Droht eine neue Eurokrise?
Von Stephan Kaufmann
Im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine hat Bundeskanzler Olaf Scholz eine »Zeitenwende« ausgerufen, aus der er einen »Handlungsauftrag« ableitet: »Wir müssen Deutschland sicherer und widerstandsfähiger machen, die Europäische Union souveräner und die internationale Ordnung zukunftsfester.« Europas »wichtigste Antwort« auf die Zeitenwende, so Scholz, laute »Geschlossenheit«. Die ist allerdings gar nicht so einfach herzustellen, handelt es sich bei »Europa« doch um eine Ansammlung von Kapitalstandorten, die in ökonomischer Konkurrenz zueinander stehen, die die Länder in relative Gewinner und Verlierer teilt. Dieser ökonomischen Spaltung nimmt sich die EU nun an. Aber nicht, indem sie die Spaltung überwindet, sondern indem sie sie haltbar macht.
Aufgrund von Lieferengpässen, Rohstoffknappheit und Krieg rutscht die globale Wirtschaft langsam in ihre nächste Krise. Die Inflation erklimmt neue Höhen. Das schafft zum einen soziale Probleme insbesondere für die Lohnabhängigen, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Zum anderen bringt die Entwertung des Euro Betriebskalkulationen durcheinander, sorgt für Verluste bei Finanzanlagen und schadet tendenziell dem Kapitalstandort Eurozone. Um die Inflation zu bekämpfen, hat die Europäische Zentralbank (EZB) damit begonnen, die Zinsen zu erhöhen. Das Ziel: Höhere Zinsen bedeuten teurere Kredite, das wiederum soll die gesellschaftliche Zahlungsfähigkeit drücken, es kommt zur »demand destruction«, also zu einem Rückgang der zahlungsfähigen Nachfrage. In der Folge haben die Unternehmen weniger Spielraum für Preiserhöhungen – die Inflation sinkt. So der Plan.
Mit steigenden Zinsen sorgt die Zentralbank also tendenziell für eine Schwächung der Wirtschaft inklusive Pleiten und höherer Arbeitslosigkeit – so soll der Wert des Euro gegen die Bedürfnisse derer geschützt werden, die mit ihm Einkaufen gehen müssen. Ein Ausgleich der Preiserhöhungen durch entsprechende Lohnerhöhungen, so wird gewarnt, würde die Inflation nur anheizen und dem Geldwert schaden. Die »Zeitenwende« fordert Verzicht.
Mit steigenden Zinsen sorgt die Zentralbank also tendenziell für eine Schwächung der Wirtschaft inklusive Pleiten und höherer Arbeitslosigkeit.
Im Zuge der Zinserhöhung wird nun vor einer »Fragmentierung« der Eurozone gewarnt. Das bedeutet: Da die Mitglieder der Währungsunion aus Sicht der Finanzmärkte von unterschiedlicher Kreditwürdigkeit sind, könnte es dazu kommen, dass sich die Währungsunion teilt in »starke« Länder wie Deutschland, die weiter zu günstigen Zinsen Kredite erhalten; und in »schwache« Länder wie Italien, wo die Zinsen in die Höhe gehen – ähnlich wie vor zehn Jahren, als steigende Zinsen im höher verschuldeten Süden Europas die Währungsunion zu zerstören drohten. Mit einer solchen »Fragmentierung« wäre die gewünschte »Geschlossenheit« Europas dahin.
Um dem zu begegnen, wird nun nicht versucht, die ökonomischen und sozialen Unterschiede innerhalb Europas zu nivellieren – das würde den reichen Norden zu viel Geld kosten. Stattdessen hat die EZB ein Programm aufgelegt:
Im Notfall kann sie Schuldscheine von Eurostaaten aufkaufen, um die Zinsen zu drücken. Kurz: Wohin sich die Zinsen bewegen, überlässt man nicht allein der Finanzspekulation – insbesondere nicht in Zeiten, in denen das geopolitische Ringen um Einfluss weitere Schuldenaufnahmen nötig machen könnte. Schließlich ist der Zugang zum Kredit der Finanzmärkte für Staaten ein entscheidendes Mittel in der Konkurrenz – weswegen er Russland per Finanzsanktionen auch gesperrt worden ist.
Die wichtigste Aufgabe der EZB ist jetzt, ein Anker der Stabilität im Euroraum zu sein und somit eine noch tiefere Krise zu verhindern, meldet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Wen dieser »Anker« sichern soll, ist kein Geheimnis: Italien, Euro-Gründungsmitglied und Schwergewicht der Währungsunion. Als angreifbar gilt das Land nicht nur aufgrund seiner hohen Schulden, sondern auch wegen der Politik: Ende Juli stufte die Ratingagentur S&P die Kreditwürdigkeit Italiens wegen des Rücktritts von Ministerpräsident Mario Draghi herab, es drohe »eine längere Phase der Unsicherheit«.
Umsonst wird es EZB-Hilfen für Italien aber nicht geben, sie sind an Bedingungen gebunden. So muss ein Land die europäischen Schuldenregeln befolgen, muss »fiskalische Nachhaltigkeit« sowie eine »nachhaltige« Wirtschaftspolitik vorweisen. So dient die EZB zum einen als finanzielles Disziplinierungsinstrument und schützt das ökonomisch gespaltene Europa vor einer neuen Krise, die insbesondere Deutschland nicht brauchen kann. Denn, so SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil, »Deutschland kann nur stark sein, wenn Europa stark ist«.