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Eine lange Zündschnur

Rechte haben im Vereinigten Königreich auf die rassistischen Unruhen hingearbeitet, jetzt wächst der Widerstand dagegen

Von Christian Bunke

Eine Person in grünem Shirt spricht in eine Megaphon vor ihr eine große Gruppe Menschen
Aus den migrantischen Communities formiert sich Gegenprotest, hier in London. Foto: picture alliance / Photoshot |Abdullah Bailey / Avalon

In der ersten Augustwoche wurden viele Städte und Ortschaften in England und Nordirland von rassistischen Unruhen erschüttert. Von organisierten Nazis unterstützte Rassist*innen attackierten Hotels, in denen Asylsuchende untergebracht waren, mit Steinen, Flaschen und Brandsätzen. Die Fenster von Wohnhäusern, in denen Migrant*innen vermutet wurden, wurden mit Steinen eingeworfen. Von Muslimen betriebene Geschäfte wurden in Brand gesetzt, Moscheen und Büchereien attackiert. In manchen kleineren Städten wie zum Beispiel Rotherham richteten Rassist*innen »Kontrollpunkte« auf den Straßen ein, um die Insass*innen von Autos auf ihre Hautfarbe hin zu untersuchen. Menschen mit dunkler Hautfarbe wurden an solchen »Kontrollpunkten« aus ihren Autos gezerrt und verprügelt.

Anlass für diese Ausschreitungen war ein Angriff auf eine Kinderdisco in der nahe Liverpool gelegenen Stadt Southport. Auf dem Programm stand Musik der international von antifeministischen Kräften regelmäßig angefeindeten Popsängerin Taylor Swift. Hier tötete ein zur Tatzeit minderjähriger Täter drei Mädchen. Kurz darauf verbreiteten Faschist*innen in Chatgruppen das falsche Gerücht, der Täter sei ein muslimischer Asylsuchender. Die daraufhin gegründete Telegram-Gruppe »Southport Wake Up« hatte in kürzester Zeit 12.000 Mitglieder. Über diese und andere Gruppen wurden die Ausschreitungen der vergangenen Tage dezentral koordiniert.

Lokale Politiker*innen der betroffenen Städte, viele davon Sozialdemokrat*innen, machten anschließend »outside agitators« für die Unruhen verantwortlich. Demnach seien die Ausschreitungen von außen in ihre Gemeinden und Nachbarschaften hineingetragen worden, die Lokalbevölkerung sei jedoch überwiegend friedliebend eingestellt. Die neu gewählte britische Regierung und die Medien unterstützten dieses Bild: Beide versuchten zunächst, den politischen Gehalt der Unruhen herunterzuspielen und sprachen von »blinder Gewalt«, der sich eine »heldenhafte« Polizei entgegenstellen musste.

Farages Vorarbeit

Viele Faktoren haben zusammengespielt, um die rassistischen Ausschreitungen in dieser spezifischen Form zu ermöglichen. Großbritanniens extreme Rechte hat schon seit längerem darauf hingearbeitet. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder provokative Besuche rechter Livestreamer*innen in Hotels, in denen Geflüchtete untergebracht waren. Der bekannteste von ihnen war Nigel Farage. Farage, der seit den jüngsten Unterhauswahlen die rechtsextreme Reform-UK-Fraktion im britischen Unterhaus anführt, »besuchte« im Juli 2020 eine derartige Geflüchtetenunterkunft in der Nähe von Birmingham, angeblich um dort »islamistische Terrorist*innen« aufzuspüren.

Innerhalb weniger Tage entstand eine beeindruckende Selbstorganisation.

Farage war nicht alleine. Britische Medien berichten seit Jahren täglich über eine angeblich drohende »Invasion« Großbritanniens durch Millionen von Geflüchteten. Die Abwehr von Geflüchteten und die damit zusammenhängende Militarisierung des Ärmelkanals war ein Eckpfeiler der im Frühling abgewählten konservativen Regierung. Der neue Regierungschef Keir Starmer von der sozialdemokratischen Labour Party machte mit der Forderung nach einer effizienteren Abschiebepolitik Wahlkampf.

Hinzu kamen die in Großbritannien deutlich spürbaren Auswirkungen des israelischen Kriegseinsatzes im Gazastreifen. Massendemonstrationen gegen den Gazakrieg, durch welche sich vor allem junge muslimische FLINTA-Personen neu politisierten, wurden von sozialdemokratischen und konservativen Politiker*innen pauschal als »Hassmärsche« verunglimpft.

Großbritanniens extreme Rechte sprang auf den Zug auf und organisierte ihrerseits Proteste gegen angebliche »Hamas-Demonstrationen« auf britischem Boden. An einer solchen, vom Gründer der inzwischen aufgelösten rechtsextremen »English Defence League«, Stephen Yaxley-Lennon, organisierten Kundgebung in London nur wenige Tage vor Beginn der rassistischen Unruhen nahmen 20.000 Personen teil.

Das derzeitige, durch Paranoia gekennzeichnete politische Klima in Großbritannien begünstigt Verschwörungserzählungen aller Art. Das betrifft auch liberale und linke Kreise. So wird im liberalen Bildungsbürgertum verbreitet, die jüngsten Ausschreitungen seien als Versuch des russischen Staatschefs Wladimir Putin zur Destabilisierung Großbritanniens zu werten. Diese Erzählung fand inzwischen sogar Eingang in die Kommentarspalten der liberalen Tageszeitung Guardian. Manche Linke versteigen sich derweil zu der Behauptung, die Ausschreitungen seien durch den israelischen Staat herbeigeführt worden, um die Antikriegsbewegung zu schwächen.

Beide Theorien sind falsch. Die Wurzeln des hier sichtbar werdenden Rassismus liegen in der britischen Geschichte und der seit Jahrhunderten bestehenden systematischen Unterdrückung hier lebender BIPOC-Communities, wobei es sich im vorliegenden Fall vor allem um antimuslimischen Rassismus handelt. Jene Personen, die Brandsätze auf Geflüchtetenunterkünfte schmissen und sich dabei selber filmten, sie sind keine Agitator*innen von außerhalb, sondern Teil ihrer jeweiligen Nachbarschaften. Das wissen Labour-Politiker*innen wie Sarah Edwards eigentlich selbst. Die Abgeordnete für die ebenfalls von Ausschreitungen betroffene Stadt Tamworth sagte im Unterhaus: »Die Lokalbevölkerung möchte einfach ihr Hotel zurückhaben.«

Antifaschistischer Selbstschutz

Die Labour-Regierung versuchte, die Ausschreitungen zu nutzen, um eine zunehmend in die Kritik geratene Polizei zu rehabilitieren. Feministische und antirassistische Gruppen hatten in den vergangenen Jahren in verschiedenen Städten immer wieder große Demonstrationen organisiert, um durch Polizisten verübte Femizide oder rassistisch motivierte Morde und Übergriffe durch Polizeibeamte anzuprangern. Durch die jüngsten Ausschreitungen schien der Zeitpunkt gekommen, das Bild aufzupolieren. Antirassistische Proteste galt es deswegen, so klein wie möglich zu halten. Die Labour-Partei wies ihre Kommunalpolitiker*innen an, sich nicht an antirassistischen Gegenprotesten zu beteiligen, um die Polizei nicht zu behindern. Auf der Sozialdemokratie nahestehende Moscheen wurde Druck ausgeübt, muslimische Jugendliche an der Organisation von Selbstverteidigungsmaßnahmen oder der Teilnahme an Gegenprotesten zu hindern.

Glücklicherweise gibt es unter von Unterdrückung verschiedener Art betroffenen Bevölkerungsgruppen kaum noch Vertrauen in die Polizei. Innerhalb weniger Tage entstand eine beeindruckende Selbstorganisation zur Verteidigung von Moscheen, Geflüchtetenunterkünften, Sozialeinrichtungen und Stadtteilen. Unter hohem persönlichen Risiko konnten etwa in der südenglischen Hafenstadt Bristol eine Flüchtlingsunterkunft verteidigt und in der nordwestenglischen Stadt Bolton ein rechter Mob vertrieben werden. In beiden Fällen ging die Polizei gewaltsam gegen antifaschistische und migrantische Kräfte vor. Kein einziger Ort wurde in den letzten Tagen erfolgreich von der Polizei vor Übergriffen und rechter Gewalt geschützt. Zehntausende Menschen waren deshalb im ganzen Land auf der Straße, um die nötige antifaschistische Handarbeit zu leisten. Auch die Gewerkschaften rufen inzwischen dazu auf, sich an Maßnahmen zur Nachbarschaftsverteidigung zu beteiligen. Inmitten des rassistischen Chaos werden widerständige Potenziale sichtbar, die Grund zur Hoffnung liefern.

Christian Bunke

schreibt als freier Journalist über die britische Gewerkschaftsbewegung, Brexit und die zunehmenden Verfallserscheinungen des Vereinigten Königreichs.

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