Von der Verbannung zum Kampf gegen den Separatismus
Der laizistische französische Staat möchte den Islam umstrukturieren und aufklären
Von Nerges Azizi
Frankreich inszeniert seine Laizität seit mehreren Jahrzehnten in spektakulären Verbannungen von muslimischen Symbolen und Praktiken aus dem nationalen Raum: das Kopftuch oder Hijab aus dem Klassenraum, die Burka und Niqab von der Straße, den Burkini vom Strand. Anfang März kursierte das Gerücht, dass das Schlachten von Hühnern nach islamischen Regeln verboten würde. Kurz darauf ging ein Gerücht um, nach dem das Hijab komplett aus dem öffentlichen Raum verbannt werden soll. Tatsächlich diskutieren französische Politiker*innen derzeit darüber, ob die religiöse Verschleierung über die bestehenden Einschränkungen hinaus untersagt wird. So schwerwiegend die Verbote auch wären, bei den Debatten in Frankreich geht es um mehr. Den Befürchtungen zugrunde liegt die Wahrnehmung, welche die Wissenschaftlerin Sahar Amarir auf Twitter wie folgt artikulierte: »An diesem Punkt möchte Frankreich nicht Halal Chicken verbannen, sondern Muslim*innen«.
Drei Säulen der Abspaltung
Die staatliche Inszenierung dieser möglichen Verbote findet in dem Kontext von Emmanuel Macrons »Kampf gegen den Separatismus« und gegen die muslimische »Gegengesellschaft« statt. In einer Rede im Oktober 2020 identifizierte der Präsident den »radikalen Islam«, die »Ghettoisierung«, sowie Postkolonialismus und Antikolonialismus als die drei Säulen des Separatismus. Diese Elemente würden überlappen, sich im »radikalen Islam« konzentrieren und müssten bekämpft werden.
Den Islamismus zu bekämpfen, ist eine Sache, was aber im Rahmen der staatlichen Reformen umstrukturiert werden soll, eine sehr viel weitreichendere. Ins Visier genommen werden Schulbildung, Kleidung, Vereine, Wohnorte, Werte, das Selbstverständnis und die Ernährung aller Muslim*innen. Materialisiert haben sich die Vorhaben bisher konkret in einer neuen Gesetzesvorlage zum »Respekt der Prinzipien der Republik« und gegen den muslimischen Separatismus sowie in einer Charta der Prinzipien für den Islam in Frankreich.
Der Innenminister Frankreichs, Gérald Darmanin, erwartet von allen Moscheen, die vom Staat subventioniert werden, diese Charta zu unterschreiben. Exemplarisch für Ton und Inhalt dieser Charta ist Artikel 9. In diesem steht: »Denunziationen eines sogenannten Rassismus vonseiten des Staates, wie alle Opferhaltungen, stellen Diffamierung dar. Sie nähren sowohl antimuslimischen Hass als auch Hass gegen Frankreich. Diffamierung und die Propagierung von Falschinformationen sind Delikte. Ihr Verbot ist ein moralisches Gebot.« Damit solle den Vorwürfen von Illoyalität der Muslim*innen gegenüber republikanischen Werten entgegengearbeitet und der Weg für einen »aufgeklärten Islam« geebnet werden. Die staatliche Initiierung dieser Charta ist widersprüchlich in Anbetracht der seit Jahren inszenierten Verbote religiöser Assoziierungen im öffentlichen Raum. Dass in der Charta mehrfach der Koran zitiert wird, scheint dem Staat nicht seine Laizität oder Neutralität zu nehmen. Privatpersonen dürfen sich hingegen weiterhin nicht nach ihrem Wunsch verschleiern. In diesem Sinne bezog sich Macron in seiner Rede immer wieder auf die Verschleierung als Andeutung für eine Radikalisierung des Glaubens und kündigte das Verbot religiöser Zeichen bei privaten Unternehmen an, die öffentliche Dienstleistungen anbieten. Flugpersonal könnte sodann beispielsweise offiziell kein Kopftuch mehr tragen.
Die Entschleierung der muslimischen Frau
Das Bedürfnis, die muslimische Frau entweder zu entschleiern oder, sollte sie auf ihre Verschleierung bestehen, ganz aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, stellt ein markantes Motiv in der islamfeindlichen politischen Landschaft Frankreichs dar. Der Versuch, die Subjekte der Republik in französische Werte zu assimilieren, ist in kolonialer Kontinuität mit der »Mission Civilisatrice« zu verstehen. Diese Ideologie zivilisatorischer Überlegenheit stellte das Schlüsselprinzip des Kolonialismus und Imperialismus Frankreichs dar. Bis zum 19. Jahrhundert übersetzte sie sich vor allem in die christliche Missionierung der Unterworfenen. Nach der Adoption des Laizismus, demzufolge Staat und Religion zu trennen sind, wurden die Kolonisierten nicht mehr unbedingt zum Christentum konvertiert, sondern in »neutrale« republikanische Werte eingeführt. Darunter fällt besonders eindrücklich die Entschleierung der muslimischen Frau.
Der Versuch, die Subjekte der Republik in französische Werte zu assimilieren, ist in kolonialer Kontinuität mit der »Mission Civilisatrice« zu verstehen.
In seinem Artikel »Algerien entschleiert« beschreibt der antikoloniale Widerstandskämpfer und Theoretiker Frantz Fanon 1965 die Besessenheit Frankreichs mit der Verschleierung muslimischer Frauen in ihrer damaligen Kolonie und deren Stellenwert im Widerstand gegen die französische Vorherrschaft. Der Schleier war in den Augen der Besatzungsmacht symbolisch aufgeladen: Er stellte eine Quelle für die Erotisierung der Frau dar, wurde zugleich aber auch zu einem Auslöser für Aggressivität und Frust darüber, das Gesicht und Haar der jeweiligen Frau nicht komplett sehen zu können.
Der Versuch, der muslimischen Frau ihren Schleier abzunehmen und sie zu »verwestlichen«, wurde Teil der französischen Kriegsstrategie gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung. Im Mai 1958 inszenierten die französischen Besatzer zahlreiche Choreografien, bei denen algerische Frauen mit Bussen auf öffentliche Plätze transportiert wurden und dort von weißen französischen Frauen zu den Schreien »Vive L’Algérie Française« entschleiert wurden. Damit sollte die Loyalität der muslimischen Frauen für Frankreich und gegen die Unabhängigkeit Algeriens gewonnen werden.
Die Vorfälle hatten jedoch den gegenteiligen Effekt. In ihrer Folge verschleierte sich eine höhere Anzahl an Frauen als zuvor. Damit manifestierten sie ihr Bestreben nach Unabhängigkeit und Freiheit sowie ihre Ablehnung der aufgezwungenen Werte der Kolonialmacht. Der Schleier verwandelte sich aus einem traditionellen Objekt dadurch nicht nur symbolisch in ein Zeichen des Widerstandes, sondern bot auch materiell eine Form des Schutzes und der Camouflage an, unter der beispielsweise Waffen transportiert werden konnten. Algerische Frauen wurden im Laufe des Krieges Teil des französischen Feindbildes, systematisch gefoltert und Opfer sexueller Gewalt der Armee. Diese kolonialen Erfahrungen strukturieren auch, was heute in Frankreich passiert.
»Kinder der Republik«
Macron selbst stellt in seiner Rede fest, dass die kollektive Psyche der Republik ihr koloniales Trauma noch nicht verarbeitet habe. Er nennt die Nachfahren der vormals Kolonisierten in bezeichnend paternalistischem Tonfall die »Kinder der Republik«. Obgleich diese »nie selbst Kolonialismus erfahren« hätten, würden sie dem Land seine Vergangenheit spiegeln, indem sie sich mit ihren postkolonialen und antikolonialen Identitäten beschäftigen. Dabei würden sie Hass gegen die Republik schüren und den Separatismus nähren. Darüber hinaus beschreibt er die Banlieues als Konzentrationspunkte der Misere und Schwierigkeiten für die Französische Republik. »Populationen« seien dort auf Basis ihrer Herkunft und sozialen Milieus unterteilt worden. Dafür sei der Staat mitverantwortlich. Es sei genau dort, wo sich der »radikale Islam« systematisch ausgebreitet habe.
Doch was hat es mit den Banlieues auf sich? Das Wort Banlieue ist etymologisch mit Bann und Verbannung assoziiert und beschreibt die geografischen und sozialen Peripherien größerer Städte. In diesen leben häufig rassifizierte Menschen mit niedrigem Einkommen aus den Ex-Kolonien Frankreichs und deren Nachfahren. Clichy-sous-Bois ist beispielhaft für die fehlende Infrastruktur dieser Banlieues. Bis heute gibt es von dem Vorort aus keine direkte Metro-Verbindung nach Paris. Die geografische Isolierung aus dem Stadtzentrum repräsentiert den sozialen Ausschluss, den die Bewohner*innen der Banlieues erfahren. Ihnen wird vorgeworfen, Parallelgesellschaften entwickelt zu haben, und ihr Wohnort wird in der nationalen Imagination als Brennpunkt für Armut, Kriminalität und Extremismus konstruiert.
Dabei wehren sich die lokalen Bevölkerungen seit mehreren Jahrzehnten gegen ihre Isolierung sowie gegen die erhöhte Konzentration rassistischer Polizeigewalt, die ihnen widerfährt. 1983 fand der »Marche des Beurs« für Gleichheit und gegen Rassismus aus einem Vorort von Marseille nach Paris statt. Seither hat es mehrere Revolten in den Banlieues gegen den staatlich sanktionierten Rassismus und Ausschluss gegeben. Darunter zählen auch die Proteste, die 2005 in dem zuvor erwähnten Vorort Clichy-sous-Bois ausbrachen und sich landesweit ausbreiteten, nachdem zwei Jugendliche an Polizeigewalt starben und einer schwer verletzt wurde. Die Banlieues und ihre Bewohner*innen sind es nun, die laut Macron von der Republik zurückerobert werden müssen und sich zu französischen Werten bekennen sollen. Die Frage ist letztlich jedoch, ob es hier um Separatismus vonseiten der muslimischen Bürger*innen oder um systematische Diskriminierung, antimuslimischen Rassismus, Stigmatisierung und Verbannungen vonseiten staatlicher Institutionen geht.