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Expansion im Handstreich

Israels Regierung nutzt den Sturz Assads, um ihre Besatzung in Syrien auszuweiten

Von Sabine Kebir

Ein Soldat verstaut in einem Kasten Maschinengewehr-Munition. Dahinter eine karge Hügellandschaft.
Seit 1967 ist Israel im Nahen Osten Besatzungsmacht: ein IDF-Soldat 1968 mit Kriegsgerät auf den Golanhöhen. Foto: Boris Carmi/Meitar Collection/National Library of Israel/The Pritzker Family National Photography Collection / Wikimedia Commons , CC BY 4.0

Am 5. Juni 1967 begann der sogenannte Sechstagekrieg zwischen Israel, Ägypten, Syrien und dem Libanon, der mit einem überwältigenden Erfolg der Israel Defense Forces (IDF) endete. Sie überrollten den damals zu Ägypten gehörenden Gazastreifen und besetzten den gesamten Sinai. Und nach einem Großangriff auf die Golanhöhen am 9. Juni mussten sich auch die syrischen Streitkräfte schon einen Tag später von einem Teil des Höhenzuges zurückziehen. Die meisten syrischen Bewohner*innen der Golanhöhen flohen. Ein Teil der Drus*innen blieb in den Dörfern zurück und es begann die Ansiedlung von Israelis.

Im Jom-Kippur-Krieg 1973 konnte Ägypten zwar den Sinai zurückgewinnen, Syrien scheiterte aber bei der Rückeroberung der Golanhöhen. Der syrische Präsident Hafiz al-Assad nahm fortan eine defensive Haltung gegenüber Israel ein und betonte, dass die Wiedereingliederung der Golanhöhen im Rahmen einer diplomatisch zu erreichenden Friedenslösung geschehen müsse. Baschar al-Assad folgte seinem Vater darin. Ab 1974 besetzte eine multinationale Truppe von UNO-Blauhelmen, die United Nations Disengagement Observer Front (UNDOF), ein 235 Quadratkilometer großes Gebiet zwischen der israelischen und syrischen Armee mit dem Auftrag, die Einhaltung des Waffenstillstands zu überwachen.


Neben der militärstrategischen Bedeutung der Golanhöhen sind auch seine Wasserquellen von hohem Wert.

Neben der militärstrategischen Bedeutung der Golanhöhen sind auch seine Wasserquellen von hohem Wert für die Landwirtschaft. Darüber hinaus zählen sie für die israelische Rechte zu »Großisrael«, d. h. zu jenen Gebieten, die in der Antike von Jüdinnen*Juden bewohnt wurden und die ihnen daher auch heute wieder zustünden. 1981, unter der Likud-Regierung von Menachim Begin, wurden die Golanhöhen von der Knesset annektiert. Die Vereinten Nationen erklärten mit der Resolution 497 das Ziel Israels, seine Gesetze, Gerichtsbarkeit und Verwaltung dort zu implementieren, nach internationalem Recht für unwirksam. Der damalige US-amerikanische Präsident Ronald Reagan äußerte seine »tiefe Besorgnis und Ablehnung dieses Schritts«. Kein Staat der Welt erkannte die Annektion an, bis Donald Trump sie 2019 sanktionierte.

Teil des Bürgerkriegs

Während des 2011 einsetzenden Syrienkonflikts kam es bald zur starken Einmischung Israels. Es unterstützte die bis an die Golan-Grenze vordringenden Rebellen der aus Al-Qaida hervorgegangenen Nusra-Front mit Waffen, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. Kämpfer der Nusra-Front sollen in israelischen Krankenhäusern behandelt worden sein. In dieser Zeit kontrollierten die IDF faktisch erhebliche Teile Südwestsyriens. Diese Situation führte dazu, dass sich 2016 die UNDOF aus der Pufferzone zurückziehen musste. Erst 2018, als die syrische Regierungsarmee das Rebellengebiet wieder weitgehend kontrollierte, konnte sie sich dort wieder etablieren. Damit war das massive Eingreifen Israels in Syrien aber nicht beendet. Die IDF bombardierten fortwährend militärische Stellungen, die angeblich vom Iran oder von der Hizbollah unterhalten wurden, aber auch Flugplätze – und das nicht nur aus militärischen Motiven. Häufige Angriffe auf Flughäfen komplettierten die Auswirkungen der von den USA verhängten Sanktionspolitik gegen Syrien, die jeglichen Handel zu Wasser, zu Lande und über Luftbrücken unterbinden sollte.

Während der Syrienkonflikt international vor allem als Bürgerkrieg um die Zukunft des Landes angesehen wurde, waren Israels Motive für seine Einmischung von vornherein vom Ziel einer weiteren Ausdehnung seines Territoriums geprägt. Es ist der einzige Mitgliedsstaat der UNO, der seine Grenzen nicht offiziell definiert. Und er beabsichtigt das wohl auch nicht, ehe das von seinen rechten Kräften als »Großisrael« angestrebte Ziel erreicht ist.

Da die syrische Regierungsarmee mit dem Rücktritt Baschar al-Assads den Kampf einstellte, rückten nicht nur die aus der Nusra-Front hervorgegangenen Milizen von Hayat Tahrir al-Scham (HTS) von Norden, sondern auch die IDF von Süden her schnell auf den weiterhin syrischen Teil der Golanhöhen vor und standen Anfang Januar 30 Kilometer vor Damaskus. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London meldete Hunderte, auch von amerikanischen Militärbasen aus gestartete israelische Luftangriffe auf Flughäfen, Flugzeugstaffeln, Waffendepots, Langstreckenraketen, Radarstationen und Aufklärungsanlagen bis an die nordöstliche Stadt Quamischli. Auch Chemiestandorte wurden angegriffen, obwohl laut UNO-Beobachter*innen bislang keine Hinweise auf eine Giftgasproduktion vorlagen. Einige israelische Bombardements in Damaskus galten der Botschaft und anderen Einrichtungen des Iran, der – angeblich in Absprache mit den HTS-Milizen – sein Personal zuvor abziehen konnte.

Starke israelische Bombardierungen erlebte die hauptsächlich von Alawit*innen bewohnte Küstenregion Syriens. Ein Angriff auf syrische Militärbasen bei Latakia wird eine Provokation für den russischen Luftstützpunkt Khmeimin gewesen sein. Da dieser sowie der Marinehafen Tartus für die militärische Kooperation Russlands mit Staaten in Afrika von großer Bedeutung sind, hat Moskau verlauten lassen, beide Stützpunkte behalten und notfalls »hart« verteidigen zu wollen. Inzwischen ist bekannt geworden, dass die Basen vorerst bestehen bleiben – und zwar auf Bitten der Türkei und der HTS, die offenbar ein Gegengewicht gegen die in Syrien befindlichen Truppen der USA und Israels erhalten wollen. Präsident Recep Tayyip Erdogan erneuerte das der türkischen Bevölkerung und auch den Palästinenser*innen immer wieder gegebene Versprechen, unnachgiebig gegenüber der israelischen Besatzungspolitik zu bleiben – was in seinen Augen nichts anderes bedeutet als die schrittweise Wiedererrichtung des Osmanischen Reiches. In dieses Bild passt, dass in der Türkei ein Plakat zu sehen ist, auf dem die wieder zur Moschee umgewidmete Hagia Sophia in Istanbul, die Umayyaden-Moschee in Damaskus und die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem abgebildet sind, deren historische Verbindung erkämpft werden müsse. Und der neue Machthaber in Damaskus, Ahmed al-Scharaa, der mit der Nusra-Front bis 2018 von Israel unterstützt worden war und nun Vasall der Türkei ist, versicherte zwar, dass er keinerlei Pläne eines militärischen Vorgehens gegen Israel hätte, kritisierte aber dessen Bombardements scharf. Und schon am 9. Dezember reichte er beim UNO-Generalsekretär eine Erklärung mit der Forderung ein, dass Israel alle besetzten Gebiete Syriens räumen müsse. Das war er seinen Gefolgsleuten auch schuldig, denn bis vor kurzem trug er noch den Kriegsnamen »Al-Golani« – »der vom Golan kommt«. Wahrscheinlich kann Israel auch künftig mit keiner bequemen Nachbarschaft in Syrien rechnen.

Neue Siedlungen

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Außenminister Gideon Sa`ar betonen, dass die Operationen in Syrien allein der künftigen Sicherheit des Landes dienen. Dennoch ist man bemüht, rasch eine neue Realität auf den Golanhöhen zu schaffen. Das beweist ein bereits von der Regierungskoalition einstimmig gefasster Beschluss, der die Verdoppelung der jüdischen Siedlungen der nunmehr vollständig besetzten Golanhöhen vorsieht. Dafür wird eine Summe von 40 Millionen Schekel zur Verfügung gestellt. Donald Trump soll sich in einem Telefonat vom 14. Dezember mit Netanjahu bereits mit diesen neuen Plänen einverstanden erklärt haben.

Schon jetzt leben auf den Golanhöhen 31.000 israelische Siedler*innen neben der drusischen Bevölkerung, die sich jedoch größtenteils noch als syrisch versteht. Lediglich ein kleiner Teil hat die israelische Staatsangehörigkeit angenommen. Fernsehbilder zeigten, dass die israelischen Soldat*innen, die jetzt auf die nördlichen Golanhöhen vorgerückt sind, dortige Bewohner*innen zum Verlassen des Gebiets aufforderten. Inwieweit das einer Regierungsanweisung oder einem militärischen Befehl entsprach, bleibt offen. Jedenfalls genießen diese Syrer*innen keinen effektiven Schutz durch die UNDOF. Die Fernsehbilder zeigten auch, dass deren Bewegungsfreiheit auf den Golanhöhen durch die IDF eingeschränkt wird. Im Aufbau ist eine mit Panzereinheiten gesicherte neue israelische Pufferzone, die sich bis über das Hermon-Gebirge erstreckt und den jetzigen Winter über bestehen bleiben soll.

Aus der Perspektive Netanjahus und seiner radikal expansionistisch gesinnten Minister erscheint der Krieg an der syrischen Front besonders erfolgreich, zumal hier bis jetzt kaum Verluste zu verzeichnen waren. Jedoch ist damit weder eine militärische noch eine politische Stabilisierung des Nahen Ostens erreicht, womit auch die künftige Sicherheit Israels keineswegs gewährleistet ist.

Sabine Kebir

ist Autorin von Sachbüchern, Belletristik und Kinderbüchern. Sie arbeitet als freie Publizistin u.a. zu den Themen Naher Osten, Kultur und Literatur.