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Mit oder ohne die Taliban

Ein Jahr nach dem Fall Kabuls weisen das Auswärtige Amt und zivilgesellschaftliche Akteur*innen die Verantwortung für die gescheiterte Evakuierung von sich

Von Hila Latifi

Aktivist*innen und Mitglieder der afghanischen Community protestierten vor einem Jahr dafür, dass wesentlich mehr Afghan*innen die Ausreise aus Afghanistan ermöglicht werden muss, wie hier am 21. August 2021 in London. Foto: Steve Eason/Flickr , CC BY-NC 2.0

Monate vor dem Chaos am Kabuler Flughafen schon hatten Expert*innen vor dem Desaster gewarnt, das sich im August 2021 entfaltete, als die Taliban die Hauptstadt Afganistans übernahmen. Trotz der Forderungen nach einem pragmatischen Evakuierungsverfahren von Ortskräften und gefährdeten Personen blieb die Politik untätig.

Was viele erst an diesem Tag verstanden, wussten die afghanischen Ortskräfte nach 20 Jahren Bekanntschaft mit den Truppen schon lange: Sie können an den Toren des Flughafens weder auf Menschlichkeit noch Mitleid setzen. Sie kamen deshalb vorbereitet mit Nachweisen für ihre Berechtigung, das Land zu verlassen. Das Auswärtige Amt hatte von Aktivist*innen Listen mit akut gefährdeten Personen gefordert und erhalten. Während diese Personen vor den verschlossenen Toren mit ihren Dokumenten wedelten, flogen Flugzeuge trotzdem fast leer zurück.

Die Einsatzkräfte vor Ort schienen, als wüssten sie selbst nicht so recht, was eigentlich ihr Auftrag ist. In Berlin herrschte ebenfalls Chaos. Verantwortungen wurden hin und her geschoben, die Strategie und das Ziel der Evakuierung wurde immer wieder verändert. Schon allein die E-Mail-Adresse des Auswärtigen Amts für das Zusenden der Namensliste änderte sich drei Mal. Als sich herausstellte, dass ein Spitzel in der Whats-App-Gruppe, in der das Auswärtige Amt mit Angehörigen aus Deutschland Informationen austauschte, versuchte an die Aufenthaltsorte der Evakuierungskandidat*innen zu kommen, wurde die Gruppe vom Auswärtigen Amt kommentarlos gelöscht. Damit brach die Kommunikation dann endgültig ab.

Wie Kabul Luftbrücke und das Auswärtige Amt wirklich zusammenarbeiten, ist unklar.

Die Evakuierungsmission wurde am 26. August 2021 beendet und Tausende Menschen, die bis zuletzt an die Motive des Einsatzes geglaubt hatten, wurden sich selbst überlassen. Insgesamt zeigt sich in der planlosen Evakuierungsoperation das Desaster des gesamten militärischen Einsatzes in Afghanistan der letzten 20 Jahre.

Im Untersuchungsausschuss will der Bundestag seit Juni 2022 die Fehler der Evakuierungsoperation aufarbeiten. Es soll nicht um Schuldzuweisungen gehen, sondern darum, aus Fehlern für die Zukunft zu lernen, so betonen SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP. Während die Regierung nach vorne schauen will, warten mindestens die Angehörigen der 90 Todesopfer vom Kabuler Flughafen darauf, dass politisch Verantwortliche Konsequenzen tragen. Das Leben dieser Menschen wird als Kollateralschaden bewertet.

Weiße Retter*innen

Wenn wir von Verantwortung reden, müssen wir auch über die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteur*innen bei der Evakuierung sprechen. Diese haben große Aufgaben und damit eine Verantwortung übernommen, der sie nicht gerecht werden konnten.

Eine Demokratie lebt davon, dass es Zivilgesellschaft gibt, die auf die Regierung schaut und Aufgaben auffängt, die diese nicht übernimmt. Wir als afghanische Community haben unsere Verantwortung darin gesehen, die Bundesregierung, an deren Seite die Ortskräfte in den letzten 20 Jahren gekämpft hatten, unter Druck zu setzen. Sie ist nicht nur Entscheidungsträgerin, sondern hat auch die Ressourcen, eine derart große Evakuierungsmission überhaupt durchzuführen.

Als ich erfuhr, dass sich ein paar Berliner*innen über Nacht überlegt hatten, ein Flugzeug zu organisieren, um Leute auszufliegen, hörte sich das nach einer klassischen White-Savior-Aktion an. Typisch White Savior dachten sie, sie könnten, ohne das Land zu kennen und ohne ein erfahrenes Team, die Verantwortung für die Rettung lebensbedrohter Menschen aus einem Kriegsland übernehmen. Als sei es ein Abenteuer, als stünde nicht das Leben von Menschen auf dem Spiel. Schnell waren noch ein paar prominente Personen mit im Team, und die Gruppe wurde umfangreich beworben.

Als Community haben wir trotz aller Bedenken viel Hoffnung auf diese Gruppe, Kabul Luftbrücke, gesetzt. Wir haben sie unterstützt, auf Social Media verbreitet und zu Spenden aufgerufen. Grade deshalb ist die Enttäuschung in der afghanischen Community in Deutschland nun so groß. Ihr habt euch etwas zur Aufgabe gemacht, dem ihr nie gewachsen wart und dabei Menschenleben riskiert. Das ist absolut unverantwortlich.

Verantwortungs-Ping-Pong

Kabul Luftbrücke wird seit seiner Gründung massiv an der Arbeit gehindert. Dafür macht die Gruppe die Bundesregierung verantwortlich. Im Widerspruch dazu steht ein Interview mit Außenministerin Annalena Baerbock in der Dokureihe »Mission Kabul-Luftbrücke«, in der sie von der guten Zusammenarbeit zwischen Regierung und zivilgesellschaftlichen Akteuren berichtet.

Wie Kabul Luftbrücke und das Auswärtige Amt wirklich zusammenarbeiten, ist unklar. Fakt ist, dass die Kooperation, die nach außen so beschönigt wird, nicht darin mündet, dass Menschen, die seit 13 Monaten darauf warten gerettet zu werden, das Land tatsächlich verlassen können. Mal abgesehen von den 300 bekannten ermordeten Ortskräften und Aktivist*innen, die schon lange hätten gerettet werden müssen.

Der Eingriff von Kabul Luftbrücke in die Evakuierungsoperation hat dazu geführt, dass sich das Auswärtige Amt komplett zurückzog. Anstatt die Verantwortung für die weiterhin festsitzenden Menschen mit dem Auswärtigen Amt hin und her zu spielen, müssen die Aktivist*innen ihre eigene Beteiligung aufarbeiten. Statt mit interner Reflektion ist die Gruppe aber vorrangig mit ihrem Image beschäftigt: Sie bekommen einen Preis nach dem nächsten, beteiligen sich an einem Medienformat nach dem nächsten.

Dass eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit nicht erwünscht ist, zeigte sich auch an einer Anfrage, die ich vom Produzenten des Kabul-Luftbrücke-Podcasts, Michael Bartlewski, bekam. Er konnte seine Freude am Telefon kaum zurückhalten, eine afghanische Podcasterin gefunden zu haben, die das Format moderieren könnte. Ich war nicht abgeneigt und sagte ihm, dass ich auch mit einem kritischen Blick auf die Arbeit der Gruppe blicken möchte, anstatt nur eine Heldengeschichte zu erzählen. Er hat sich natürlich nie wieder gemeldet. Anstatt über die eigene Arbeit zu berichten, bekommen Hörende hollywoodreife Actionerzählungen. Geschichten, in denen weiße Menschen die Held*innen spielen können, lassen sich einfach besser verkaufen.

Mit Islamisten reden

Ende Juni nahm ich an einer Veranstaltung zu der Frage, wie die afghanische Diaspora die Zivilgesellschaft in Afghanistan unterstützen kann, im Auswärtigen Amt teil. Von den schätzungsweise 50 Gästen waren die meisten vor kurzem aus Afghanistan evakuiert worden: Politiker*innen, NGO-Mitarbeiter*innen, Richter*innen und Journalist*innen. Ebenso kamen Mitglieder der afghanischen Diaspora, die schon länger in Deutschland sind.

Die Außenministerin hielt höchstpersönlich eine Rede. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Reem Alabali-Radovan (SPD) und Jasper Wieck, Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, sprachen ebenfalls. Als Niels Annen (SPD), parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in seiner Rede die Frage stellte, ob wir mit oder ohne die Taliban arbeiten sollten, dachte ich: »Für uns als Community stellt sich diese Frage nicht. Wir sind nicht hier, um eine Lösung mit den Taliban zu genehmigen.« Allein, eine solche Frage zu stellen zeigt schon, dass viele Politiker*innen und wohlmeinende Aktivist*innen nicht verstanden haben, was es heißt, dass in Afghanistan nun eine islamistische Gruppe regiert.

In moderierten Workshops ging es dann um die Frage, welche Räume denn noch übrig sind, in denen Zivilgesellschaft agieren kann. Meine Gruppe, in der unter anderem die frühere Bürgermeisterin von Maidan Shahr, Zarifa Ghafari, und die Frauenrechtsaktivistin Dr. Soraya Sobhrang waren, wollte die Handlungsräume vergrößern und nicht nur akzeptieren, dass es kaum noch welche gibt. Wir wollten darüber diskutieren, wie wir die Taliban unter Druck setzten können, Mädchen den Schulbesuch zu erlauben, Frauen arbeiten zu lassen und marginalisierte Gruppen zu schützen.

Die Moderatorin, die uns das Auswärtige Amt zur Verfügung gestellt hatte, schien mit uns recht überfordert. Nach einigen Interventionen ließ sie uns dann doch unsere Meinung auf ein Plakat schreiben: »Zivilgesellschaftliche Arbeit alleine wird keinen nachhaltigen Wandel bringen. Alles, was wir als Zivilgesellschaft entwickeln, muss politisch angegangen werden, und die Verantwortung dafür liegt beim Auswärtigen Amt.« Wenig überraschend waren die anderen Gruppen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Die Bundesregierung tut trotzdem weiterhin so, als könnte sie ohne die Anerkennung der Taliban nichts weiter für die Menschen in Afghanistan tun. Wie es schon bei der Evakuierung war, tut das Auswärtige Amt ohne Druck von außen nichts.

Konkrete Maßnahmen

Ein erneuter militärischer Einsatz ist keine Option. Die Anerkennung der terroristischen Regierung ebenfalls nicht. Dennoch verschaffen sich die Taliban mit der Angst vor einer erneuten Besatzung Sympathien In der Bevölkerung.

Aber friedlich ist es auch jetzt nicht im Land. Seit mehr als einem Jahr kommen fast wöchentlich neue Meldungen über Explosionen und Gewalt, insbesondere an Frauen, an Mädchen und an marginalisierten Gruppen wie den Hazara. Queers haben kein Existenzrecht. Die Zahlen von Zwangs- und Kinderehen steigen. Menschen werden Opfer von Selbstmordattentaten oder sterben wegen mangelnder medizinischer Versorgung und Hunger.

Das ist schlimm. Und trotzdem bin ich es leid, nur Gehör zu finden, wenn ich aus einer emotionalisierten Betroffenenperspektive über die Situation in Afghanistan spreche. Statt theoretischen Debatten über die Fehler der letzten 20 Jahre oder Heldengeschichten weißer Aktivist*innen braucht es immer noch konkrete Maßnahmen, die ohne die Taliban umgesetzt werden. Sichere Ausreisewege für alle, die das Land verlassen wollen, sind ein Beispiel.

Hila Latifi

ist eine in Kabul geborene und in Hamburg lebende Aktivistin und politische Bildungsreferentin. Sie schreibt außerdem zu Afghanistan.

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