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Eskalation in Zeitlupe

In den Verhandlungen über den Gaza-Krieg geht es nicht nur um eine Waffenruhe, sondern auch um die Abwehr eines regionalen Großkonflikts

Von Hêlîn Dirik und Johannes Tesfai

Nach den Ermordungen zweier hochrangiger Mitglieder der Hamas und der Hisbollah verkündet Iran Rache an Israel. Droht ein regionaler Krieg? Foto: Israel Defense Forces / Wikimedia Commons, CC BY 2.0

Fast 40.000 Tote und mindestens doppelt so viele Verletzte hat der Krieg Israels in Gaza schon gefordert. Millionen wurden in die Flucht getrieben und sind von Hunger bedroht. Weltweit dauern die Proteste für ein Ende des Krieges an. Das aber scheint nicht in Sicht, vielmehr zeichnet sich eine Ausweitung, Verlängerung und Intensivierung ab. Tatsächlich steht die Möglichkeit einer regionalen Eskalation des mehr als zehn Monate andauernden Gaza-Krieges derzeit, mehr noch als in den vergangenen Monaten, im Raum. Während eines offiziellen Besuchs in Irans Hauptstadt Teheran wurde der Chef des Politbüros der islamistischen Hamas, Ismail Haniyya, am 31. Juli durch einen Anschlag getötet, der Israel zugeschrieben wird, auch wenn Israel dies bisher nicht bestätigt hat.

Zur Tötung des Hisbollah-Kommandeurs Fuad Schukr einen Tag zuvor durch einen Luftangriff nahe Beirut bekannte sich Israel dagegen deutlich. Schukr stand beratend an der Seite von Hassan Nasrallah, Chef der Hisbollah, die neben der Hamas und den jemenitischen Huthis zur iranisch-geführten, sogenannten Achse des Widerstands gegen Israel gehören. Iran sieht sich nun verpflichtet, seine »Ehre« wiederherzustellen, die beiden Anschläge werden als öffentliche Demütigung Irans wahrgenommen. Haniyya hatte sich schließlich in einer Hochsicherheitsresidenz der iranischen Revolutionsgarden aufgehalten, als er getötet wurde. Ali Khamenei, das geistliche Oberhaupt Irans, droht also mit einem direkten Vergeltungsanschlag auf Israel, der unvermeidlich passieren werde.

An allen Fronten

Dabei wird der Krieg schon längst auch außerhalb des Gazastreifens ausgetragen. An der Grenze des benachbarten Libanon beschießen sich Israel und die Hisbollah seit Monaten. Im April griff Israel die iranische Botschaft in Syrien an, worauf Iran mit Raketen- und Drohnenangriffen auf Israel reagierte. Und im Jemen bombardierte Israel noch im Juli Stellungen der Huthi-Milizen, die ihrerseits seit November letzten Jahres immer wieder Angriffe auf Frachtschiffe im Roten Meer durchführen.

An der Grenze des benachbarten Libanon beschießen sich Israel und die Hisbollah seit Monaten.

Doch nach den jüngsten Ereignissen scheint die Lage besonders angespannt: Die USA kündigten an, mehr Streitkräfte in die Region zu entsenden, Evakuierungen aus dem Libanon sind bereits im Gange, Israels Verteidigungsminister Gallant warnt jetzt schon vor Angriffen, »wie es sie in der Vergangenheit nicht gegeben hat«, und die Führung in Teheran erklärt, dass sie sich durch Aufforderungen des Westens, sich mit Vergeltungsanschlägen zurückzuhalten, nicht von ihren Plänen abbringen lassen werde.

Dass die Nervosität in der Region groß ist, zeigen auch die derzeitigen Nebenschauplätze. Jordanien, dessen Staatsgebiet an Israel und das besetzte Westjordanland grenzt, ist mit Iran in eine Kommunikation getreten, die zwischen Warnung und Verhandlung pendelt. Wenn die Presse in Amman, aber auch Erklärungen der Regierung davor warnen, den jordanischen Luftraum für militärische Zwecke zu verletzen, ist diese Botschaft zweifellos an Iran gerichtet. Schon als im April viele iranische Raketen und Drohnen auf israelischem Gebiet niedergingen, fing das Land einige dieser über seinem Luftraum ab. Jordanien hat seit längerem einen Friedensvertrag mit Israel, 60 Prozent seiner Bevölkerung sind aber Palästinenser*innen. Ein Sprecher der Hisbollah ließ bereits im April verlauten, dass die Miliz bis zu 12.000 Kämpfer in Jordanien bewaffnen könne. Für sie wäre die Eröffnung einer jordanischen Front von großem Interesse, ließ sich der Sprecher zitieren.

Eine regionale Eskalation könnte überdies auch deshalb so unberechenbar werden, weil im Zuge des Bürgerkriegs unzählige Milizen, nicht wenige davon islamistische, in Syrien operieren. Ebenso in Irak, der seit dem Einmarsch der USA 2003 militärisch und politisch nicht wieder zur Ruhe gekommen ist. Kurz nach dem 7. Oktober flog die israelische Luftwaffe Angriffe auf Ziele in Syrien. Irak und Syrien waren also von Anfang an Teil des inoffiziellen Kampfgebietes dieses Krieges.

Dass viele große und kleine Armeen in der Region nicht mal einen Staat kontrollieren, heißt nicht, dass sie militärisch weniger handlungsfähig seien. Die Hisbollah kontrolliert defacto den Südlibanon. Und im bürgerkriegsgebeutelten Jemen haben die Huthi-Milizen zwar nicht die komplette Regierungsmacht, sie sind trotzdem in der Lage, den gesamten Handel über das Rote Meer einzuschränken.

Kriegsinteressen

Den Gesprächen über eine mögliche Waffenruhe liegt die Angst einer weiteren Eskalation zugrunde. Unter der Leitung der USA, Katars und Ägyptens finden sie dieser Tage in Doha, Katar, wieder statt. Gleichzeitig gibt es Meldungen über Angriffe israelischer Siedler*innen im Westjordanland und Ankündigungen der israelischen Armee, die Stadt Chan Younis im Gazastreifen anzugreifen. Die israelische Regierung hat eine Delegation nach Doha geschickt, die Hamas aber wird nicht anwesend sein, eine Reaktion auf den Tod von Haniyya. Sie hat allerdings prinzipiell dem Vorschlag der USA für die Bedingungen einer Waffenruhe im Vorfeld zugestimmt. Die Verhandlungen werden international scharf beobachtet, weil eine Einigung Iran von einem Vergeltungsanschlag abhalten könnte. In Katars Hauptstadt wurde ein Verhandlungstisch aufgebaut, an dem Iran nicht sitzt, der Teil der Bedrohungslage ist.

Die Verhandlungen werden international scharf beobachtet, weil eine Einigung Iran von einem Vergeltungsanschlag abhalten könnte.

Es gibt Beobachter*innen, die davon ausgehen, dass Iran kein Interesse an einem offenen Krieg mit Israel hat. Gleichzeitig befindet sich die Führung des Landes in einer tiefen innenpolitischen Krise, wie nicht zuletzt die feministische Aufstandsbewegung gezeigt hat. Historisch ist die Stabilität des jetzigen Systems in Iran aus einem großen Krieg hervorgegangen: Mit dem irakischen Angriff 1980 konsolidierte sich die Gesellschaft über Repression, Kriegsführung und eine teilweise Integration der rebellischen Schichten. Wird ein neuer Krieg die iranische Innenpolitik auf brutale Weise ein weiteres Mal befrieden können?

Auf israelischer Seite ist ein Interesse an einer Deeskalation ebenfalls gering. Netanjahus politisches Überleben scheint an diesem Feldzug zu hängen. Die Provokation einer regionalen Eskalation käme ihm zugute – während innenpolitisch und international der Druck wächst, könnte Israel im Kampf mit Iran wieder auf mehr Rückendeckung der USA zählen. Gegen den gemeinsamen Feind, die »Tyrannen von Teheran, die Homosexuelle an Kränen erhängen und Frauen töten, weil sie ihr Haar nicht bedecken«, wie Netanjahu es vor dem US-Kongress Ende Juli formulierte, müsse man schließlich zusammenstehen.

Die größte Leidtragende ist derweil die Zivilbevölkerung, vor allem in Gaza. Eine zunehmende Regionalisierung des Konflikts würde auch eine weitere leidvolle Verlängerung des Krieges bedeuten, der ihre Lebensgrundlage restlos zerstört.

Redaktionsschluss war der 16. August. Spätere Ereignisse konnten nicht berücksichtigt werden.

Hêlîn Dirik

ist Redakteurin bei ak.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.

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