Die Völkischen in der AfD kurz vor dem Sieg
Im Machtkampf der Partei erstarkt der vermeintlich aufgelöste »Flügel«. Für die Marktradikalen um Jörg Meuthen könnte dies das Ende bedeuten
Von Tobias Segat
Hatte der Ehrenvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, nach der letzten Bundestagswahl noch siegestrunken in Richtung von Kanzlerin Merkel (»Wir werden sie jagen«) zur Waid gerufen, so drängt sich nicht erst in letzter Zeit der Eindruck auf, dass die freudige Treibjagd derzeit vorrangig in den eigenen Reihen stattfindet. Bisherige prominente Jagdopfer: der frühere Parteisprecher Bernd Lucke und seine Nachfolgerin Frauke Petry. Ist nun auch Jörg Meuthen zum Abschuss freigegeben?
Mit dem schon fast in einer Nacht-und-Nebelaktion durchgeführten Rauswurf des exponierten »Flügel«-Vertreters und erfolgreichen Brandenburger AfD-Landeschefs Andreas Kalbitz haben Parteichef Meuthen und seine Getreuen den innerparteilichen Machtkampf massiv eskaliert. Kalbitz Rauswurf ist heikel: So kann er nicht nur rund 7.000 Mitglieder der AfD zu seinen Verbündeten zählen, die dem vermeintlich aufgelösten »Flügel« zuzurechnen sind, sondern auch die gesamte Führungsriege der erfolgreichen Ost-Landesverbände. Diese konnten bei den vergangenen Landtagswahlen allesamt deutlich mehr als 20 Prozent der Stimmen einfahren. Dem gegenüber steht Meuthen mit seiner westdeutsch geprägten, nationalistisch-marktradikalen Strömung vergleichsweise schlecht da. Mit Ausnahme Bayerns und Hessens landeten diese bei Landtagswahlen oft deutlich unter zehn Prozent. Keine gute Ausgangslage für eine Machtprobe, möchte man meinen.
Seit dem Rauswurf von Kalbitz rumort es gewaltig in der Partei. Dies zeigte sich etwa am 25. September in Kiel, als die AfD im schleswig-holsteinischen Landtag ihren Fraktionsstatus verlor, nachdem der Abgeordnete Frank Brodehl seinen Parteiaustritt bekannt gab. Zur Begründung gab er an, das Nazivokabular und der völkisch-nationale Grundton seien ihm zu viel geworden. Der Einfluss der »Flügel«-Frau Doris von Sayn-Wittgenstein habe nicht ab, sondern sogar zugenommen. Das überrascht, schließlich wurde sie bereits 2018 aus der AfD-Fraktion ausgeschlossen und 2019 sogar aus der Gesamtpartei geworfen. In Niedersachsen baute der offiziell aufgelöste »Flügel« ganz offen seine Macht aus. Mitte September unterlag Dana Guth, die eher dem Meuthen-Lager zuzurechnen ist, ihrem Kontrahenten Jens Kestner vom völkisch-nationalistischen »Flügel« in der Wahl um den Landesvorsitz. Guth verließ daraufhin mit zwei weiteren Abgeordneten die Fraktion, die infolgedessen ebenfalls ihren Fraktionsstatus verlor.
Dass Parteiausschlüsse von »Flügelgetreuen« nicht für die Ewigkeit gemacht sind und sowohl Kalbitz als auch von Sayn-Wittgenstein gute Chancen auf eine zweite politische Karriere haben, verdeutlicht eine politische Wiedergeburt in Sachsen-Anhalt: Erst im August war »Flügel«-Mann Frank Pasemann auf Antrag seines Landesverbandes aus der Partei geworfen worden – am 10. Oktober wurde er jedoch einstimmig zum Direktkandidaten für die Bundestagswahl auserkoren, wie der AfD-Kreisverband Salzlandkreis erfreut mitteilte.
Wer also die Rauswürfe von »Flügel«-Mitgliedern als herben Schlag gegen die extreme Rechte in der Partei deuten will, wie von Tagesschau bis zur Jungen Freiheit geschehen, verkennt die Kräfteverhältnisse und das geringe Vertrauen, was Meuthen und der Rest seiner Bagage noch genießen. Vielmehr wirken die plakativen Parteiausschlüsse wie ein verzweifeltes, fast schon suizidales politisches Manöver.
Angriff als beste Verteidigung
Der angegriffene »Flügel«, wohlerprobt im Schassen missliebiger Parteigranden, hat auf Angriff geschaltet. Meuthen und seinen Getreuen wurden »antidemokratisches und machtpolitisches Verhalten«, »Verrat an der Partei« und »politische Säuberungen« vorgehalten. Eine weitere Zutat zu Meuthens Schierlingsbecher ist das verheerende Wahlergebnis bei den Kommunalwahlen in NRW, welches die Völkischen ebenfalls dem Meuthen-Lager um NRW-Parteichef Rüdiger Lucassen anlasten. Deren marktradikale Ausrichtung habe eine große Chance in diesem wichtigen West-Bundesland vertan. Damit platziert der »Flügel« geschickt die inhaltliche Hauptkonfliktlinie in die Interpretation der Wahlniederlage: Meuthen und Lucassen wollten die AfD in eine blau lackierte CDU verwandeln, so der altbekannte Vorwurf der Rechtsaußen. Dieser »ungewollte Wurmfortsatz des Establishments« müsse abtreten und Platz machen für frisches Personal, das sich aus den Reihen des »Flügel« rekrutiere.
Derart unter Beschuss scheint sich Meuthen seiner Niederlage bereits bewusst zu sein: Eine Kandidatur für den Bundestag, so ließ er verlauten, schließe er aus. Stattdessen werde er sein politisches Engagement im Europaparlament weiterführen. Ganz ohne Getöse und Treibjagden. Ein politischer Lebensabend ganz im Sinne der verhassten »Altparteien« sozusagen.
Was bedeutet das für 2021?
Sein Verzicht auf die Kandidatur hat Symbolcharakter. Er zeigt, dass der »Flügel« auch den aktuellen Machtkampf für sich entscheiden wird. Zudem verdeutlicht er dramatisch die Machtbasis der Völkischen in der Partei. Diese neue Dominanz des »Flügels« dürfte sich auf inhaltlich-strategischer Ebene in verstärkter Fundamentalopposition niederschlagen. Versuche, die Grenzen des Sagbaren noch weiter nach rechts zu verschieben, gezielte Tabubrüche unter Einsatz nationalsozialistischen Vokabulars, Geschichtsrevisionismus, offener Rassismus und Antifeminismus dürften diese Strategie kennzeichnen, mit der man die eigene Rolle als »einzig echte« Oppositionspartei unterstreichen möchte.
Nach dem Abgang relevanter Teile der marktradikalen Strömung ist zu erwarten, dass die Partei verstärkt soziale Themen aufgreifen und nationalistisch und rassistisch zuspitzen wird. Die Marktradikalen in der Partei mit ihren Forderungen nach Deregulierungen am Arbeitsmarkt, Privatisierung der Rentenvorsorge und Verlängerung der Lebensarbeitszeit störten hier erheblich, weshalb sich die AfD über Jahre an diesen Fragen als praktisch handlungsunfähig erwies. Höcke und der »Flügel« hingegen wollen der AfD schon lange ein sozialpolitisches Image verpassen. Ihre Strategie, die soziale Frage aufzugreifen und mit völkischen Losungen aufzuladen, ist bereits von anderen extrem rechten Parteien in Europa erfolgreich praktiziert worden. Als Zielgruppen haben die Völkischen insbesondere frustrierte Sozialdemokrat*innen, ökonomisch Deklassierte und Nichtwähler*innen im Blick.
Es ist zu erwarten, dass diese Agitation im Superwahljahr 2021 breiten Raum einnehmen wird. Nach einem mitunter schmerzhaften wirtschaftlichen Erwachen in der Post-Corona-Zeit könnten ökonomische und soziale Themen jene Felder sein, die bei Wahlen erfolgreich laufen und der Partei weiteren Zulauf bescheren, so das Kalkül. Dies muss kein Trugschluss sein, wie ein Blick auf die Auswertung der Wahlen in den östlichen Bundesländern verdeutlicht, bei denen die braun-blaue Partei hohe Zugewinne unter Erwerbslosen und Arbeiter*innen verzeichnen konnte.
Dass diese Rechnung tatsächlich aufgeht, ist indes noch nicht ausgemacht. Das eher gutsituierte rechtsliberale Klientel, das gerade in den Anfangsjahren die Partei getragen hat, dürfte einen solchen Strategiewechsel keinesfalls goutieren und sich zunehmend von der Partei abwenden. Noch bitterer für die AfD könnte es werden, wenn diese Sicht auch von den vermögenden Großspender*innen geteilt wird, die der AfD in der Vergangenheit einen reichen Geldsegen und etliche Parteispendenaffären beschert haben.
Auch ist es unwahrscheinlich, dass eine verstärkte extrem rechte Propaganda mit positiven Bezügen auf die NS-Geschichte in der ganzen Republik gleichermaßen verfängt. Rheinland-Pfalz ist nicht Sachsen-Anhalt, die Lausitz nicht das Ruhrgebiet. Das schon jetzt bestehende Gefälle bei Wahlerfolgen zwischen Ost und West dürfte sich durch einen forcierten Rechtskurs weiter verschärfen. Sollte darüber hinaus die Überwachung der Partei durch den Inlandsgeheimdienst im Zuge des weiteren Rechtsdrifts ausgeweitet werden, würden gerade die in der Partei gut vertretenen Berufsgruppen Polizei und Bundeswehr stärkere Probleme mit einem öffentlichen Engagement für die Partei bekommen.
Die Rechtsentwicklung könnte somit dazu führen, dass sich eine von Personalproblemen gezeichnete AfD noch stärker als bisher in Richtung einer Ostpartei entwickelt, während sie im Westen sogar in Teilen wieder aus den Landesparlamenten verschwinden könnte.