»Das ist die Fortsetzung staatlicher Gewalt«
Wie die Situation in den vom Erdbeben zerstörten Gebieten ist, womit sich die Menschen selbst helfen und was sie jetzt brauchen, erklärt Valeria Hänsel von medico international
Interview: Nelli Tügel
Zehntausende Tote, etliche Verletzte, verwüstete Städte und Dörfer, Hunderttausende ohne Dach über dem Kopf – die Folgen des Erdbebens vom 6. Februar in der Türkei, Kurdistan und Syrien sind verheerend. Dabei haben Politiken das Ausmaß der Katastrophe und die Todeszahlen massiv beeinflusst. Und der Mangel an staatlicher Hilfe nach der Katastrophe hat ihre Folgen noch verschlimmert. Wie sich die Betroffenen nun selbst helfen und was geschehen muss, erklärt Valeria Hänsel, die vor Ort war.
Du bist seit einigen Tagen im Erdbebengebiet in der Türkei unterwegs. Wie würdest du die Situation beschreiben?
Valeria Hänsel: Die Situation vor Ort ist immer noch katastrophal. Rund um Kahramanmaraș – Epizentrum des Bebens – ist es besonders schlimm. Ganze Stadtteile und Dörfer liegen in Schutt und Asche. Dazwischen gibt es aber auch immer wieder Orte und Häuser, die kaum beschädigt wurden. Die Rettungsarbeiten sind inzwischen eingestellt, denn es gibt keine Hoffnung mehr, noch Überlebende unter den Trümmern zu finden. Im Gespräch mit den betroffenen Menschen, die erleben mussten, wie ihre Familien unter den Trümmern zu Tode kamen und vergeblich auf Hilfe warteten, versteht man, dass die Gesellschaft kollektiv traumatisiert ist.
Was brauchen die Betroffenen jetzt?
Aktuell braucht es für die Menschen vor allem ein Dach über dem Kopf. Hunderttausende sind obdachlos geworden und bei eisigen Temperaturen stehen kaum Zelte und Notunterkünfte zur Verfügung. Es wird mindestens ein Jahr dauern, bis sich das ändert. Der Ausbruch von Epidemien aufgrund der schlechten hygienischen Situation muss verhindert werden. Langfristig braucht es wirksame medizinische und psychosoziale Unterstützung der Betroffenen, und es muss dafür gesorgt werden, dass die Zerstörung der Häuser nicht dazu genutzt wird, bevölkerungspolitische Maßnahmen gegen Kurd*innen umzusetzen.
In den ersten Tagen gab es viel Kritik daran, dass vor allem in den betroffenen kurdischen Gebieten kaum oder gar keine Hilfe ankam – wie ist es inzwischen?
Uns wurde immer wieder berichtet, dass kaum staatliche Hilfe bei den Betroffenen ankommt. Es gab viel zu wenige Rettungskräfte, um verschüttete Menschen zu bergen. Angehörige, die wussten, wo ihre Familienmitglieder unter den Trümmern verschüttet waren, mussten miterleben, wie diese starben, ohne dass Rettungsteams kamen. Insbesondere die Dörfer wurden bei den Rettungsmaßnahmen vollständig vernachlässigt. Und auch jetzt fehlt es am Nötigsten. Die Bewohner*innen der kurdischen Region sehen dies als klare Fortsetzung der jahrzehntelangen Gewalt und Diskriminierung des türkischen Staats gegen die kurdische Bevölkerung. Es gibt staatliche Hilfsmaßnahmen, doch sie sind schlecht koordiniert und bei Weitem nicht ausreichend.
Dafür hat sich eine beeindruckende solidarische Unterstützungsstruktur der kurdischen Zivilgesellschaft, aber auch darüber hinaus herausgebildet.
Im kurdischen Teil des Landes hat man viel Erfahrung damit, sich jenseits von staatlichen Strukturen solidarisch zu organisieren.
Wie funktioniert die?
Menschen haben ihre privaten Wohnungen geöffnet, und auch Restaurants oder Hotels beteiligen sich an kostenfreier Unterbringung. Aus zahlreichen Städten sind Freiwillige in das Erdbebengebiet gereist und leisten effektive Hilfe. Unter ihnen sind Einzelpersonen, aber auch verschiedene Vereine und linke Strukturen, viele davon stehen der HDP nahe. Koordiniert wird die Hilfe aus verschiedenen umliegenden Städten, insbesondere aus Diyarbakır. Die Gesellschaft ist Krisen gewöhnt und hat viel Erfahrung damit, sich jenseits von staatlichen Strukturen effektiv und solidarisch zu organisieren. Doch die zivilgesellschaftlichen Hilfsmaßnahmen werden immer wieder behindert. Anstatt die betroffene Region als Hilfsregion zu klassifizieren, wurde ein Ausnahmezustand verhängt. Laster mit Hilfsgütern wurden vom Staat beschlagnahmt. Einige Helfer*innen berichten auch, dass sie nur in die betroffenen Regionen fahren durften, wenn sie die Hilfe unter dem Label der AKP oder der staatlichen Hilfsorganisation AFAD verteilten.
Valeria Hänsel
ist Migrationsforscherin und bei medico international als Referentin für Flucht und Migration in den Regionen Osteuropa, östliches Mittelmeer und Nahost tätig.
Wie sieht es mit – auch selbstorganisierter – internationaler Hilfe aus, was habt ihr davon mitbekommen?
In Pazarcık in der Region Kahramanmaraș haben wir ein vom Erdbeben verschontes Gemeindehaus besucht, das zur zentralen Koordinierungsstelle der Hilfe vor Ort geworden ist und beeindruckende Arbeit leistete. Zahlreiche Laster mit Spenden trafen ein und wurden bedarfsorientiert und gezielt auf die umliegenden Dörfer verteilt. Viel zivilgesellschaftliche Unterstützung dort kommt auch aus Deutschland, denn viele in Deutschland lebende Menschen sind familiär eng mit den betroffenen Orten verbunden, sind dort aufgewachsen oder haben Familie vor Ort und kommen jeden Sommer zu Besuch. Sie sind angereist und übernehmen privat einen Großteil der Hilfsarbeiten. Sie kennen die umliegenden Dörfer und den Bedarf der betroffenen Menschen dort gut. Aus ganz Europa wurden Laster mit Kleidung, Essen und Zelten geschickt, die nach und nach eintreffen.
Doch gerade die Arbeit in der Verteilungsstelle in Pazarcık ist auch ein gutes Beispiel für die staatliche Behinderung der Unterstützungsmaßnahmen. Rund zehn Tage nach dem Erbeben, als sich die Hilfe gut eingespielt hatte, wurde der Ort staatlich beschlagnahmt. Militär drang in das Gelände ein und drohte den freiwilligen Helfer*innen mit Festnahmen, wenn sie die Hilfsgüter nicht übergeben und den Ort verlassen würden. Wie nun die dringend nötige Hilfe geleistet werden soll, ist unklar. Aber die Erfahrung zeigt, dass die Zivilgesellschaft immer wieder Wege findet und die betroffenen Menschen nicht im Stich lässt.
Ebenfalls viel Kritik und Wut richtet sich auf die Bauwirtschaft, die Verantwortung für die verheerenden Folgen des Erdbebens trägt. Was für Folgen zeichnen sich diesbezüglich ab?
Die mangelnde Kontrolle der Bauvorschriften und die Verwendung von Materialien, die für eine Erdbebenregion nicht geeignet sind, haben einen großen Einfluss auf das Ausmaß der Zerstörung gehabt. Einzelpersonen wurden dafür zur Verantwortung gezogen, aber ob daraus politische Konsequenzen gezogen werden, ist ungewiss. Aber auch andere Politiken haben das Ausmaß der Katastrophe und die Todeszahlen beeinflusst. Dazu gehört die Zentralisierung des staatlichen Hilfswerks AFAD und die schlechte Ausrüstung der Organisationen mit adäquater technischer Ausstattung für Rettungsoperationen. Obwohl es regelmäßig Erdbeben in der Türkei gibt, wurde an den wichtigsten Strukturen gespart. Dabei gibt es sogar eine extra Mehrwertsteuer für Erdbeben, die alle Bürger*innen der Türkei zahlen. Diese Gelder scheinen nicht ausreichend in die Katastrophenvorsorge geflossen zu sein. Ein Antrag der Oppositionspartei HDP auf eine Untersuchungskommission zum Verbleib der Erdbeben-Steuergelder wurde von der Regierung abgelehnt.
Es gab Berichte von rassistischer Stimmungsmache und teils auch heftigen Angriffen auf syrische Geflüchtete in der Erdbebenregion – wie ist diesbezüglich inzwischen die Situation und inwiefern spielt das Thema vor Ort eine Rolle?
Im Wahlkampf hat sich die rassistische Stimmung im Land massiv zugespitzt. Die Zeit, in der die Regierung syrische Geflüchtete mit offenen Armen empfangen hat, ist längst vorbei. Inzwischen überbieten sich die großen Parteien gegenseitig in anti-migrantischen Kampagnen. Insbesondere nach dem Erdbeben gab es in den Medien rassistische Hetzkampagnen und Syrer*innen wurden als Plünderer dargestellt. Die rassistische Gewalt in der Bevölkerung ist daraufhin eskaliert. Es gibt beispielsweise Berichte aus der Provinz Hatay, dass Syrer*innen brutal ermordet oder verstümmelt wurden. Zudem gab es immer wieder den Vorwurf, dass Menschen aus Syrien keine Plätze in Notunterkünften bekommen und auch nicht von der kostenfreien Unterbringung in Hotels profitieren können.
Was weißt du über die Lage in den Geflüchtetenlagern auf türkischer Seite?
Im Süden der Türkei gibt es zahlreiche sogenannte temporäre Unterbringungszentren für Syrer*innen. Dabei handelt es sich um weiträumige, mit Stacheldraht umzäunte Areale mit Wohncontainern. Die ISO-Boxen sind verhältnismäßig stabil, und die Zerstörung der Lager ist weniger gravierend als die der umliegenden Dörfer. Doch die Bedingungen in den Lagern waren schon vor dem Erdbeben sehr prekär: Anwält*innen haben kaum Zugang und Tausende Bewohner*innen warten seit Monaten erfolglos darauf, einen temporären Schutzstatus zu bekommen. Viele werden dazu gedrängt, »freiwillig« nach Syrien zurückzukehren. Dies gilt beispielsweise auch für das sogenannte Temporäre Unterbringungszentrum Kahramanmaraș, in dem circa 50.000 Menschen auf engstem Raum leben. Vor dem Lager sprachen wir mit einem Bewohner, der uns erklärte, dass die Perspektivlosigkeit der Menschen dort in Folge des Erdbebens noch größer geworden sei. Da Syrer*innen häufig daran gehindert werden, das Erdbebengebiet zu verlassen, gibt es für viele nur den Weg zurück. Der Mann erklärte uns, dass mit der Öffnung eines Grenzübergangs der Türkei nach Syrien nun tausende Menschen das Lager verlassen werden, um in eine unsichere Zukunft in das ebenso von Zerstörung gezeichnete Syrien zurückzukehren.
Im Mai finden in der Türkei Wahlen statt – was glaubst du, wie sich diese Jahrhundertkatastrophe auf den Wahlkampf auswirken könnte?
In der aktuellen Situation ist das schwierig einzuschätzen. Menschen vor Ort befürchten, dass die Wahlen verschoben oder gar ausgesetzt werden könnten. Gleichzeitig wird immer wieder betont, dass die Abwesenheit des Staates nach dem Erdbeben den Betroffenen die Augen dafür geöffnet hat, dass die Regierung ihnen nicht zur Seite steht. Viele haben verstanden, dass es die Zivilgesellschaft ist, die unermüdlich Hilfe leistet. Es bleibt abzuwarten, ob sich dies in den Wahlen niederschlägt.
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