Ein schlechter Traum
In Georgien wurde das »Gesetz über ausländische Agenten« nach massiven Protesten verabschiedet – mit welchem Interesse?
Am 28. Mai hat das georgische Parlament ein Veto von Präsidentin Salome Surabischwili gegen das umstrittene »Gesetz über ausländische Agenten« überstimmt. Im Vorjahr noch hatte die Regierungspartei Georgischer Traum (GT) das Gesetzesvorhaben nach Protesten wieder zurückziehen müssen. In diesem Jahr hat der Georgische Traum sein Ziel erreicht, am 1. Juni trat das Gesetz in Kraft.
Das Gesetz verpflichtet alle »nicht-unternehmerischen juristischen Personen« sowie Medienunternehmen zur Eintragung in ein staatliches Register für »Organisationen unter ausländischem Einfluss«, wenn sie mindestens 20 Prozent ihrer Finanzen aus dem Ausland beziehen. Darüber hinaus räumt es dem Justizministerium das Recht ein, jede Art von Informationen, einschließlich personenbezogener Daten, von diesen Organisationen anzufordern.
Es weist Ähnlichkeiten mit dem russischen Gesetz über ausländische Agenten von 2012 auf, obwohl das russische Gesetz viel repressiver und umfassender ist. Seit 2022 zielt es sowohl auf Organisationen wie auf Einzelpersonen; nicht nur Finanzierung aus dem Ausland begründet nun die Einstufung einer Person als »ausländischer Agent«, sondern auch weitaus vagere Kriterien wie »ausländischer Einfluss« oder »ausländische Unterstützung«. Obwohl das vom Georgischen Traum vorgelegte Gesetz nicht so weit geht, befürchten viele, dass es den Grundstein für eine solche Entwicklung legt. Das Gesetz hat daher breite Proteste ausgelöst und zu einer noch nie dagewesenen Konfrontation zwischen der georgischen Regierung und ihren wichtigsten politischen Partnern – der EU und den USA – geführt.
In diesem Text werde ich nicht näher auf die einflussreichen, vom Westen unterstützten NGOs eingehen, die in den letzten drei Jahrzehnten eine wichtige Rolle beim »neoliberalen Experiment« in Georgien gespielt haben. Stattdessen skizziere ich die Hintergründe, die Georgiens Machthaber in die Lage versetzen, trotz des immensen Drucks einen solchen Schritt zu unternehmen. Die Grundlage für die riskante Innen- und Außenpolitik der herrschenden Klasse bildet eine Kombination zweier Aspekte: des innenpolitischen Gefüges und der wachsenden geopolitischen Bedeutung des Landes.
Ein neoliberales Experiment und seine Folgen
Nach der Unabhängigkeit 1991 durchlebte Georgien, wie andere ehemalige Sowjetrepubliken, eine gravierende Transformation. Die liberale Wirtschaftspolitik und die als »Schocktherapie« bekannte Privatisierungswelle in den postsowjetischen Ländern führten zu wirtschaftlicher Rezession, einer massiven Umverteilung von unten nach oben, Hyperinflation, Korruption, dem Verfall der Industrie – und sie ließen eine neue kapitalistische Klasse entstehen. Diese Entwicklung erreichte nach der Rosenrevolution von 2003 ihren Höhepunkt. Obwohl die politische Führung wechselte, änderte sich der Entwicklungspfad des Landes nicht. Privatisierungen, der Abbau des öffentlichen Sektors, Steuersenkungen und die Liberalisierung des Handels und Arbeitsmarktes nahmen zwischen 2004 und 2012 ein solches Ausmaß an, dass sie als eines der radikalsten neoliberalen Experimente aller Zeiten bezeichnet wurden.
Obwohl die georgische Wirtschaft in den Jahren 2003–2007 und 2010–2012 wuchs, taten der damalige Präsident Micheil Saakaschwili und seine Partei Vereinte Nationale Bewegung (UNM) nichts, um die Probleme der georgischen Arbeiter*innenklasse – Arbeitslosigkeit, Armut, ungleiche Verteilung des Wohlstands und Rückständigkeit der Wirtschaft – anzugehen. Bis heute ist Georgien das Land mit der größten Ungleichheit in der Region. Überdies sind solche neoliberalen Experimente auf einen starken Repressionsapparat angewiesen. Der unter Saakaschwili geschaffene brutale Polizeiapparat war ein wichtiger Grund für den Sturz der UNM und den Sieg des Oligarchen Bidsina Iwanischwili und seiner Partei Georgischer Traum im Jahr 2012.
Seitdem hat die georgische Wirtschaft einige neue Eigenheiten entwickelt. Da wäre einmal die krasse Konzentration ökonomischer Macht. Iwanischwili, der reichste Mann des Landes, brachte die Wirtschaft unter seine Kontrolle und konsolidierte das Großkapital. Im Bank- und Finanzwesen ging dies Hand in Hand mit einer extremen Monopolisierung (über 70 Prozent des Sektors werden von zwei Banken beherrscht). Die fast einhellige Unterstützung des Gesetzes über ausländische Agenten durch die wichtigsten Kapitalisten Georgiens ist daher keine Überraschung.
Das Gesetz wird nicht nur prowestliche NGOs ins Visier nehmen, sondern bedroht alle fortschrittlichen Bewegungen in Georgien.
Zweitens kam es auch zu einer Konzentration der politischen Macht. Das politische System Georgiens ist ein liberales Mehrparteiensystem in einem Land der Peripherie, ohne echte demokratische Prozesse. Die politischen Lager repräsentieren die Interessen des nationalen oder internationalen Großkapitals – im Fall des Georgischen Traums unter dem reichsten Oligarchen des Landes. Iwanischwili ist zwar nicht mehr Vorsitzender der Partei, aber ihr einflussreicher Ehrenvorsitzender.
Dem Georgischen Traum ist es zudem gelungen, die politische Landschaft in zwei Pole zu spalten, die »gute« Regierungspartei und die »Kollektive Nationale Bewegung« – ein von den GT-Propagandisten geprägter Begriff, der sich auf die ehemalige Regierungspartei Vereinte Nationale Bewegung bezieht, die politisch abgewirtschaftet hat und nun in der Opposition sitzt. Das Ziel: Jeder Widerstand gegen ihre Politik soll als Ableger des früheren Regimes von Saakaschwili denunziert werden. Diese falsche Polarisierung und ständigen Schuldzuweisungen sind eine Bedrohung für fortschrittliche Bewegungen aller Art.
Iwanischwili und die Regierungspartei beherrschen aber nicht nur das wirtschaftliche und politische Leben im Land. Sie haben noch einen weiteren Hebel in der Hand, der in der regionalen Geopolitik zu finden ist.
An der Kreuzung zwischen Ost und West
Neue mächtige Volkswirtschaften (Indien, Brasilien) an der Peripherie des bisherigen Weltsystems und, noch wichtiger, der Aufstieg Chinas zur Supermacht führen zu gewaltigen geopolitischen Ungleichgewichten. Chinas Rolle als neues Zentrum der Kapitalakkumulation, damit verbundene Initiativen wie »Belt and Road« und die enge wirtschaftliche Verflechtung mit Europa verändern die politisch-ökonomische Landschaft des gesamten Kontinents.
Die Verschiebungen an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien steigern Georgiens geopolitische Bedeutung. Trotz diplomatischer Spannungen hat der Handel zwischen China und der EU seit 2013 stetig zugenommen. Vor dem Ukraine-Krieg wurden mehr als 80 Prozent des Landhandels zwischen Europa und China über die »Nordroute« durch Russland und Belarus abgewickelt. Der Krieg macht diese Route für den Welthandel unattraktiv. Nun wächst die Bedeutung des Südkaukasus, genauer gesagt des »Mittleren Korridors«: der kürzestmöglichen Landroute zwischen China und Europa. 2022 unterzeichneten die Türkei, Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan einen gemeinsamen »Fahrplan« für die Entwicklung des Korridors; wichtige westliche Finanzinstitutionen bekundeten ihr Interesse, das Projekt zu unterstützen. Die Entwicklung des Mittleren Korridors ist auch ein Hauptziel der chinesischen Belt and Road Initiative. Eine 2023 von China und Georgien unterzeichnete strategische Partnerschaft unterstreicht die gemeinsamen geopolitischen Interessen.
Auch die EU bemüht sich seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine verzweifelt, »den russischen fossilen Brennstoffen den Rücken zu kehren und sich in Richtung zuverlässiger Energiepartner zu diversifizieren«, um es mit den Worten von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu sagen. Die EU setzt dabei auch auf Georgien und das Schwarzmeer-Unterseekabel, das Strom durch Aserbaidschan, Georgien und das Schwarze Meer nach Europa leiten soll.
Neben der Ausnutzung der geostrategischen Lage des Landes hat die georgische Regierung ehrgeizige Pläne für eine Verdopplung der Energieproduktion. Vier große und zahlreiche kleinere Wasserkraftwerke sollen bis 2033 gebaut werden. Das größte Hindernis ist der Widerstand der örtlichen Bevölkerung. Der Bau des Wasserkraftwerks Khudoni wurde in den 1980er Jahren durch eine solche Mobilisierung gestoppt. Der umstrittene Namakhvani-Staudamm am Fluss Rioni wurde nach massiven Protesten 2022 eingestellt, es waren die größten Umweltproteste in der georgischen Geschichte.
GT-Politiker*innen erklärten wiederholt, dass das Gesetz über ausländische Agenten »die Öffentlichkeit über ausländischen Kräfte aufklären wird, die das Namakhvani-Wasserkraftwerk sabotieren wollen, um die Energiesicherheit des Landes anzugreifen«. Allerdings wurden die Rioni Valley Defenders (die lokale Basisbewegung gegen den Staudamm) weder vom Ausland finanziert, noch waren sie eine NGO. Hier lässt sich gut erkennen, dass das Gesetz nicht nur einige vom Westen unterstützte NGOs ins Visier nehmen wird, sondern alle möglichen fortschrittlichen politischen Bewegungen bedroht: von unabhängigen Gewerkschaften bis zu ökologischen Basisbewegungen, die sich transnationalen und nationalen Kapitalinteressen widersetzen.
Wozu das Gesetz?
Was sind die wichtigsten Beweggründe für das Gesetz? Spielt Moskau eine zentrale Rolle, um die EU-Integration Georgiens zu sabotieren? Und, falls diese liberale Erzählung zutrifft, driftet die georgische Regierung dann absichtlich vom Westen weg, oder tut sie es unter Drohungen des Kremls? Ist die Konfrontation mit der EU und den USA Teil des geopolitischen Spiels des größten georgischen Oligarchen, um vom Westen etwas »herauszuschlagen«? Oder ist das Hauptziel, jede Opposition gegen den Georgischen Traum zum Schweigen zu bringen?
Sicherlich gibt es nicht nur eine Erklärung. Meines Erachtens drängen sich Parallelen nicht so sehr zu Belarus auf – ein häufig gezogener Vergleich –, sondern zu Georgiens Nachbarn Aserbaidschan. Die Kontrolle der innenpolitischen Arena ermöglicht es der herrschenden Klasse dort ebenfalls, Konkurrenten zu unterdrücken und die Bildung jeder Art von Opposition zu verhindern. Gleichzeitig garantieren geopolitische Vorteile und – noch wichtiger – natürliche Ressourcen mehr oder weniger stabile Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Europa.
Es stimmt, dass prowestliche NGOs für die aktuelle politische Landschaft Georgiens mitverantwortlich sind. Dennoch müssen wir über die Kritik an den USA und der von der EU unterstützten liberalen Zivilgesellschaft hinausgehen. Außer den einflussreichen NGOs sind in Georgien bis zu 40.000 kleinere Nichtregierungsorganisationen registriert. Für viele Georgier*innen ist die Rechtsform der NGO nicht nur die einzige Möglichkeit, das ökonomische Überleben zu sichern, sondern auch für politisches Engagement im weitesten Sinne. Das Gesetz über ausländische Agenten stellt eine Bedrohung nicht nur für den NGO-Sektor, sondern für ein viel breiteres Spektrum politisch aktiver Bürger*innen dar.
Das Gesetz ist somit alles andere als ein Schritt in Richtung »Entkolonialisierung« oder »staatlicher Souveränität« (um die offizielle Propaganda zu zitieren). Viele Kommentator*innen – von der populistischen Rechten bis hin zu einigen Linken – gehen hier kaum über das Narrativ hinaus, das Bidsina Iwanischwili und den Georgischen Traum als Verteidiger »nationaler Interessen« in einem Meer »ausländischer Agenten« darstellt. Viel eher ist das Gesetz aber ein Einsatz auf internationaler Ebene, etwa um die »Entoligarchisierungs«-Agenda, die die EU mit Hilfe prowestlicher zivilgesellschaftlicher Gruppen verfolgt, zurückzudrängen. Auf nationaler Ebene ist es ein Unterdrückungsinstrument, das vor allem ein Ziel verfolgt: den Status quo zu erhalten. Souveränität bedeutet dabei nichts anderes, als das Monopol der Kapitalistenklasse über den Staat gegen nationale und internationale Bedrohungen abzusichern.
Der Text erschien in einer längeren Fassung am 30. Mai unter dem Titel »Economy, Politics and Geopolitics behind Georgia’s ›Foreign Agents Law‹« im Online-Magazin LeftEast. Übersetzung und Kürzung: Jan Ole Arps