Raum für Unerwartbarkeit
Die neu aufgeflammten Massenproteste in Israel sind ein Empathietest für die globale Linke
Bis zum 7. Oktober erlebte Israel wöchentlich die größten Proteste in der Geschichte des Landes. Schätzungen zufolge haben zwei Millionen Menschen an mindestens einer der landesweiten Demonstrationen gegen die geplante Justizreform teilgenommen. Zwei Millionen sind schon viel, wenn man sie ins Verhältnis zu den neun Millionen Staatsbürger*innen Israels setzt. Doch nicht alle Staatsbürger*innen sind potenzielle Demonstrant*innen.
Bereits von Anfang an, ab Januar 2023, gab es einige Gruppierungen innerhalb dieser Demonstrationen, die im Block HaGusch Neged HaKibbusch, dem Block gegen die Besatzung, zusammenkamen, um den Charakter der Proteste zu beeinflussen. Während die einen eher wegen seiner Korruptionsaffäre gegen Netanjahu und andere wegen des geplanten Umbaus der Justiz gegen die Regierung demonstrierten, betonte der Block gegen die Besatzung, dass die befürchteten Verschlechterungen – in einem Land ohne Verfassung wären nach der geplanten Reform Minderheiten der Verfolgung durch egal welche Mehrheit im Parlament schutzlos ausgeliefert – für Palästinenser*innen bereits lange Realität sind – egal, ob sie israelische Staatsbürger*innen sind oder nicht.
Israel ist ein jüdischer Staat. Damit es auch so bleibt, braucht es eine Justiz, einen Obersten Gerichtshof, der beispielsweise völkerrechtswidrige Siedlungen im Westjordanland legitimiert. Eine Justiz, die die Klagen von palästinensischen Familien, die 1948 aus Dörfern im heutigen Staat Israel geflohen sind oder freiwillig gingen, weil ihnen das Versprechen gemacht wurde, dass sie eines Tages zurückkehren könnten, kurzerhand ablehnt. Eine Justiz, die nichts einzuwenden hatte, als das Parlament im Juli 2023 – schon während der großen Proteste – die Strafe für Sexualdelikte für den Fall verschärft hat, dass der Angreifer nicht jüdisch ist.
Obwohl andere Demonstrant*innen ihnen vorwarfen, die Proteste zu kapern, bestanden die Bewegungen, die sich im Block gegen die Besatzung zusammengeschlossen hatten, darauf, dass man die zwei Kämpfe nicht ohne einander verstehen könne. Sie sahen die Reform in erster Linie als eine Erweiterung des schon existierenden Justizsystem, das bisher nur Palästinenser*innen betroffen hatte, nun aber auch auf andere, auch jüdische, Minderheiten ausgeweitet werden sollte. Sie erinnerten daran, dass also nicht nur die geplante Justizreform bekämpft, sondern auch das schon existierende Justizsystem kritisch betrachtet werden müsse. Man kann nicht Gleichberechtigung nur unter Jüdinnen und Juden fordern, sagten sie. Gleichberechtigung gibt es entweder für alle oder für keine*n.
Trotzdem demonstrierten sie alle gemeinsam, und außer einem gewalttätigen Vorfall, bei dem ein Demonstrant aus der zionistisch-patriotischen Bewegung Achim LaNeschek (Waffenbrüder) einen Demonstranten vom Block mit Pfeffergas angriff, war die Gesamtatmosphäre zehn Monate lang sehr friedlich. Dann kam der 7. Oktober, der den Protest zersplittert und praktisch beendet hat. Das ganze Land verfiel in Schockstarre. Der Terrorismus hat genau das geschafft, was zu erwarten war: einen Rechtsruck in einem Land, das sowieso schon sehr rechts war.
Gegen den Krieg
Demonstrationen gegen den Krieg in Gaza gab es von seinem ersten Tag an. Sie waren klein, und sie waren auch nur jüdisch. Jüdische Demonstrant*innen müssen in Israel mit Festnahmen rechnen, Palästinenser*innen manchmal auch mit dem Tod. Unter dem Vorwand der Kriegsgesetze bekam der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ein Rechtsextremist, der mehrfach wegen Hetze und Hassverbrechen Polizeizellen von innen gesehen hat und jetzt selbst für die Polizei verantwortlich ist, mehr Macht. Er hat nach eigenen Angaben bis Februar schon 100.000 Waffenscheine an Zivillist*innen verteilt, eigene Gruppen (eine sogenannte Nationalgarde) außerhalb der Polizei aufgebaut und trainiert und das Demonstrationsrecht immer weiter eingeschränkt. Die Polizeigewalt hat seitdem stark zugenommen.
Die Demonstrationen sind Orte des Gesprächs, an denen patriotische Soldat*innen, die gerade von der Front in Gaza zurückgekommen sind, und antizionistische Aktivist*innen, die Gleichberechtigung für alle zwischen Jordan und Meer fordern, nebeneinander laufen und miteinander sprechen.
Dessen ungeachtet sind seit Ende März auch die am 7. Oktober abgebrochenen Demonstrationen wieder aufgeflammt. Der offizielle Anlass für die jetzigen Proteste ist dabei zweifellos die Tatsache, dass 133 israelische Geiseln noch immer in Gaza in den Händen der Hamas sind. Eine Minderheit der Familien der Geiseln unterstützt eine weitere Militäroperation auch in Rafah. Netanjahu verspricht ihnen, dass dies ihre Angehörigen, Partner*innen, Eltern und Kinder nach Hause bringen wird. Die große Mehrheit der Familien der Geiseln sieht das anders: Ende November wurden 100 Geiseln durch einen Deal freigelassen; ohne Deal, durch Militäroperationen, konnten dagegen bisher nur drei Geiseln befreit werden. Mehrere sind durch diese Operationen wahrscheinlich ums Leben gekommen, sicher weiß man dies von dreien. Vor diesem Hintergrund haben die Familien begonnen, für einen Deal und gegen die Fortführung des Kriegs in Gaza zu demonstrieren. Auch dadurch wurden die Bewegungen, die vor dem 7. Oktober demonstrierten, aus ihrem Schlummer geweckt.
Auch in diesen Demonstrationen, die die inoffiziellen Nachfolger des Protests gegen die Justizreform sind, gibt es große Unterschiede, erneut kommen viele verschiedene Organisationen mit unterschiedlichen politischen Ansichten zusammen. Auf dem rechten Rand sind Bewegungen wie die Waffenbrüder, die vornehmlich gegen Netanjahu demonstrieren. Sie sind hauptsächlich Reservist*innen, die die Militarisierung der israelischen Zivilgesellschaft so verinnerlicht haben, dass es für sie das wichtigste ist, einen Premierminister zu haben, dem die Soldat*innen vertrauen können.
Doch auch der Block gegen die Besatzung ist wieder dabei, mit den verschiedenen Gruppen, die ihn ausmachen. Aktivist*innen von Standing Together zum Beispiel sehen nur durch jüdisch-palästinensische Zusammenarbeit eine Zukunft für das Land. Man erkennt sie an ihren typischen lila-farbigen T-Shirts und daran, dass ihre Schilder immer zweisprachig, Hebräisch und Arabisch, sind. Die kommunistische Partei, Hadash, ist auch dabei, ebenso Looking the Occupation in the Eye oder die Pink Front.
Diese Zusammenkunft verschiedener Gruppierungen ist in linken Kreisen, in denen man sich schon an die immer weiter fortschreitende Zersplitterung gewöhnt hat, erfrischend. Für viele bringt sie die Hoffnung mit sich, endlich mal die Kleinlichkeiten beiseitelegen und die allgemeine Stimmung, dass Netanjahu und seine Regierung weg müssen, als Anknüpfungspunkt für einen Massenprotest nutzen zu können.
Worauf sich mein Optimismus gründet
Mein Optimismus gründet sich allerdings auf etwas anderes, das in diesem Protest steckt. Die Straße bestimmt langsam erneut den Raum der Legitimität in der israelischen politischen Debatte. Die inzwischen wieder riesigen Demonstrationen sind Orte des Gesprächs, an denen patriotische Soldat*innen, die gerade von der Front in Gaza zurückgekommen sind, und antizionistische Aktivist*innen, die Gleichberechtigung für alle zwischen Jordan und Meer fordern, nebeneinander laufen und miteinander sprechen. Bis zu diesen Demonstrationen war der israelische politische Raum nach Jahrzehnten der Normalisierung der Besatzung und nach 15 Jahren unter Netanjahu verengt. Die Linke ist langsam verschwunden, alle Parteien links der Mitte sind immer kleiner, ihre Meinungen immer randständiger geworden. Jetzt plötzlich sind sie doch ein Teil des Gesprächs. Jetzt schicken auch sie Sprecher*innen, die auf der Bühne vor Zehntausenden Menschen reden dürfen.
Das wird weltweit oft kritisch gesehen. Für viele Linke sind bei den Demonstrationen zu viele israelische Fahnen zu sehen. Außerhalb Israels gibt es das Gefühl, nicht wirklich zu verstehen, unter welchen Bedingungen dort gerade demonstriert wird.
Der Unterschied zwischen den Demos gegen die Justizreform vor dem 7. Oktober und den neuen Protesten, sagte mir meine Mutter vor einigen Tagen, sei die Wut: »Es gibt eine Wut auf der Straße, wie ich sie in Israel nie gesehen habe.« Und so wie große Demonstrationen einen Raum für ein alternatives politisches Gespräch eröffnen, so öffnet Wut den Raum für Unerwartbarkeit. Die Wut, die mit einem großen Misstrauen vieler Israelis ihrer Regierung gegenüber einhergeht, führt bereits zu Selbstaufklärung: zuerst durch Gespräche mit Mitdemonstrant*innen, dann mit anderen Mitteln. Die Ablehnung der Propaganda ist ein erster Schritt, momentan kann man schwer mehr erwarten. Historische Kurswechsel ereignen sich nicht auf einmal. Dadurch, dass man Menschen Zeit und Kleinschrittigkeit nicht zugesteht oder sie dafür aus linker Perspektive kritisiert, erreicht man genau das Gegenteil: Man zeigt ihnen, dass sie immer noch ausgeschlossen bleiben, auch wenn sie in die richtige Richtung gehen, weil sie nicht schnell genug laufen.
Ich weiß, dass ich viel verlange. Ich verlange Empathie mit Demonstrationen in Israel, die immer noch überwiegend jüdisch sind. Ich verlange sogar Empathie mit Menschen, die vielleicht doch nicht zur Gleichberechtigung aufrufen. Ich verlange Empathie mit Ex-Soldat*innen. Mit Empathie ist es aber so eine Sache: Erstens erfordert es keine große Mühe, sie denen entgegenzubringen, die ohnehin schon der gleichen Meinung sind wie man selbst. Und zweitens kann Empathie die Welt verändern. Daran glaube ich mit ganzem Herzen. Man kann dieses Momentum nutzen und die Proteste unterstützen, allein schon, weil sie auch ein Prozess von Selbstaufklärung sind. Solidarität ist nicht nur Solidarität mit meinesgleichen, das muss auch für die Demonstrierenden in Israel gelten. Anderenfalls könnten wir von ihnen auch keine Solidarität mit Gaza, zum Beispiel, erwarten.
Deutschland vor Gericht
Seit dem 9. April steht die Bundesrepublik vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IGH) in Den Haag. Nicaragua wirft der deutschen Regierung vor, einen Völkermord in Gaza zu unterstützen. Vorangegangen ist eine Klage Südafrikas im Dezember, in dem das Gericht die Gefahr eines israelischen Genozids an den Bewohner*innen Gazas als gegeben ansah und Israel aufforderte, Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu ergreifen. Ende März bekräftigte der IGH erneut sein vorläufiges Urteil und forderte, Israel müsse mehr zum Schutz der Bevölkerung tun. Der Vorwurf Nicaraguas bezieht sich auf Deutschlands Stellung als zweitgrößter Waffenlieferant Israels. Nicaragua argumentiert, dass die Waffenlieferungen ausgesetzt werden müssten, sollte es Hinweise auf Verstöße gegen das Völkerrecht geben. Die Bundesrepublik sei nach Ratifizierung der Genozidkonvention außerdem verpflichtet, präventiv zu handeln und nicht erst im Falle eines stattfindenden Völkermords. Ob die Klage überhaupt vom IGH angenommen wird, ist noch unklar. Auch das Verfahren gegen Israel wegen des Vorwurfs eines Genozids wird sich noch über Jahre ziehen. Daher liegt der Fokus Nicaraguas auf Ad-hoc-Maßnahmen: Die deutschen Waffenlieferungen sollen eingestellt werden, des Weiteren fordert Nicaragua eine Überprüfung, wo die bisher gelieferten Waffen eingesetzt wurden, sowie eine Wiederaufnahme der ausgesetzten Hilfslieferungen an das UN-Hilfswerk UNRWA. Die Bundesrepublik weist alle Vorwürfe von sich. ak