionen dominiert werden oder ob es am Ende auf die realen Prozesse von Förderung und Verbrauch ankommt. Die Studien kommen zu keinem klaren Ergebnis, weil die Energiemärkte im wesentlichen Black-Boxes sind. Nichts Genaues weiß man nicht.
Es ist deshalb nur ein wohlfeiles Ablenkungsmanöver, wenn der ehemalige KGB-Mann und heutige Kriegsherr Putin westliches Fehlverhalten für die Gaskrise verantwortlich machen will. In vielen Ländern sei es bereits »zur Mode« geworden, etwa im Energiesektor herumzuspekulieren, wurde der Kremlchef im Herbst letzten Jahres zitiert. Trotz Russlands Warnungen sei Europa von Langzeitverträgen abgerückt und zum Handel an den Energiebörsen übergegangen, behauptete er.
Verstaatlichte Unternehmen könnten zu einem Nukleus eines öffentlich verwalteten Energiesektors werden.
Die Wahrheit ist: Gazprom hat im eigenen Interesse das Korsett der Langfristverträge abgelegt, um Gas für den freien Handel freizubekommen und als marktbestimmende Kraft Extragewinne einfahren zu können. Niemandem nützen eine Marktöffnung und der intransparente Börsenhandel mehr als dem Unternehmen, das den Markt dank seines überragenden Gewichts jeweils in die gewünschte Richtung lenken kann. Regelmäßig wurden Gas»kriege« angezettelt, bevor der Gazprom-Eigner die Ukraine mit einem heißen Krieg überfiel.
Schon ab 2006 hatte Putin in Russland selbst einen allmählichen Übergang zu einer marktorientierten Gestaltung des Gaspreises angestoßen. Inzwischen gibt es auch dort einen Erdgashandel zu staatlich regulierten Preisen oder zu freien Preisen an einer Gasbörse. Auch dort mischt Gazprom selbstverständlich maßgeblich mit.
Wenn Europa einen Fehler gemacht hat, dann den, dass es sich hat erpressen lassen, die Energieversorgung überhaupt solchen Märkten zu überlassen und dort zugleich die Herrschaft von Oligopolen zuzulassen. Aber welche Kraft hätte sich da dagegenstemmen sollen? Das Geschäft mit dem Brennstoff zulasten der Natur, des Klimas und der Menschen in den Förderregionen ist einfach zu lukrativ.
Undurchsichtiger Gasmarkt
Denn das Schöne aus Unternehmersicht an so einem virtuellen Handel ist: Es lassen sich problemlos jede Menge Zwischenhändler installieren, um ein Land mit Gas zu beliefern. Eine Aufgabe, die früher in Deutschland von ein paar Konzern-Untergesellschaften und einem VEB gemanagt wurde, hält jetzt eine ganze Gas-Armada in Atem. 2021 gab es in Deutschland laut Statistischem Bundesamt rund 1.000 Gaslieferanten, etwa 700 Gasnetzbetriebe sowie 31 Gasspeicherbetriebe. Das klingt nach einem diversifizierten Markt, tatsächlich aber werden die wahren Eigentums- und Machtverhältnisse verschleiert.
An der Intransparenz der Gasbranche scheiterte jüngst selbst die Bundesregierung. Als sie noch das Projekt der Gasumlage verfolgte, räumte der grüne Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck eines Tages ein, bei der Umlage habe ihm eine Legion von Juristinnen und Juristen erklärt, dass es nicht anders gehen könne. Aber niemand habe gewusst, räumte Habeck ein, wie undurchsichtig der Gasmarkt sei – am Ende entschied sich die Ampel dafür, die Umlage fallen zu lassen und Uniper zu verstaatlichen. Ob die ebenfalls angeschlagene Verbundnetz Gas AG (VNG) auch verstaatlicht wird, ist noch nicht entschieden.
Auch wenn die Staatsrettung hier Milliarden kosten wird und auf die Sozialisierung unternehmerischer Verluste hinausläuft, eröffnete sie doch neue Chancen. Das Versagen der Märkte in der Krise schafft einen politischen Raum, um wieder die Grundsatzfrage auf den Tisch zu legen: Sollten Infrastrukturen, die natürliche Monopole und für die Daseinsvorsorge unverzichtbar sind, nicht in staatlicher oder öffentlicher Hand sein?
Bei Wasserversorgung und Wohnraum gibt es schon politische Mehrheiten für eine Nichtprivatisierung und Rückvergesellschaftung. Und man muss ja nicht alles in Staatshand nehmen. Beim Strom reichte es zunächst, das Netz zu verstaatlichen und dann für vielfältige Akteure zu gleichen Konditionen zu öffnen. Wer die Infrastruktur nutzen will, zahlt dann eine Gebühr, die alle Anbieter gleichbehandelt. Dann hätten auch Leute eine Chance, Energie zu liefern, die ein Konto bei einer Sparkasse und nicht in Offshore-Steuerparadiesen haben.
Es wäre, nebenbei gesagt, interessant zu eruieren, wie groß der Anteil des Staatssektors im deutschen Energiemarkt inzwischen ist. Die verstaatlichten Unternehmen könnten möglicherweise zu einem Nukleus eines künftig öffentlich verwalteten Energiesektors werden, der nicht wieder privatisiert werden darf.
Wer hätte gedacht, dass der Gaskrieg plötzlich solche Perspektiven eröffnet! Putin sicher nicht.