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Die nächste Regierungskrise

Der Rechtsruck in Israel steht einem Frieden im Gazakrieg entgegen, meint der Historiker Yair Wallach

Interview: Johannes Tesfai

Zwei Polizeipferde stehen sich gegenüber, hinter ihnen eine Demonstration mit Schildern und Fahnen.
Die rechte Regierung geht hart gegen Proteste für eine Waffenruhe vor. Foto: picture alliance / Sipa USA | Matan Golan

Die Forderungen nach einem Waffenstillstand werden international immer lauter. Yair Wallach spricht im Interview über die aufkommenden Konflikte in der israelischen Gesellschaft, warum eine Regierungskrise unter Benjamin Netanjahu unausweichlich ist und welche Bedingungen für einen nachhaltigen Frieden erfüllt sein müssen.

Nach dem Massaker am 7. Oktober haben viele vermutet, dass Israel einen harten Angriff auf den Gazastreifen starten würde. Bist du überrascht, wie brutal er geführt wird?

Yair Wallach: Das hat mich nicht überrascht. Wenn man die Kriegsführung des israelischen Militärs in den Jahren 2009 und 2014 verfolgt hat, konnte man eine Entwicklung erkennen, bei der die Rücksicht auf Zivilist*innen immer weiter abnahm. Was nach Ansicht des israelischen Militärs als legitimes Ziel gilt, wird immer flexibler. Zweitens konnte man in der israelischen Öffentlichkeit nach dem 7. Oktober deutlich den Wunsch nach Rache spüren. Man muss bedenken, dass es innerhalb der Regierung Elemente gibt, die den Krieg eindeutig für eine Vertreibungskampagne oder gar einen Genozid nutzen wollen. Sie haben ihre Unterstützer*innen innerhalb des Militärs. Ein Militär, das sehr mächtig ist, wurde am 7. Oktober gedemütigt und sein Selbstvertrauen ist schwer erschüttert.

Würdest du sagen, dass sich die Einstellung zum Gazakrieg in den oberen Rängen des Militärs in Israel mittlerweile geändert hat?

Einige Personen aus dem Militär und den Nachrichtendiensten sprachen sich sofort gegen die Militäraktion in Gaza aus und waren der Meinung, dass die Befreiung der Geiseln Vorrang haben sollte. Aber die militärischen Befehlshaber wollten sich beweisen und das retten, was von ihrer Glaubwürdigkeit noch übrig war. Sie drängten zum Handeln. Sie gingen auch davon aus, dass die Regierung eine Art diplomatischen und politischen Plan vorlegen würde, was aber nicht geschah. Jetzt will zumindest das Oberkommando ein Ende des Krieges.

Yair Wallach

ist Sozial- und Kulturhistoriker. Er kommt aus Israel, lebt aber in London und forscht dort zu jüdisch-palästinensischer Geschichte an der SOAS University of London.

Eine Initiative der USA innerhalb der UN hat ein Ende des Krieges in einem Drei-Stufen-Programm gefordert. Zwei rechte Minister haben bereits erklärt, dass sie zurücktreten werden, wenn die israelische Regierung den Vorschlag annimmt. Wird es mit dieser Regierung möglich sein, den UN-Waffenstillstand umzusetzen?

Ein Waffenstillstand würde den Rücktritt der Regierung und vorgezogene Wahlen bedeuten. Es ist eine Art Henne-Ei-Situation, denn die israelische Öffentlichkeit, die den Rücktritt der Regierung wünscht, wartet auf das Ende des Krieges, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Es gibt immer wieder Proteste, aber die meisten Menschen halten es für falsch, gegen die Regierung zu protestieren, während das Militär noch kämpft. Die andere Möglichkeit ist eine Art politische Krise innerhalb Israels, die zum Rücktritt der Regierung führt. Netanjahu ist innerhalb seiner Regierung auf die extreme Rechte, genauer: auf deren kahanistischen (1) Flügel, angewiesen. Der größte Teil des Likud ist ideologisch mehr oder weniger mit ihm verbunden, sodass der Likud effektiv in eine kahanistische Partei umgewandelt wird.

Ein Waffenstillstand würde den Rücktritt der Regierung und vorgezogene Wahlen bedeuten.

Warum meinst du, dass der Likud sich von einer rechten Partei zu einer kahanistischen Partei gewandelt hat?

Wenn man einen einzigen Staat hat und einen palästinensischen Staat in jeder Form ablehnt, muss es sich zwangsläufig entweder um ein Apartheidregime handeln oder man muss die Palästinenser*innen vertreiben. Das ist es, worum es beim Kahanismus wirklich geht. Wenn man nach einer Vision innerhalb der israelischen Regierung sucht, was mit dem Gazastreifen geschehen soll, ist das die einzige vorhandene Vision. Benny Gantz und die sogenannten Moderaten waren nicht in der Lage, eine klare Alternative dazu zu formulieren. Obwohl sie ganz klar sagten, dass sie die kahanistische Vision ablehnen, hatten sie Mühe zu sagen: ›Wir sind für die palästinensische Eigenstaatlichkeit.‹ Netanjahu hat jede*n verdrängt, der*die innerhalb des Likud ein*e wichtige*r Gegner*in war. Die Siedler*innen und die Ultraorthodoxen sind die zuverlässigsten Partner für Netanjahu, solange er tut, was sie wollen. Was zu Wahlen führen kann, ist die Frage der Wehrpflicht für die Ultraorthodoxen. Für sie ist dies das Thema Nummer eins. Wenn es einen Gerichtsbeschluss zur Einberufung ihrer Wähler*innen gibt, werden sie die Regierung zu Fall bringen.

Nach dem 7. Oktober sind die Proteste der Regierungsgegner*innen offenbar verschwunden. Jetzt sind sie wieder da.

Einige dieser Menschen sind offensichtlich wieder auf die Straße gegangen. Viele gingen davon aus, dass die Proteste wieder aufflammen würden, aber das ist nicht geschehen. Zum einen, weil die Menschen, solange die Zentrist*innen an der Regierung beteiligt waren, dachten, dass sie die Dinge vielleicht in die richtige Richtung treiben würden. Zum anderen ist Protest während eines Krieges eine sehr schwierige Sache. Im Gazastreifen geschehen Gräueltaten, und in Israel ist man nicht bereit, dies als moralisches Problem zu thematisieren, was sehr traurig ist. Der letzte Grund für das Schweigen der Protestbewegung ist der Schock vom 7. Oktober. Die israelische Gesellschaft lebt noch immer in diesem Tag. Und solange die Geiseln in Gaza sind, geht dieser Albtraum weiter.

Wie hat sich die israelische Gesellschaft nach dem 7. Oktober politisch verändert?

Einerseits hat man das Gefühl, dass die gesamte Gesellschaft nach rechts gerückt ist. Die Linke in Israel wiederum war vor dem Krieg so schwach, dass sie nur noch stärker werden kann. In der Gesellschaft gibt es durchaus Vorbehalte gegen die kahanistische Ideologie. Die Arbeitspartei könnte wieder erstarken, zusammen mit der Partei Meretz. Sie haben die Chance, wieder wahrnehmbar zu sein, sie werden keine großen Parteien werden, aber sie könnten wachsen.

Auf der anderen Seite erleben wir eine schreckliche Zensur. Der Polizeiminister Itamar Ben-Gvir hat die Polizei in eine rechtsgerichtete Miliz verwandelt. Sie geht vor allem gegen jüdische Demonstrierende vor, die gegen die Regierung sind, aber auch gegen palästinensische, und zwar sehr gewalttätig und politisch. Wir können davon ausgehen, dass Ben-Gvir bei der nächsten Wahl noch stärker wird. Vieles wird von den US-Wahlen abhängen. Trump könnte die Rechten dazu bringen, in Israel selbstbewusster aufzutreten, und das, was von den israelischen demokratischen Institutionen innerhalb Israels und den Gerichten übrig ist, zu demontieren.

In Jerusalem gibt es ein Protestcamp an der Kunsthochschule. Sind sie mit der globalen Bewegung verbunden?

Es handelt sich um eine örtliche Gruppe der Standing-Together-Bewegung, die binational ist, d.h. eine jüdisch-israelische und palästinensische Bewegung innerhalb Israels. Die Forderungen sind die Beendigung des Krieges und ein Geiseldeal. Es ist interessant, dass sie sich entschieden haben, den Protest nach Israel zu tragen. Standing Together wurde vor einigen Monaten von der BDS-Bewegung verurteilt und die Aktivist*innen wurden als »Normalisierer« und »Zionist*innen« bezeichnet. Es gibt eine sehr klare ideologische Spaltung in der globalen Bewegung. Aber Standing Together will etwas bewirken. Unmittelbar nach dem 7. Oktober organisierten sie Bürger*innenwehren, um einem Bürgerkrieg in Israel entgegenzuwirken. Als es Angriffe auf die Hilfskonvois nach Gaza gab, bekämpften sie die Leute, die die Lastwagen angriffen, sie fungierten als eine Art menschlichesr Schutzschild. Damit sind sie recht erfolgreich.

PFLP und DFLP, linksnationalistische palästinensische Gruppen, waren am 7. Oktober auf Seiten der Hamas dabei. Warum sind sie Juniorpartner einer islamistischen Gruppe geworden?

Die PFLP hat wahrscheinlich die Gelegenheit ergriffen. Sie hat verstanden, was geschieht und wollte dabei ihre Rolle geltend machen. Ich glaube nicht, dass die Hamas sich mit ihnen abgestimmt hat. Die PFLP kann nichts anderes als ein Juniorpartner der Hamas sein. Eine organisierte Linke gibt es nur innerhalb des Staates Israel, etwa die Kommunistische Partei (Chadasch) und andere. Chadasch kommt aus einer marxistisch-leninistischen Tradition. Es ist eine Bewegung, die eine sehr klare Organisation, Intellektuelle und eigene Publikationen hat. Sie ist in der Lage, ihren Widerspruch gegen die Geschehnisse des 7. Oktobers klar zu artikulieren. Auf der anderen Seite ist die palästinensische Politik in den besetzten Gebieten zersplittert und befindet sich in einer totalen Krise. Die Fatah-Bewegung ist diskreditiert. Die Hamas ist dort der wichtigste Gegenspieler. Es überrascht mich nicht, dass die Menschen zur Hamas als eine Bewegung aufschauen, die sich gegen Israel stellt. Es ist trotzdem enttäuschend, dies von Leuten zu hören, die sich selbst als links bezeichnen und Rechtfertigungen für die Ereignisse des 7. Oktober finden.

Was muss nach dem Krieg geschehen, um einen dauerhaften Frieden zu sichern?

Der internationale Kontext ist unglaublich wichtig. In den letzten acht Monaten haben wir Bewegung in Bezug auf Sanktionen gegen Israel erlebt, wie wir sie in den letzten 20 Jahren nicht erlebt haben. Wir werden Urteile des Internationalen Strafgerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs sehen, die die Besatzung für illegal erklären – es bahnt sich ein Schneeballeffekt an. Wenn das so weitergeht, werden sich Wege für Frieden und Kompromisse öffnen. Das zweite Element ist die jüdische linke Mitte in Israel. Sie muss ein Bündnis mit den palästinensischen Bürger*innen Israels eingehen. Das ist eine Voraussetzung für eine Bewegung in Richtung Gleichheit und Gerechtigkeit. Der Ausschluss der Palästinenser*innen aus dem politischen Prozess bedeutet, dass man in exklusiven ethnozentrischen Begriffen denkt. Ihre Einbeziehung und der politische Prozess sind notwendig. Und das Prinzip des Binationalismus muss akzeptiert werden. Das kann zu zwei Staaten führen oder zu einer Föderation. Als Letztes möchte ich sagen, dass das koloniale Ethos der Expansion, der Landnahme und der Vertreibung der Palästinenser*innen in diesem Prozess ein Ende haben muss. Bevor das nicht endet, ist kein Frieden möglich.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.

Anmerkung:

1) Kahanismus ist eine rechtsradikale Strömung in Israel, die sich durch Ultranationalismus, religiösen Fundamentalismus und Rassismus auszeichnet. Sie will eine Theokratie in Israel errichten.

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