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|ak 669 | Wirtschaft & Soziales

Die Vergessenen

In der Pandemie leiden viele unter Einschränkungen, die für Einkommensarme alltäglich sind und Protest erschweren

Von Anne Seeck

Corona Armut
Nicht nur das erzwungene Zuhausebleiben, auch Einsamkeit und soziale Isolation sind für viele einkommensarme Menschen häufige Begleiter. Was dies bedeutet, hat der Corona-Lockdown auch vielen Menschen bewusst gemacht, die nicht einkommensarm sind. Foto: Matthias Berg

Seit Beginn der Corona-Pandemie leben wir in einer Art Ausnahmezustand. Für viele Einkommensarme hat sich allerdings im Vergleich zur Zeit davor wenig verändert, da der Ausnahmezustand für sie eher Normalzustand ist, was in der Corona-Krise jedoch kaum thematisiert wird. Die über 13 Millionen Einkommensarmen, die es laut Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes in Deutschland gibt, werden meist vergessen. Aber warum wehren sie sich nicht? Angesichts der bevorstehenden Verteilungskonflikte braucht es Protest.

Viele Dinge, die Menschen aus der Mittelschicht in Corona-Zeiten schmerzlich vermissen, sind für Einkommensarme auch in ihrem normalen Leben unerreichbar, etwa der Besuch teurer Musikkonzerte. Statt im Restaurant zu dinieren, ist so manche*r auf Lebensmittelspenden angewiesen. Auch Reisebeschränkungen und Kontaktarmut erleben Einkommensarme im normalen Alltag.

Reisen oder nicht

Die hypermobile Menschheit wurde durch Corona ausgebremst. So kam der Tourismus in Europa nahezu zum Erliegen. Die Passagierzahlen am Frankfurter Flughafen sind im Jahr 2020 auf den Stand von 1984 gesunken. Die Zahl der Fluggäste fiel zwar um 73,4 Prozent, aber immer noch wurden 18,8 Millionen Passagiere abgefertigt. Eine Zahl, die erahnen lässt, welche unglaubliche Massen dort in »normalen« Jahren durchgeschleust werden. 

Erwerbslose und andere Einkommensarme zählten schon vor der Pandemie deutlich seltener zu den Reisenden, für die die Welt unwiderstehlich attraktiv erscheint. Natürlich gibt es sogenannte »glückliche Arbeitslose«, die über soziales und kulturelles Kapital verfügen und vielleicht ein materiell gut situiertes persönliches Netzwerk nutzen können, die informell arbeiten und es verstehen, auch mit wenig Geld zu reisen. Es gibt aber auch viele Einkommensarme, die seit Jahren nicht mehr verreisen konnten. Manchmal auch, weil sie im Alter und/oder aufgrund einer Behinderung nicht mehr mobil sind. Für sie wirkt die Aufforderung, zu Hause zu bleiben, mitunter wie ein Hohn, da sie auch in normalen Zeiten räumlich fixiert sind.

Für Einkommensarme ist es auch kaum möglich, für eine Reise zu sparen. Obwohl Flugreisen in Europa billig sein können, sind etwa Hotelkosten im aktuellen Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 446 Euro nicht drin. Reisebeschränkungen treffen Einkommensarme also nicht, denn ihnen fehlt schlicht das Geld, um sich die Welt anzusehen. Und für diejenigen, die es sich irgendwie leisten können zu verreisen, gelten staatliche Vorschriften. Die Ortsabwesenheit soll gemeldet werden; selbst Rentner*innen, die zusätzlich Grundsicherung beziehen, dürfen offiziell nicht länger als vier Wochen ins Ausland reisen. Erwerbslosen kann das Jobcenter ab dem 22. Tag einer Ortsabwesenheit das Geld kürzen.

Angesichts von Staatsverschuldung und Schuldenbremse wird in den kommenden Jahren der Druck auf die Sozialausgaben zunehmen.

Kontaktbeschränkungen

Nicht nur das erzwungene Zuhausebleiben, auch Einsamkeit und soziale Isolation sind für viele einkommensarme Menschen häufige Begleiter*innen. Was dies bedeutet, hat der Corona-Lockdown auch vielen Menschen bewusst gemacht, die nicht einkommensarm sind. Kontaktbeschränkungen sind nun Alltag, »social distancing« wurde für alle zur Pflicht. So manche*r erlebt den erzwungenen Stillstand, das Zurückgeworfensein auf sich selbst, die Entschleunigung des Lebens als psychische Belastung.

Der Sozialverband Deutschland hat in seinem Gutachten »Einsamkeit« von 2020 vor zunehmender sozialer Isolation in der Corona-Krise gewarnt. Je nach Studie sind vier bis neun Millionen Menschen von Einsamkeit betroffen, sicher nicht nur Senior*innen. So hat im Schnitt jedes dritte Kind erkennbar Schwierigkeiten, mit einem Lockdown zurechtzukommen.

Gruppen, die schon vor der Corona-Krise mit sozialer Isolation und Einsamkeit konfrontiert waren, leiden häufig nicht nur unter materiellem Mangel, sondern auch an fehlender sozialer Unterstützung. Neben einkommensarmen Menschen machen überdurchschnittlich häufig Personen, die gehandicapt oder chronisch krank sind, solche Ausgrenzungserfahrungen. Sie isolieren sich in der Corona-Krise aus Selbstschutz, oder sie werden isoliert. Aber auch eine fehlende soziale Infrastruktur kann zum Erleben von Einsamkeit führen. Daher sind für diese Menschen Orte der Begegnung so wichtig, die wiederum in Lockdown-Zeiten erst recht fehlen.

In das Leiden von Menschen, die in Armut leben müssen, sollten sich auch Nicht-Betroffene einfühlen können, sofern sie noch zur Empathie fähig sind. Es bleibt jedoch die Frage, warum sich eigentlich die Einkommensarmen nicht aktiv gegen die permanenten Zustände wehren. In dem Artikel »Ich bin ein Kostenfaktor« (ak 659) hatte ich die Ängste, die Scham und den individuellen Widerstand der Armutsbetroffenen sowie die Entfremdung großer Teile der Linken von den Marginalisierten und Arbeiter*innen als Begründungen herangezogen. Nun erweitere ich diese Perspektive anhand von Erkenntnissen des Protestforschers Dieter Rucht, der fünf Bedingungen für eine Massenmobilisierung benennt.

Nicht allein sein

Zunächst braucht es laut Rucht Unzufriedenheit und Empörung, um gegen Ungerechtigkeit und Benachteiligung zu protestieren. Mittels Stigmatisierung und der neoliberalen Selbstverschuldungsthese wurde meines Erachtens aber die Wut bei vielen, zumal unorganisierten, Betroffenen langfristig in Scham, Apathie und Resignation verwandelt.

Zweitens muss auch das Gefühl kollektiver Betroffenheit vorhanden sein, das heißt die Einsicht, »mit seinem Problem beziehungsweise Leid nicht allein zu stehen«. Zudem müssen demnach Adressaten von Protest, Verursacher*innen und Verantwortliche, benannt werden können. Durch die Armutsbürokratie werden die Betroffenen jedoch zu Einzelfällen und Verwaltungsakten degradiert. Wenn sie sich wehren, geschieht dies zumeist individuell auf juristischem Weg sowie mittels vereinzeltem Widerstand. Verantwortlich dafür sind das brutale Hartz-IV-System, ausgetüftelte Gesetze und eine Armee von Vollstrecker*innen in Politik und Armutsverwaltung. Die Betroffenen fühlen sich angesichts der Wucht der Probleme oft schlicht ohnmächtig.

Massenproteste müssen drittens aber auch initiiert und organisiert werden. Manchmal sind es Einzelpersonen, die Sozialproteste vorantreiben. So regte im Jahre 1998 der im letzten Herbst verstorbene Politikprofessor Peter Grottian in Berlin die Gründung des »Aktionsbündnis Erwerbslosenproteste« an. Oder ein Erwerbsloser setzte 2004 in Magdeburg die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV in Gang. Aber natürlich verfügen große Organisationen über mehr Ressourcen als einzelne Aktivist*innen. Zu erwarten wäre, dass sich die Gewerkschaften, die Linkspartei, die Sozialverbände, die Betroffenengruppen oder die kritischen Intellektuellen, die soziale Proteste initiieren und organisieren könnten, dieser Aufgabe annehmen. Zur Behebung dieses Defizits sind die Phantasie und das Engagement der bewegungsorientierten Linken gefragt.

Viertens braucht es auch die Wahrnehmung, dass günstige Rahmenbedingungen vorliegen. Obwohl in der Corona-Krise viele um ihre Existenz bangen, verhalten sich die betroffenen Menschen erstaunlich ruhig. Viele, gerade auch Ältere, scheuen sich zurzeit aus Angst vor einer Ansteckung, ihren Protest auf die Straße zu tragen.

Hoffnung auf Erfolg

Dieter Rucht nennt noch einen weiteren Faktor – die mit dem Protest verbundenen subjektiven Erfolgserwartungen: »Die meisten Menschen finden sich letztlich erst dann zum Protestengagement bereit, wenn sie glauben, damit den erklärten Zielen des Protests näher zu kommen.« Jahrzehnte der angeblichen Alternativlosigkeit des Neoliberalismus haben meines Erachtens aber zu Fatalismus bei vielen Armutsbetroffenen geführt. In Folge des Klassenkampfes der Reichen gegen die Armen bleiben Erfolge bei Sozialprotesten weitgehend aus. So haben die Herrschenden einen großen Teil der Bevölkerung mit Sozialschmarotzer-Kampagnen und Unterschichten-Debatten gegen Erwerbslose und Einkommensarme aufgehetzt. Sie haben es geschafft, vor allem die Arbeiterklasse, die Lohnabhängigen, zu spalten.

Auch die bewegungsorientierte Linke scheint sich mit dem Hartz-IV-System, mit Prekarität und Altersarmut abgefunden zu haben. Zunächst müsste sie sich wieder stärker der Armutsbevölkerung zuwenden. Angesichts von Staatsverschuldung und Schuldenbremse, die im Grundgesetz verankert ist, wird in den kommenden Jahren der Druck auf die Sozialausgaben und die öffentliche Daseinsvorsorge zunehmen. Unter anderem besteht die Gefahr, dass die finanzielle Ausstattung der Bibliotheken, Schwimmbäder, Krankenhäuser, Schulen gekürzt wird. Die Verteilungskonflikte werden sich verschärfen. Auf die anstehenden Kämpfe sollten Linke vorbereitet sein.

Anne Seeck

ist Autorin und lebt in Berlin.