Fahren Sie bitte weiter!
Die Autoindustrie will, dass auch nach Corona alles so bleibt, wie es immer war.
Von Lene Kempe
»Frau Müller! Ich verstehe es tatsächlich immer noch nicht, wie da der Zusammenhang ist zwischen Aktienkurs und Arbeitsplätzen.« Tobias Armbrüster, seines Zeichens Deutschlandfunk-Moderator, wirkt ein bisschen ungehalten. Zum dritten Mal stellt er diese Frage und zum dritten Mal ringt Hildegard Müller, Chefin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) um eine zufriedenstellende Antwort. »Herr Armbrüster, es ist, glaube ich, ganz wichtig, dass wir auch in den Unternehmen stabile Verhältnisse am Kapitalmarkt haben. Mir ist es nur wirklich jetzt sehr verkürzt, wenn wir diese Frage, diesen großen Hochlauf, den wir gerade diskutieren müssen in der deutschen Wirtschaft, darauf jetzt reduzieren, ob wir Dividenden zahlen oder nicht Dividenden zahlen.« Es wird nur ein halber Sieg für Frau Müller. »Gut!« sagt Armbrüster. »Dann lassen Sie uns wegkommen von den Dividenden. Lassen Sie uns auf die Manager-Boni schauen.« Man hört förmlich, wie Frau Müller mit den Augen rollt.
Die Autoindustrie gilt als die mächtigste Interessengruppe in Deutschland. Und sie will, dass dies auch nach der vielzitierten »Strukturkrise« der Branche, nach dem »verschlafenen« technologischen Wandel, nach dem Dieselskandal und dem Nachfrageeinbruch infolge der Corona-Krise so bleibt. Schließlich hat diese privilegierte Position den Unternehmen über Jahrzehnte staatliche Unterstützung und einen exklusiven Zugang in die Schaltstellen der Politik gesichert. Dieser Tage allerdings scheint der Rechtfertigungsdruck für die Branche deutlich gestiegen. Die Automobilindustrie kämpft mit Imageproblemen. Die jüngsten Forderungen nach (neuerlichen) Kaufprämien für Elektroautos, aber auch für »moderne« Dieselfahrzeuge und Benziner, kamen selbst bei konservativen Kommentator*innen nicht gut an.
»Daimler braucht keine Staatshilfen«
Die deutsche Autoindustrie will Hilfen vom Staat. Und zwar obwohl Volkswagen, BMW oder Daimler Jahr für Jahr Milliardengewinne verzeichnen. Und obwohl Daimler-Chef Ola Källenius Ende März noch stolz verkündet hatte: »Daimler braucht keine Staatshilfen.« Das Unternehmen sei Dank seines erfolgreichen Geschäftsmodells mit Liquidität bestens ausgestattet. BMW und VW ließen umgehend ähnliches verlauten. By the way: Da hatten die Autokonzerne schon längst flächendeckend Kurzarbeitergeld angemeldet, ergo, Staatshilfen in Anspruch genommen. Jedenfalls: Einige Wochen später legten sie geschlossen einen Kurswechsel hin. Nun wollten die Unternehmen auch ganz offiziell Staatshilfen, Steuergelder also, und zugleich satte Boni und Dividenden an Manager*innen und Aktionär*innen ausschütten.
Der größte Trumpf im Ärmel der Frau Müller bleiben die Arbeitsplätze – so war es schon immer. »Arbeitsplätze erhalten«, das zieht.
Für Hildegard Müller keine leichte Übung, diesen Move der deutschen Vorzeigeindustrie zu rechtfertigen. Man sei nunmal eine »Schlüsselbranche«, versucht sie es noch einmal. »Das hat zu einer Steuereinnahme im letzten Jahr von 93 Milliarden Euro für Bund und Länder geführt. Und über 38 Prozent der gesamten … Aufwendungen für Forschung und Entwicklung in der deutschen Wirtschaft kommen aus der Automobilindustrie.« »Steuern«, wendet Armbrüster ein, »zahlt jeder in Deutschland, der Geld verdient«. Und spürbare Unternehmenssteuererhöhungen werden seit Jahren im Sinne der Standort- und Wettbewerbspolitik abgewendet, könnte man hinzufügen. Auch das Argument, dass Kaufprämien für moderne Verbrennungsmotoren ein guter Beitrag für den Klimaschutz seien, solange es noch an einer flächendeckenden Infrastruktur für Elektroautos fehle, dürfte viele Menschen derzeit kaum überzeugen.
Der größte Trumpf im Ärmel der Frau Müller bleiben die Arbeitsplätze – so war es schon immer. »Arbeitsplätze erhalten«, das zieht. Über 830.000 Menschen zählen allein zu den Stammbelegschaften bei Autobauern und Zulieferern. Dazu kommen Tausende Leiharbeiter*innen und Werkverträge. Schon Mitte Januar, vor dem Corona-»Shutdown«, stand die von einem Expertengremium errechnete Zahl von 410.000 Arbeitsplatzverlusten im Raum. »Unrealistisch« und »unseriös« seien solche Schätzungen, zitierte die Zeitung Die Welt daraufhin ausgerechnet den »Autopapst« Ferdinand Dudenhöfer. Solche »Drohszenarien werden aufgebaut, um dann die großen Strukturhilfen abzugreifen«, so Dudenhöfer. Selbst der VDA räumte ein, die Zahlen seien übertrieben. 79.000 bis 88.000 Stellen seien realistisch, so der Verband.
Schrumpfende Belegschaften
Wie viele es am Ende werden, ist bis dato unklar – das in den kommenden Jahren Tausende Stellen wegfallen werden, gilt aber als unbestritten. Die Unternehmen wollen Kündigungen erklärtermaßen vermeiden, sie setzen auf Fluktuation, Altersteilzeit und freiwilliges Ausscheiden. Die derzeitige Absatzkrise verschärft allerdings den Druck: So hat etwa der Daimler-Konzern den angekündigten Stellenabbau von zunächst 10.000 auf nun 15.000 Stellen erweitert. Ein geleaktes Papier offenbarte, dass die Konzernleitung dieses Ziel auch mit Druck umsetzten will. Manager*innen werden gezielt geschult, um Mitarbeiter*innen auch gegen Widerstand zum »freiwilligen« Ausscheiden zu bewegen.
Aus Sicht der Unternehmen ist Leiharbeit ein gewinnbringendes Flexibilisierungsinstrument.
»Hier bangt keiner der Stammbeschäftigten um den Arbeitsplatz«, betont indes eine Gewerkschafterin und Betriebsrätin des Mercedes-Benz-Werkes Mannheim im Gespräch mit ak. Die Methoden seien zwar durchaus ungewöhnlich; generell könnten die Beschäftigten aber immer mit einer satten Abfindung rechnen, wenn sie gehen. Deshalb gingen viele tatsächlich freiwillig. »Effizienzinitiatven« (großflächiger Stellenabbau) gebe es seit Jahren im Konzern. Im Mannheimer Werk sei deshalb niemand besonders beunruhigt – zumindest nicht in den Stammbelegschaften. Anders sei dies allerdings bei den Leiharbeiter*innen. Die hätten natürlich immer Angst. Wie viele von diesen geliehenen Arbeitskräften im Werk Mannheim tätig sind, kann sie nicht sagen. »Sehr viele«, seien es, ein ständiges »Kommen und Gehen«.
Nicht nur die Autobauer, auch die Zulieferindustrie und die industrienahen Dienstleistungsbranchen beschäftigen immer mehr Leiharbeiter*innen und vergeben in großem Umfang Werkverträge. Solche »atypischen Beschäftigungsverhältnisse« nehmen bekanntermaßen schon seit den 1990er Jahren überall zu. Aus Sicht der Unternehmen ein gewinnbringendes Flexibilisierungsinstrument. Mindestens 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland, Tendenz deutlich steigend, beträfe dies mittlerweile, so schätzt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung. Was immer noch »Normalarbeitsverhältnis« genannt wird – Arbeit in Vollzeit, mit unbefristeten Verträgen, existenzsichernden Löhnen und Sozialversicherungsbeiträgen, Kündigungsschutz, Krankheits- und Urlaubsgeld – ist also längst ein Privileg.
Die Automobilindustrie ist eine entscheidende Bastion der deutschen Gewerkschaften, die zunehmend um ihre gesellschaftliche Gestaltungsmacht bangen.
Dass es bei den großen Autobauern und Zulieferern überhaupt noch eine verhältnismäßig hohe Zahl an tariflich geschützten Festangestellten gibt, hat viel damit zu tun, dass die Gewerkschaften in der Branche überdurchschnittlich gut repräsentiert sind. Etwa die Hälfte der Stammbelegschaften in den Autowerken sind normalerweise in der IG Metall organisiert, im Mercedes-Benz-Werk Mannheim liege der Organisationsgrad der Gewerkschaft noch sehr viel höher, so die Betriebsrätin. Die Automobilindustrie ist damit eine entscheidende Bastion der deutschen Gewerkschaften, die zunehmend um ihre gesellschaftliche Gestaltungsmacht bangen. Tendenziell sinken die Mitgliederzahlen allerdings auch hier.
Die IG Metall hat sich vor diesem Hintergrund auf einen Strategiewechsel verständigt: Mehr Vor-Ort-Arbeit in den Betrieben soll die Mitgliederzahl und damit die Kampffähigkeit der Gewerkschaft steigern. Teile der Gewerkschaftslinken wollen allerdings mehr: Unter dem Stichwort Konversion wird seit Jahren ein sozial-ökologischer Umbau der Branche diskutiert. Denn die Automobilindustrie könnte ein zentraler Ausgangspunkt sein, um Mobilität, Arbeit, Mitbestimmung und soziale Teilhabe neu zu denken. Auch wegen des hohen gewerkschaftlichen Organisierungsgrades. Dafür allerdings müssten die Gewerkschaften viel stärker als politischer Akteur auftreten.
Aus Sicht der Industrie dagegen gibt es freilich wenig Anlass für einen Kurswechsel. Denn Imageprobleme hin oder her: Sie gibt das Tempo des mühseligen technologischen Wandels vor, sie kann dabei weiter auf Staatshilfen zählen und weiß weite Teile der Politik hinter sich, insbesondere in den »Autoländern« Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Und die Industrie profitiert massiv von der Ausweitung prekärer Beschäftigung. Gleichzeitig verleiht ihr die Tatsache, dass der Automobilsektor in Teilen immer noch ein Bollwerk des Klassenkompromisses und der vielgelobten Sozialpartnerschaft sowie des guten alten Normalarbeitsverhältnisses ist, eine gute Verhandlungsposition – auch gegenüber den Gewerkschaften, die hier zwar kampfstärker sind als anderswo, zugleich aber auch besonders kompromissbereit. Die Konzernspitzen der Autoindustrie werden vor diesem Hintergrund stur ihren alten Kurs halten, nach dem Motto: Fahren Sie bitte weiter, es gibt hier nichts zu sehen.