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»Die kaufen uns das Leiden ab«

Nachdem die Politiker*innen die bayerischen Hochwassergebiete besuchten, sind die Menschen auf sich selbst gestellt

Von Sebastian Schuller

Bundeskanzler Olaf Scholz (1. Reihe 4.v.l., SPD), Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (1. Reihe 3.v.l., CSU), Bundesinnenministerin Nancy Faeser (1. Reihe 2.v.l., SPD) stehen hinter einer Absperrung aus gefüllten Sandsäcken bei einer Ortsbesichtigung im vom Hochwasser betroffenen oberbayerischen Reichertshofen. In Bayern herrscht nach heftigen Regenfällen vielerorts weiter Hochwasser.
Krisenpopulist*innen bei der Arbeit: Nancy Faeser, Markus Söder und Olaf Scholz während ihres Besuchs im oberbayerischen Reichertshofen. Foto: picture alliance/dpa | Peter Kneffel

Reichertshofen, Manching, Baar-Ebenhausen. Kleine Ortschaften, die bis vor Kurzem nur Reisenden auf dem Weg nach München über Ingolstadt ein Begriff waren. Nachdem diese Dörfer am Sonntag, den 2. Juni wortwörtlich in den Fluten eines Nebenflusses der Donau versunken sind, änderte sich das: Bundesweit verfolgten Medien die vergeblichen Versuche der örtlichen Feuerwehren, den Wassermassen Einhalt zu gebieten. Bilder von weinenden Hausbesitzer*innen, Evakuierungsaktionen und betroffen blickenden Politiker*innen feuerten das Medienspektakel an. Wenig später schon waren die Politiker*innen und Journalist*innen verschwunden, weil sich der Fokus der politischen Debatte wieder verschoben hatte. Zurück bleiben ehrenamtliche Helfer*innen am Rande des Zusammenbruchs und Menschen, deren Hab und Gut zerstört wurde.

»Seit vier Tagen räume ich Keller aus. Eigentlich kann ich nicht mehr. Aber hilft ja nichts.« Martin S. wirkt erschöpft. Seit Sonntag ist er, ein Jugendfreund und politischer Weggefährte aus der autonomen Linken, unermüdlich im Einsatz. Er pumpt Keller aus, trägt zerstörtes Mobiliar aus den Häusern, redet mit den Betroffenen, versucht sie aufzubauen.

Martin, ein paar andere Freund*innen und Genoss*innen und ich schleppen stundenlang Teppiche, Kleider, Weihnachtsdekoration, Fotoalben usw. aus dem immer noch teilweise unter Wasser stehendem Untergeschoss. Lebenserinnerungen meiner Eltern, die nun einen größer werden Haufen Unrat in der Einfahrt bilden.

Jetzt stehen wir auf dem Hof meiner Mutter, durchnässt, mit schmerzenden Rücken und leeren Blicken. Der Keller wird heute nicht fertig werden. Es dringt wieder Grundwasser ein. Immerhin haben wir Zeit, ein wenig zu reden und unsere Eindrücke aus dem Flutgebiet auszutauschen.

»Die körperliche Anstrengung ist nicht das Schlimmste«, erzählt Martin. Auch nicht der Würgereiz auslösende Gestank in den Kellern – mit dem Wasser drangen Fäkalien, Chemierückstände und Heizöl ein. »Das Schlimmste ist die resignierte Verzweiflung und Erschöpfung der Betroffenen, körperlich wie seelisch.«

In der Straße meiner Mutter etwa waren alle Anwohner*innen evakuiert worden. Zwei Nächte mussten sie in Massenunterkünften ausharren, ohne Schlaf und in Sorge um das Hab und Gut. Als sie dann zurückkamen, mussten sofort die Aufräumarbeiten beginnen. Gerade ältere Einwohner*innen, von denen es in den kleinen Dörfern in der Region viele gibt, überforderte das. Zeitweilig mussten die Betroffenen ohne Strom und Warmwasser auskommen. Einige erfuhren, dass ihre Häuser aufgrund von ausgelaufenem Heizöl fürs Erste unbewohnbar sind. Alle hatten Wasser in den Kellern, manche im Erdgeschoss: Erinnerungsstücke, Alben, Zeugnisse, Bilder – alles unwiederbringlich verloren. Viele realisieren dieses Ausmaß der Schäden erst Tage nach der Flut.

Solidarität und Krisenpopulismus

In der gesamten Region ist die Erschöpfung mit Händen greifbar – bei Betroffenen wie Helfer*innen. Viele von ihnen sind, wie Martin S., unermüdlich im Einsatz. Ein Feuerwehrmann berichtet, dass er seit 19 Stunden auf den Beinen ist. Schlafen wird er, wenn es gut läuft, wenn diese Schicht vorbei ist – in vier bis fünf Stunden. Freund*innen von Martin, die wie er Keller ausräumten, mussten nach vier Tagen mit Zehnstundenschichten einen Tag Pause einlegen.

Dennoch lassen die gegenseitige Hilfe und Solidarität in der Region nicht nach. Davon höre ich während meines Besuchs viele inspirierende Geschichten: Meine Tante berichtet von Geflüchteten, die ertrinkende Tiere retteten und sie versorgten, während ihre Besitzer*innen mit den Aufräumarbeiten beschäftigt sind. Eine Nachbarin, die wieder warmes Wasser hat, lässt die ganze Straße bei sich duschen. Das Rote Kreuz verteilt warme Mahlzeiten – ein Segen für Menschen, die, wie meine Mutter, auch fünf Tage nach der Flut noch keine Elektrizität zur Verfügung haben.

Das gesellschaftliche Problem Klimawandel wird in die Versicherungspolicen von einzelnen Bürger*innen zurückverwiesen.

Allerdings, diese Solidarität ist auch eine bittere Notwendigkeit für die Region zwischen Donau und Hallertau. Würden sich die Leute nicht gegenseitig helfen – sie wären allein gelassen. Oder wie es einer aus unserer Runde an diesem Nachmittag im Hof meiner Mutter ausdrückt: »Am Sonntag haben’s alle noch ihr Gesicht in die Kamera gehalten, aber jetzt dürfen wir allein schauen, wo wir bleiben.«

Damit drückt er ein Gefühl aus, das viele Betroffene teilen. Als die Flut am Sonntag den Landkreis Pfaffenhofen erreichte, erhielt der Ort viel mediale Aufmerksamkeit. Wirtschaftsminister Robert Habeck und der Ministerpräsident Bayerns, Markus Söder, kamen und drängten sich buchstäblich gegenseitig aus dem Bild. Jetzt ist die Flut vorbei. Europawahl und die Überflutung größerer Städte ziehen die mediale Aufmerksamkeit auf sich. Die Region war einen Nachmittag lang gut genug als Kulisse für Kriseninszenierungen im Wahlkampftheater. Mit ernsten Mienen konnten Politiker*innen beweisen, dass sie Katastrophen trotzen. Jetzt sind die Menschen in der bayerischen Provinz wieder auf sich selbst gestellt.

Und das heißt: Jede*r Einzelne muss mit den Aufräumarbeiten irgendwie selbst fertig werden – die 70-jährige Nachbarin meiner Mutter genauso wie das junge Paar mit Neugeborenem eine Straße weiter. Jede*r Einzelne muss sich um Strom kümmern, um Essen, um Baumaterial und Informationen. Und jede*r Einzelne bleibt alleine mit den seelischen Folgen. Gäbe es keine nachbarschaftliche Solidarität, wären hier fast alle verloren. Denn, wie mir mehrfach erzählt wird, ohne die Aufmerksamkeit der Fernsehkameras hätte sich der Staat fast vollständig aus der Region zurückgezogen.

Das wird besonders in der Informationspolitik deutlich: Es gibt keine zentrale Stelle, die Betroffene über Hilfsangebote informiert. Dass die Feuerwehren Sperrmüll einsammeln oder dass der Landkreis Pfaffenhofen schnelle Soforthilfen bereitstellt, erfahren wir so nur durch Zufall und persönliche Kontakte. Doch auch an anderen Stellen macht sich die Abwesenheit des Staates bemerkbar: Notwendige Materialien wie Wathosen, Gummistiefel oder Pumpen sind in der ganzen Region ausverkauft. Es gibt keine Stelle, die sich um deren faire Verteilung kümmert. Und von sozialpsychologischer Versorgung braucht man gar nicht erst zu reden: Das Bistum Augsburg entsendete ein paar Krisenspezialist*innen. Doch jetzt, nach der Katastrophe würden eigentlich Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen benötigt, die großflächig helfen – vom Ausfüllen von Anträgen bis zur therapeutischen Intervention.

Nichts davon wird zur Verfügung gestellt. Der Staat handelte nur im Moment der Katastrophe. Dann wälzt er die Verantwortung und die Last der Krisenbewältigung auf unentgeltlich arbeitende Ehrenamtliche und auf die Betroffenen ab. An dem Gefühl, allein gelassen worden zu sein, ändern auch Söders Hilfszusagen in Millionenhöhe nichts. Das Geld ist dabei durchaus willkommen, Söders Ankündigungen werden aber allgemein als das angesehen, was sie sind: ein weiterer Akt des Krisenpopulismus der Staatsregierung.

Die Privatisierung der Verantwortung

Die Flut ist letztlich die Folge von gesellschaftlichen und politischen Fehlern: Konkrete und lokale Fehlplanungen – etwa Flussbegradigungen, zu kleine Kanalisationen, mangelhafte Hochwasserschutzanlagen – aber auch und vor allem gesamtgesellschaftliches Versagen: Der Klimawandel, der Extremwetterereignisse immer häufiger macht, wird – obwohl seit einer Generation wissenschaftlich gesichert – nicht bekämpft oder auch nur anerkannt. Markus Söder und sein Vize Hubert Aiwanger stellen sich im Gegenteil an die Seite derer, für die Klimapolitik nur ein »ideologisches Projekt« ist. Selbst harmloseste Strukturanpassungen werden von ihnen bekämpft. Die Konsequenzen dieses bewussten politischen Versagens materialisierten sich nun in unbewohnbaren Häusern und zerstörten Existenzen.

Die Region war einen Nachmittag lang gut genug als Kulisse für Kriseninszenierungen im Wahlkampftheater.

Derselbe Staat und dieselbe Politik, die seit Jahrzehnten untätig sind, lassen jetzt die Betroffenen im Stich. Und Söders Krisenpopulismus verschiebt die Perspektive zurück auf das Individuum. Denn anstelle einer koordinierten staatlichen Politik, die eingreift, organisiert und Hilfen für Menschen zur Verfügung stellt, die mit der Situation überfordert sind, verspricht die Staatsregierung nur monetäre Kompensation. »Die kaufen uns das Leiden ab«, sagt mir eine betroffene Nachbarin. »Aber dadurch wird es halt nicht weniger.« Der Effekt dieser Politik ist derselbe, den wir schon aus Zeiten der Pandemie kennen: Verantwortung wird privatisiert.

Die aktuelle, mediale Diskussion unterstreicht dies. Es wird nicht darüber gestritten, welche systemischen Veränderungen nötig wären, solche Katastrophen zu verhindern oder ihre Folgen abzumildern. Sondern es geht darum, ob Elementarversicherungen verpflichtend werden sollten. Ein gesellschaftliches, kollektives Problem wird damit in die Versicherungspolicen von einzelnen Bürger*innen zurückverwiesen. Und so vermarktet wird es wieder zur Verantwortung des*der Einzelnen. Ob diese in der realen Welt mit den Folgen zurechtkommen und ob sich nicht durch strukturelle Veränderungen der Klimakollaps noch abwenden lässt, werden damit zu bloßen Nebensächlichkeiten. In der großen Politik und in den Medien setzt sich also auch nach der Flut das Prinzip des »Weiter-So« durch. Weiter mit radikalem Individualismus, Marktorientierung und Privatisierung der Verantwortung.

Zurück bleiben die Betroffenen, die die Folgen dieser Politik und das Leiden an ihr zu schultern haben. Für sie gibt es kein einfaches Weitermachen. Vielleicht bringt es Martin am besten auf den Punkt, als er kurz tief durchschnauft, bevor es wieder los geht, hinab in den Hochwasserkeller: »Das alles wird uns alle noch lange beschäftigen.«

Sebastian Schuller

forscht zu Globalisierung, Verschwörungstheorien und Popkultur.