Drohnenangriffe und Bulldozer
Die Gewalt in der Westbank eskaliert, die rechtsradikale israelische Regierung gießt Öl ins Feuer
Große Teile des Geflüchtetencamps in Jenin sind immer noch zerstört. Anfang Juli hat die israelische Armee hier die bisher größte Militäroperation in der Westbank in den besetzten palästinensischen Gebieten seit 20 Jahren initiiert. Bei Angriffen aus der Luft und am Boden wurden in einem fast zweitägigen Einsatz mindestens zwölf Palästinenser*innen getötet, Hunderte wurden verletzt oder festgenommen. Nach Angaben des israelischen Militärs kam auch ein israelischer Soldat ums Leben. Erklärtes Ziel der Operation: die Zerschlagung terroristischer Infrastruktur. Die israelische Regierung kündigte an, in Zukunft verstärkt auf großangelegte Militäroperationen wie diese zu setzen.
Seit Anfang des Jahres war es alles andere als ruhig im Norden der besetzten palästinensischen Gebiete der Westbank. Vor allem das Geflüchtetencamp in Jenin, wo etwa 15.000 Menschen leben, geriet immer wieder unter Beschuss. In der neuen Camp-Normalität werden ein paar Tage ohne Militäroperation als Erfolg betrachtet, eine Woche ohne wird immer mehr zur Ausnahme. Gemeinsam mit Nablus gilt Jenin als Hochburg militanter palästinensischer Gruppen.
Die neue Regierung trägt mit ihrer Rhetorik zur Radikalisierung der Siedler*innenbewegung bei.
Für viele Palästinenser*innen sind die beiden Städte zu Symbolen des Widerstandes geworden. Wenn die Israeli Defence Forces (IDF) in Nablus oder Jenin ihre nächtlichen Operationen durchführen, rechnen sie mit Gegenwehr. Die Streitkräfte sehen sich dabei sowohl mit Jugendlichen konfrontiert, die Steine auf gepanzerte Fahrzeuge schmeißen, als auch mit organisierten militanten Gruppen, ausgerüstet mit selbstgebauten Sprengsätzen und Waffen. Angesichts der verschärften Situation erfahren die militanten Gruppen zunehmend Unterstützung in der palästinensischen Bevölkerung. Immer mehr junge Menschen schließen sich ihnen an. Gerade in den Geflüchtetencamps gibt es einen großen Zulauf. Anschläge auf israelische Siedler*innen, die es in den letzten Monaten immer wieder gab, wurden oft in der Gegend um Jenin verübt bzw. Angaben des Militärs zufolge von dort initiiert.
Militäroperationen und Siedler*innengewalt
Dass gerade Jenins Camp Ziel der größten Militäroperation seit der zweiten Intifada wurde, ist kaum verwunderlich. Gerüchte über die Planung eines solchen großangelegten Einsatzes gab es schon länger, doch das Ausmaß und die Härte der sogenannten Home-and-Garden-Operation kam dennoch überraschend. Die Operation mit dem idyllisch anmutenden Namen hat bei Palästinenser*innen, die Zeuge der letzten Intifada waren, traumatische Erinnerungen geweckt. Fast 48 Stunden dauerte der Einsatz der IDF an, mit Drohnen, Explosionen, Bulldozern, die die Infrastruktur des Camps zerstörten. Mehrere Tausend Menschen waren zwischenzeitlich gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen. Vor allem die Luftangriffe haben viele überrascht. Diese hat es in der Westbank seit mehr als 20 Jahren nicht mehr gegeben.
Der Großteil der Getöteten und Verletzten ist jung, viele noch minderjährig. Während das israelische Militär versicherte, dass ausschließlich militärische Infrastruktur angegriffen wurde, berichteten Ärzte ohne Grenzen von Tränengasangriffen auf das örtliche Krankenhaus, das nicht weit vom Camp entfernt liegt und in dem viele Menschen Schutz gesucht hatten. Zum Camp selbst war der Zugang für medizinisches Personal zwischenzeitlich nur eingeschränkt möglich. Auch palästinensische Journalist*innen gerieten unter Beschuss.
Die Militäroperation in Jenin ist der bisherige Höhepunkt einer Zuspitzung der Situation, seitdem die neue rechtsextreme Netanjahu-Regierung letzten Dezember die israelischen Wahlen gewonnen hat. Seit Beginn des Jahres sind mehr als 200 Palästinenser*innen und 20 Israelis getötet worden. Nicht nur tödliche Militäreinsätze häufen sich. Auch die Bewegungseinschränkungen für Palästinenser*innen haben zugenommen. Immer öfter gibt es Berichte über Mobs israelischer Siedler*innen, die durch palästinensische Gebiete ziehen, Häuser und Autos in Brand setzen und scheinbar willkürlich Palästinenser*innen angreifen. Häufig werden die Siedler*innen dabei von der Armee geschützt oder unterstützt. Erst vor wenigen Wochen wurde ein 27-jähriger Palästinenser bei einem Angriff durch Siedler*innen getötet. Konsequenzen gibt es meist keine. Über 90 Prozent aller Verfahren gegen Siedler*innen werden eingestellt.
Die neue Regierung Netanjahu trägt sowohl mit ihren politischen Zielen als auch mit ihrer Rhetorik zur Radikalisierung der Siedler*innenbewegung bei. In den Koalitionsverhandlungen einigen sich die Regierungsparteien auf das »alleinige und unveräußerliche Recht des jüdischen Volkes auf alle Gebiete des Landes Israels«. Dahinter steht die Absicht einer de facto Annexion der Westbank.
Einige Minister*innen sind besonders fanatische Anhänger*innen dieser Politik. Da wäre zunächst Itamar Ben-Gvir (Otzma Jehudit-Partei, deutsch: Stärke für Israel), Minister für nationale Sicherheit und damit unter anderem verantwortlich für die Kontrolle der israelischen Polizei. Er und Bezalel Smotrich, der israelische Finanzminister (Ha-Ichud HaLeumi – Tkuma- Partei, deutsch: Nationale Union – Wiedergeburt), waren beide aktiv bei der Hilltop Youth, einer Gruppe, bestehend aus militanten religiös-nationalistischen Jugendlichen aus der Siedler*innenbewegung, die vor allem ihren Hass gegen Palästinenser*innen und die Idee eines exklusiv-jüdischen Staates propagiert. Für sie gehört auch die besetzte Westbank dazu.
Sichtbare gesellschaftliche Spaltung
Erst vor kurzem erhielt Smotrich die Befugnisse über alle »zivilen Angelegenheiten im Westjordanland«. Damit ist er jetzt für die israelischen Siedlungen in der Westbank zuständig. Sogleich folgte die Ankündigung, den Bau der Siedlungen in der Westbank massiv voranzutreiben und zu fördern. Aus seiner Vision für die Westbank macht Smotrich kein Geheimnis. In seinem »Decisive Plan« ist eine vollständige Annexion der Westbank durch den Bau von Siedlungen klar formuliert: »Victory through settlement«. Es macht sich bemerkbar: Laut der israelischen NGO Peace Now wurden seit Jahresbeginn Baugenehmigungen und Kredite für 12.855 Wohneinheiten erteilt, 4.560 neue Wohneinheiten sind derzeit konkret in Planung – so viele wie noch nie in einer so kurzen Zeit. Menschenrechtsorganisationen werfen Israel vor, damit einen weiteren Schritt in Richtung einer de facto Annexion der Westbank zu gehen. Zugenommen hat auch die Errichtung illegaler Außenposten durch Siedler*innen. Mit Zelten, Flaggen und meist bewaffnet besetzen Siedler*innen immer häufiger palästinensisches Land. Geschützt von der Armee schaffen sie Tatsachen und setzen darauf, dass die Außenposten rückwirkend legalisiert werden.
Vor diesem Hintergrund erscheint es fast ironisch, dass sich nun Teile des Militärs und israelische Minister*innen von militanten Siedler*innen distanzieren und sie sogar als »Terrorist*innen« bezeichnen. Hinter diesem rhetorischen Twist lässt sich eine gewisse Strategie erkennen. So sind die Bilder von Siedler*innen, die palästinensische Häuser anzünden, natürlich nicht gut für das Image Israels. Letztlich zeigt sich in diesen Stimmen aber auch die interne Spaltung der Regierung und die Sorge, das Gewaltmonopol zu verlieren. So ist es zwar politisches Ziel, mehr Land zu annektieren, aber die Kontrolle über dieses Gebiet soll langfristig bei Israel selbst liegen, nicht bei den Siedler*innen. Auch wenn sie gebraucht werden, um Tatsachen bei der praktischen Landgewinnung zu schaffen. Hinzu kommt, dass die zunehmende gesellschaftliche Spaltung bei diesen Diskursen sicherlich auch eine Rolle spielt. Grade die Justizreform hat hier bereits vorhandene Risse in der israelischen Gesellschaft weiter vertieft. Das spiegelt sich auch in der Regierung und in Apparaten wie dem Militär wider.
Militäreinsätze, Siedler*innengewalt, Siedlungsbau und Hassreden: Die neue Regierung eskaliert die Situation in den besetzten Gebieten. Und doch ist all das nicht so neu, wie es oft dargestellt wird. Weder die Unterdrückung von noch die Gewalt gegen Palästinenser*innen hat erst diesen Januar begonnen. Stattdessen muss die aktuelle Entwicklung als Teil einer umfassenderen Politik begriffen werden, die in Smotrich’s »Decisive Plan« formuliert ist. Der Rechtsruck Israels steht in einer Kontinuität der Unterdrückung von Palästinenser*innen in der besetzten Westbank. Man kommt nicht umhin, sich in diesem Kontext mit dem Konzept von Siedlungskolonialismus auseinanderzusetzen.