Düstere Aussichten für die Welternährung
Der Krieg in der Ukraine führt zu Turbulenzen auf den Agrarmärkten. Sie sind eine Warnung davor, was in den nächsten Jahrzehnten verstärkt auftreten könnte
Von Eva Gelinsky
Die Ukraine ist weltgrößter Exporteur von Sonnenblumenöl, viertgrößter Exporteur von Mais und siebtgrößter Exporteur von Soja und Weizen. Was den Weizen angeht, sorgte das Land bisher für 15 Prozent der weltweiten Exporte, mit Russland gemeinsam ist es knapp ein Drittel. Massiv darauf angewiesen sind neben dem Nahen Osten vor allem nordafrikanische Länder, die gut die Hälfte ihrer Getreideimporte aus der Schwarzmeerregion beziehen. Ende Mai, Anfang Juni schwankt der Preis für Weizen an der Pariser Terminbörse um 400 Euro pro Tonne; der höchste Stand seit 14 Jahren. Einen Tag vor dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine kostete eine Tonne Weizen noch rund 287 Euro. Expert*innen warnen, dass die Steigerungen bis ins Jahr 2023 hinein anhalten könnten. Dies hätte fatale Folgen für die Bevölkerung in den Importländern und könnte humanitäre Krisen auslösen.
Länder wie der Sudan oder Äthiopien haben bereits seit Monaten mit Hunger zu kämpfen, auch viele Menschen in Mali, im Jemen oder in den Camps im Libanon, in denen sich hauptsächlich syrische Geflüchtete aufhalten, sind von Hilfslieferungen abhängig. Und bereits die Pandemie hat in vielen Ländern vor allem des Globalen Südens die Hungerkrise verschärft. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) geht inzwischen von mehr als 800 Millionen unterernährten und hungernden Menschen weltweit aus. Die aufgrund des Krieges zu erwartenden Ernteausfälle, die aktuellen Transportschwierigkeiten von Lagerbeständen und die damit verbundenen Preissteigerungen werden also in vielen Ländern eine bereits jetzt äußerst prekäre Situation weiter verschlechtern. Als Reaktion auf die Krise und die steigenden Preise wird in den westlichen Industrienationen eine Ausweitung der Produktion gefordert. Es sollen also mehr Weizen, Mais etc. produziert werden, um die ausfallenden Exporte aus der Ukraine (und Russland) zumindest teilweise kompensieren zu können. Alle Maßnahmen, die gegen die weit verbreitete Überintensivierung der Landwirtschaft ergriffen worden waren, stehen in der aufgeheizten agrarpolitischen Diskussion zur Disposition. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, könne man sich keine Ertragsreduktionen leisten, heißt es. Soll also mehr produziert werden, um weltweit den Hunger zu bekämpfen? Dieser Eindruck wird derzeit im öffentlichen Diskurs vermittelt.
Der eigentliche Zweck der kapitalistisch organisierten Agrarproduktion besteht allerdings gar nicht darin, Menschen mit ausreichend Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Versorgung findet nur dann statt, wenn sich damit möglichst hohe Profite erwirtschaften lassen. Daher stellt sich die Frage: Wozu die Mehrproduktion und wer wird davon profitieren? Und: haben die stark steigenden Preise für Agrarrohstoffe vor allem mit realen Knappheiten zu tun?
Schwankende Preise
Die herrschende (Agrar-)Ökonomie behauptet, dass sich die Preise auf den Weltmärkten vor allem über Angebot und Nachfrage bilden. Je »freier« der Markt, d.h. je weniger staatliche »Fesseln« für das Privateigentum, desto freier die Preisbildung, desto leistungsfähiger der Markt und desto mehr Wirtschaftswachstum, das letztlich allen zugutekommt. Die (auch) in der kapitalistischen Agrarwirtschaft etablierte Konkurrenz um Profite und rationelle, also möglichst kostengünstige Produktion soll, so die herrschende Vorstellung, dazu beitragen, dass auf möglichst effiziente Weise mit knappen Ressourcen Güter zur Bedürfnisbefriedigung hergestellt werden. Ist das so?
Natürlich wird der Preis für beispielsweise Weizen auch durch die Angebotsmenge – wie viel Tonnen können die weizenproduzierenden Länder dem Weltmarkt zur Verfügung stellen – und die Nachfrage bestimmt. Die aktuellen Preissteigerungen haben aber nicht nur mit den zu erwartenden Lieferausfällen der Ukraine, also einer – je nach Nachfrage – möglichen Knappheit zu tun. Es gibt weitere Gründe. So wird aufgrund steigender Energiepreise Weizen bereits seit vergangenem Herbst immer teurer. Weizen ist ein agrarindustrielles Produkt: Um möglichst viel ernten zu können, muss intensiv gedüngt werden. Für die Produktion von Stickstoffdünger wird Erdgas benötigt. Wird das Gas teurer, steigen auch die Preise für Düngemittel. Im stark mechanisierten agrarindustriellen Anbau benötigen auch die Maschinen für Aussaat, Feldbearbeitung und Ernte große Mengen an Treibstoff. Veränderungen bei den Energiepreisen können deshalb bei Weizen zu enormen Preissprüngen führen.
Aktuelle Zahlen zu den Lagerbeständen und die Prognosen verschiedener Expert*innen zur globalen Weizenernte 2021-2022 unterstreichen, dass die aktuellen Probleme nicht mit realen Knappheiten zu tun haben, sondern es an kaufkräftiger Nachfrage mangelt.
Die Weizenernte 2021 ist in Kanada und den USA aufgrund extremer Hitze und Dürre deutlich geringer ausgefallen als erwartet. Auch dies hat die Weizenpreise bereits letztes Jahr steigen lassen. Auch für 2022 sind die Ernteaussichten aufgrund der insbesondere in den USA anhaltenden Dürre verhalten bis negativ. Rund 60 Prozent der USA wurden inzwischen in eine der fünf Dürrekategorien des US-Landwirtschaftsministeriums eingestuft. Vor zwei Jahren waren es nur 31 Prozent.
Ein weiterer Grund ist der wachsende Fleischkonsum. Seit Jahren steigt die Nachfrage nach Weizen: Besonders Schwellenländer importieren immer größere Mengen. Dies hat auch mit einem veränderten Ernährungsverhalten zu tun, vor allem wird weltweit immer mehr Fleisch konsumiert (der weltweite Fleischkonsum hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt). Auch für die Produktion von Fleisch braucht es Getreide: Um ein Kilogramm Geflügelfleisch herzustellen, werden drei Kilogramm Getreide benötigt und mehr als das Doppelte für ein Kilogramm Rindfleisch. In Deutschland wird die Hälfte des geernteten Getreides für die Ernährung von Tieren genutzt.
Auch die Flächenkonkurrenz ist ein Faktor für die gestiegenen Preise: Im kapitalistisch organisierten Agrarsystem werden vor allem jene Kulturen angebaut, für die es auf dem Markt eine zahlungskräftige Nachfrage gibt. Die Konkurrenz um fruchtbare Böden, auf denen neben Mais oder Weizen für die menschliche Ernährung auch immer mehr Futtermittel und Biokraftstoffe wachsen, nimmt daher weltweit zu. Fast ein Drittel der europäischen Weizenernte wird verfüttert oder für die Biokraftstoffproduktion genutzt.
Enorme Preissteigerungen für Weizen etc. haben bereits 2007/2008 und 2010/2011 für viele Millionen Menschen Hunger und Armut gebracht. Ein damals kontrovers diskutierter Einflussfaktor sind Spekulationen an den Warenterminbörsen. Seit jeher wurden an Warenterminbörsen Vereinbarungen über künftige Rohstofflieferungen (Futures) zu festgelegten Preisen getroffen. Sie sichern Lieferant*innen wie Abnehmer*innen gegen sprunghafte Preisentwicklungen (z.B. infolge von Missernten) ab. Liegt der vereinbarte Preis zum Termin über dem aktuellen Preis, profitiert der/die Verkäufer*in, liegt er darunter, hat der/die Käufer*in einen Vorteil. Beide können auf diese Weise bereits zum Zeitpunkt des Kontraktes mit einem Preis kalkulieren. Daraus entwickelte sich in den letzten Jahren ein Geschäftsfeld für Anleger*innen und Spekulant*innen, die mit Weizen, Soja, Mais oder Reis eigentlich nichts zu tun haben. Der aktuell stark schwankende Weizenpreis geht mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls auf Spekulation zurück. Aktuelle Zahlen zu den Lagerbeständen und die Prognosen verschiedener Expert*innen zur globalen Weizenernte 2021-2022 – die FAO schätzt, dass die Weizenproduktion nur geringfügig von 776,6 Millionen Tonnen (2020-2021) auf 776,5 Millionen Tonnen sinken wird – unterstreichen, dass die aktuellen Probleme nicht mit realen Knappheiten zu tun haben, sondern es an kaufkräftiger Nachfrage mangelt. Mit Leid und Hunger, dies zeigt auch die aktuelle Krise, lässt sich im Kapitalismus also viel Geld verdienen.
Und schließlich sind Exportbeschränkungen als Faktor für die hohen Preise zu nennen: Noch im April wollte Indien seine Ausfuhr von Weizen erhöhen, um von den hohen Preisen zu profitieren. Die extreme Hitze in Pakistan und Indien (siehe ak 682) hat jedoch auch deren Kornkammern getroffen. Um die Eigenversorgung zu sichern, hat Indien daher Mitte Mai ein Exportverbot für Weizen erlassen. Auch wenn der Ausfuhrstopp inzwischen etwas gelockert wurde; je länger die Krise andauern wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass weitere Länder Exportbeschränkungen durchsetzen werden. Dies wird die Preise weiter steigen lassen.
Die Preisbildung auf den Weltagrarmärkten ist also nicht nur im Bereich der Börsenspekulation eine hoch volatile Angelegenheit. Noch lange vor der realen Ernte, geben Händler*innen, Analyst*innen, Banken und Hedgefonds, ausgehend von ihren Erwartungen bezüglich der Preisentwicklung, dessen weitere Richtung vor. Externe Störungen wie klimabedingte Ernteausfälle oder politische Unruhen und – wie bereits gezeigt – relevante Einflussgrößen wie die Energiepreise, führen dabei immer wieder zu starken Preisschwankungen.
Folgen der Krise im Globalen Süden
Während in den Ländern des Globalen Nordens die Kosten für Nahrungsmittel rund 14 Prozent der Gesamtausgaben pro Haushalt ausmachen, müssen Menschen im subsaharischen Afrika 60 Prozent des durchschnittlich verfügbaren Einkommens nur für ihre Ernährung aufbringen. Besonders betroffen von der aktuellen Krise sind nun erneut jene Länder, die Nettoimporteure von Nahrungsmitteln sind. Bei hohen Preisen versuchen sie in der Regel, den Brotpreis zu stützen. Wie lange Länder wie der Senegal oder Ägypten dies finanziell durchhalten, ist unklar. Viele haben noch mit den Folgen der Coronakrise zu kämpfen. Nun werden sie vielleicht neue Kredite aufnehmen müssen; die Schuldenlast steigt damit weiter.
Doch warum sind so viele Länder des Globalen Südens auf Nahrungsmittelimporte angewiesen? Haben sie keine eigene Landwirtschaft, die zumindest einen gewissen Grundbedarf an Nahrungsmitteln produzieren könnte? Ab den 1980/90er Jahren zwangen der Internationale Währungsfonds und die Weltbank die verschuldeten Länder des Globalen Südens, ihre Zölle und die staatliche Agrarförderung abzubauen sowie die Agrarmärkte zu deregulieren. Sie sollten billige Lebensmittel vom Weltmarkt importieren. Das permanente Überangebot subventionierter Agrarprodukte aus den Industrieländern drückte die Preise. Internationale Geldgeber und nationale Regierungen gaben den Ländern Anreize für den Anbau von Cash Crops, also Exportware (wie Kaffee, Bananen etc.). Die Folge: Viele Länder des Globalen Südens wurden von Selbstversorgern zu abhängigen Nahrungsmittelimporteuren. Auch der Weizen konnte sich als Grundnahrungsmittel erst durch die hochsubventionierte Landwirtschaft der Industrieländer und durch die Kolonialisierung durchsetzen, der Anbau heimischer Nahrungspflanzen wie Hirse, Sorghum oder verschiedene Hülsenfrüchte wurde dagegen vielerorts aufgegeben.
Der derzeit wieder forcierte Produktivismus wird die Bodendegradation noch beschleunigen.
Könnten akute Nahrungskrisen nicht durch Lieferungen von Hilfsorganisationen wie dem WFP zumindest abgemildert werden? Zunächst gibt es das Problem, dass das WFP seit Jahren chronisch unterfinanziert ist. Anstatt einer soliden Grundfinanzierung kann das Welternährungsprogramm nur projektgebunden arbeiten – und selbst hier fehlt es immer wieder am Nötigsten; aktuell gerade auch in besonders von Hunger und Armut betroffenen Ländern wie dem Jemen. Und grundsätzlich gilt: Wenn der Weizenpreis steigt, schwinden auch die Möglichkeiten der Nahrungsmittelhilfe. Die Länder des Nordens sind vor allem dann großzügig, wenn sie Überschüsse verzeichnen und die Preise auf den Agrarmärkten eher tief sind. Sobald die Preise steigen, werden die Lagerbestände nur noch an jene Kund*innen und Länder verkauft, die entsprechend bezahlen können. Egal wie groß das Elend ist, im Kapitalismus zählt eben nur die zahlungskräftige Nachfrage. Bei der derzeit propagierten Ausweitung und Intensivierung der Agrarproduktion in den reichen Ländern des Nordens geht es also mitnichten um eine Bekämpfung des Hungers. Primär gilt es, die eigene Versorgung sicherzustellen und die Produktionskosten – z. B. für die Fleischindustrie – möglichst tief zu halten.
Der Krieg in der Ukraine und die durch ihn ausgelösten Turbulenzen auf dem Weltagrarmarkt zeigen – nach den Nahrungsmittelpreiskrisen 2007/2008 und 2010/2011 – einerseits erneut, dass Gewinne in diesem System wichtiger sind als die Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln. Andererseits sind sie eine Warnung davor, was in den nächsten Jahrzehnten auf uns zukommen könnte. Die Klimakrise wird zu weiteren Missernten und Produktionsausfällen führen, der derzeit wieder forcierte Produktivismus wird die Bodendegradation noch beschleunigen. Die absehbaren Folgen werden Unruhen und Proteste, verschärfte Boden- und Wasserkonflikte und eine weiter wachsende Migration sein. Und womöglich auch – wie die Vergangenheit und die Gegenwart lehren – zahllose neue Interventionen durch imperiale oder auch regionale Mächte.