analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 710 | International

Die Weichen auf Dynastie gestellt

In Nicaragua will das Duo Rosario Murillo und Daniel Ortega mittels einer Verfassungsänderung seine Macht festigen

Von Knut Henkel

Daniel Ortega schüttelt die Hände der Taiwanesischen Präsidentin Tsai Ing-wen. Rosario Murillo steht hinter ihm und lächelt.
Rollentausch: Rosario Murillo führt heute de Facto die Regierungsgeschäfte, Daniel Ortega hält sich im Hintergrund. Der Regierungsstil bleibt gleich autoritär. Foto: Taiwan Presidential Office / Flickr , Taiwan Presidential Office

Lucía Pineda ist eine von Dutzenden von Journalist*innen, die Nicaragua verlassen mussten und auf eine Rückkehr hoffen. Doch die wird zunehmend unrealistischer. Pineda baute 2019 gemeinsam mit Miguel Mora nach ihrer Freilassung aus der Haft das Nachrichtenportal 100%Noticias in Costa Ricas Hauptstadt San José neu auf.

Ursprünglich ein Sender, beschäftigte 100%Noticias 60 Mitarbeiter*innen, heute ist es ein Online-Nachrichtenportal mit 19 Kolleg*innen.

Lucía Pineda erinnert sich noch genau an den 21. Dezember 2018, als Polizei und paramilitärische Gruppen die Redaktion in der Avenida Bolívar in Managua quasi übernahmen. Sie berichtete damals live, wurde wenig später wegen »der Verbreitung von Gewalt und Hass« verhaftet und ein halbes Jahr später freigelassen und nach Costa Rica ausgewiesen. Das Redaktionsgebäude in der Avenida Bolívar war zu diesem Zeitpunkt bereits an den staatlichen Sender Canal 15 Nicaragüense übergegangen, wo es bis heute seinen Sitz hat. Lucía Pineda und Miguel Mora, die gemeinsam inhaftiert und auch wieder freigelassen wurden, begannen mit einer Handvoll Kolleg*innen in Costa Ricas Hauptstadt San José wieder von vorne. Mithilfe von Entwicklungsorganisationen wie USAID bauten sie in wenigen Monaten die nötige Infrastruktur von 100%Noticias wieder auf – wenn auch deutlich kleiner. Für ihre Arbeit erhielt sie im November den Menschenrechtspreis der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, den sie in Berlin entgegennahm.

Auf dem Weg in ein totalitäres Nicaragua

Heute berichtet Pineda mit den Kolleg*innen aus San José gemeinsam über alles, was in Nicaragua und der Region passiert. Ihre Berichte würden in Managua, León und anderen Städten Nicaraguas gelesen, und das sei möglich, weil es bei 100%Noticias keine Paywall gebe, so Pineda. Derzeit beschäftigt die Redaktion, die bis heute über viele Quellen in Nicaragua verfügt, vor allem eine geplante Verfassungsänderung, die am 22. November bekannt gegeben wurde. Pineda hat keinen Zweifel daran, dass das Diktatoren-Duo Rosario Murillo und Daniel Ortega mit der Verfassungsänderung versucht, seine Macht zu institutionalisieren. »Das Duo Daniel Ortega und Rosario Murillo stellt die Weichen auf die dynastische Nachfolge und die Umstellung auf eine Doppelspitze, eine Ko-Präsidentschaft ist Teil davon«, so die 51-jährige Redakteurin gegenüber ak.

Diese Einschätzung teilt auch Jan-Michael Simon, Vorsitzender der UN-Expert*innengruppe zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua. Die vom UN-Menschenrechtsrat einberufene Gruppe erstattet regelmäßig Bericht und legte Ende November ihre Stellungnahme zur Verfassungsnovellierung vor. Die sei, so die dreiköpfige Expert*innengruppe, die zwölfte seit der Wahl von Daniel Ortega zum Präsidenten des Landes im Jahr 2007 und strebe die Legalisierung und Festigung der uneingeschränkten Macht der amtierenden Regierung an, heißt es da.

Drei Tage benötigten die zuständigen Stellen in Nicaragua, um die mehr als einhundert Änderungen in den Artikeln der Verfassung vorzunehmen, um den Wünschen des Präsidentenpaares nachzukommen. Diese Änderungen sollen die Verfassung an die Realität anpassen – nämlich, dass laut vielen Expert*innen Murillo faktisch die Regierungsgeschäfte führt. Der vermutlich schwer kranke Ortega hält sich im Hintergrund. Mit dem Upgrade von Rosario Murillo zur Ko-Präsidentin wird dem Rechnung getragen, zudem wird dadurch die Amtszeit des Paares Ortega-Murillo um ein Jahr verlängert. Gleichzeitig baut das Diktator*innenpaar mit Laureano Ortega Murillo einen potenziellen Nachfolger auf. Der Sohn des Paares wird immer sichtbarer und übernimmt erste Funktionen seines Vaters. So fungiert er zum Beispiel als »spezieller Repräsentant« der Regierungspartei FSLN und empfing Parteidelegationen aus China und anderen Ländern.

Aushebelung der Institutionen

Mit der Verfassungsänderung hat das Duo an der Spitze der Familie Ortega-Murillo zudem ihre Macht weiter ausgebaut: »Die Verfassungsreform sieht vor, dass alle Grundrechte während eines Ausnahmezustands außer Kraft gesetzt werden können«, kritisiert das UN-Expert*innentrio. Obendrein werde das Verbot der Medienzensur aufgehoben und die Hürden für Militärinterventionen innerhalb Nicaraguas gesenkt. Fortan müsse die Regierung lediglich die Armee anfragen, wenn die »Stabilität« des Landes es verlange, so die Analyse der UN-Expert*innen.

Für Jan-Michael Simon, den Vorsitzender der Gruppe, ist die Verfassungsnovelle nichts weniger als der Versuch, die totalitäre Herrschaft des Duos zu institutionalisieren – ihrer Macht sind keine Grenzen gesetzt. Die in der Praxis längst aufgehobene Unabhängigkeit der Gewalten und ihre Aufgabe, sich gegenseitig zu kontrollieren, werde in der Verfassungsnovelle quasi zementiert – unter anderem durch unkonkrete Formulierungen.

Daher müsse die internationale Gemeinschaft die nicaraguanische Regierung dazu drängen, die Trennung der Gewalten und andere demokratische Prinzipien wiederherzustellen, so die Empfehlung der Gruppe. Diese dürfte alles andere als leicht umzusetzen sein, denn die internationalen Sanktionen gegen das Ehepaar Ortega-Murillo greifen nur begrenzt, so Juan Carlos Arce vom Colectivo Nicaragua Nunca Más, derzeit die vielleicht bekannteste Menschenrechtsorganisation im Exil mit Sitz in Costa Rica.

Das belegen auch die Verbotswellen von zivilgesellschaftlichen Organisationen. »Seit der Niederschlagung der Student*innenproteste im Frühjahr 2018 wurden in Nicaragua mehr als 3.600 Parteien, Vereine und Nichtregierungsorganisationen verboten. Mitte August 2024 sind weitere 1.500 NGOs geschlossen worden, am 22. August weitere 151 und am 30. August noch einmal 169  – darunter etliche kirchliche Organisationen«, so Arce gegenüber ak. »Das ist beispiellos in der gesamten Region. Derzeit versucht das Ehepaar Ortega-Murillo, den Kirchen die Luft zum Atmen zu nehmen.«

Erst Mitte November wurde Bischof Enrique Herrera nach Guatemala ausgewiesen. Kein Einzelfall, so die Menschenrechtsorganisation Colectivo Nicaragua Nunca Más. In einer Studie berichtet sie, dass 74 religiöse Repräsentanten, meist Pfarrer, festgenommen wurden. 63 von ihnen wurden abgeschoben, 35 davon wiederum ausgebürgert und verloren somit ihre Nationalität.

Der Angriff auf die Kirchen, vor allem die katholische, steht im Zusammenhang mit den Student*innenprotesten vom Frühjahr 2018. Laut Menschenrechtsorganisationen kamen damals 355 Menschen ums Leben, und es wären mehr geworden, wenn Pfarrer nicht die Tore ihrer Kirchen geöffnet, Kirchenasyl, Verpflegung und zum Teil auch finanzielle Hilfe angeboten hätten. Für das Diktatorenduo ist die katholische Kirche seitdem ein Widersacher, obwohl das lange anders war. 2006 hatte Daniel Ortega den Schulterschluss mit der katholischen Kirche probiert, sich als gottesfürchtiger Kandidat präsentiert und ein extrem rigides Abtreibungsgesetz mit den Stimmen der regierenden Sandinisten durchgewunken.

Insgesamt sind seit der blutigen Niederschlagung der Studierendenproteste 2018 mehr als 5.500 Parteien und Vereine verboten worden.

Heute ist der Vatikan laut Ortega Teil eines »faschistischen Konglomerats« gegen das die Sicherheitskräfte vorgehen. Selbst kirchliches Leben außerhalb der Gotteshäuser wird unter allerhand Vorwänden unterbunden, religiöse Organisationen wie die der Jesuiten wurden neben vielen anderen oft weniger bekannten kirchlichen Organisationen verboten. Insgesamt sind seit der blutigen Niederschlagung der Student*innenproteste im Frühjahr 2018 in Nicaragua mehr als 5.500 Parteien, Vereine und Nichtregierungsorganisationen verboten worden – darunter Hunderte mit kirchlichem Hintergrund.

Außerdem wurden 450 Menschen ausgebürgert, darunter auch Lucía Pineda. Da sie jedoch auch eine costa-ricanische Staatsbürgerschaft und mittlerweile auch eine spanische hat, war das »nur« emotional ein Problem. »Andere Leute sind staatenlos, das ist ein Drama«, so die Journalistin. Sie hofft, irgendwann wieder für 100%Noticias in Managua arbeiten zu dürfen und ihr beschlagnahmtes Haus zurückzubekommen. Klar ist ihr aber auch, dass das dauern kann. Das Ko-Präsidentenduo sitzt so fest im Sattel wie noch nie.

Knut Henkel

ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist in und über Lateinamerika.