Die Gewalt an der Grenze
Die Migrationspolitik der USA wird immer unmenschlicher – doch auch die lateinamerikanischen Verhältnisse müssen in den Blick genommen werden
Von Jana Flörchinger
Ende März starben 39 Migranten, unter anderem aus El Salvador, Guatemala und Honduras in einem Lager für Migrant*innen in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez. Ein Brand war in dem Lager, das der nationalen Migrationsbehörde unterstellt war, ausgebrochen. Kritik am Staat wurde daher schnell geübt: »Fue es Estado« – »Es war der Staat« prangte auf Transparenten und hieß es in Pressemitteilungen sozialer Organisationen, die das Agieren der mexikanischen wie der US-Grenzbehörden scharf kritisierten.
Die schrecklichen Ereignisse von März sind Teil eines Systems struktureller Gewalt, das im Kontext von Grenz- und Migrationspolitik immer wieder das Leben unzähliger Migrant*innen fordert. Sichtbar wird eine Politik, die Leben entrechtet und wertlos macht – und tötet, ohne zu morden: Erst 2021 wurde in Tamaulipas im Norden Mexikos ein Massengrab mit 19 getöteten Migrant*innen gefunden, die brutal hingerichtet worden waren. Tamaulipas ist ein mexikanischer Bundesstaat, durch den eine der zentralen Fluchtrouten von Menschen aus Mittel- und Südamerika führt, die in die USA wollen.
2010 wurden bei einem Massaker in San Fernando im gleichen Bundesstaat 72 Migrant*innen ermordet, vermutlich von Mitgliedern des damals mächtigen Kartells der Zetas. Wenn Migrant*innen in die Fänge eines örtlichen Kartells geraten, geht es häufig auch darum, die Menschen für das blutige Geschäft der organisierten Kriminalität zu rekrutieren, das auf das wertlose und entrechtete Leben ihrer Handlanger angewiesen ist. Weigern sich Migrant*innen, sich dem Kartell anzuschließen, werden sie bestraft und getötet. Die Massaker haben noch eine weitere Funktion: die Demonstration von Macht und Herrschaft. Die brutale Gewalt wird zum Code, zur Nachricht an die anderen Player im Game der organisierten Kriminalität in dem formell-staatliche und informelle Interessen überlappen.
Staat und organisierte Kriminalität
Heute steht das Massaker von San Fernando symbolhaft für die entfesselte Gewalt zwischen Staat und organisierter Kriminalität im Zusammenhang mit der Migration. Die Beispiele machen deutlich, dass die Gewalt, die Migrant*innen auf der Flucht erleben, häufig nicht von einem Akteur auszugehen scheint, sondern sich staatliche Akteure wie Grenzschutz oder Migrationsbehörden und organisierte Kriminalität überlappen. Die strukturelle Gewalt wie an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze oder auf den Fluchtrouten zwischen Süd- und Zentralamerika bis in den Norden Mexikos sind der tragische Ausdruck dessen. Dabei zeichnet sich ab, dass Grenzregime und Migrationspolitik unter der Führung der Vereinigten Staaten immer unmenschlicher werden. Der Zugang zum Recht auf Asyl wird fast unmöglich, und die Menschen werden gezwungen, gefährlichere Routen zu wählen.
Unter den Opfern des Brandes in Ciudad Juárez und des Massakers in Tamaulipas waren vor allem Menschen aus Süd- und Zentralamerika: El Salvador, Guatemala, Honduras, Venezuela. Es liegt nahe, den Fokus auf die Verantwortung der US-Grenz- und Migrationspolitik zu legen, um strukturelle Ursachen benennen zu können. Die lateinamerikanischen und karibischen Kontexte kommen darin jedoch allenfalls als der »Hinterhof« in der Debatte vor.
Die Menschen werden gezwungen, gefährlichere Routen zu wählen.
Die Kritik an der Hinterhofpolitik ist richtig und wichtig. Sie verstellt jedoch den Blick auf die ambivalenten innen- und außenpolitischen sowie ökonomischen Interessen der Regierungen in den Herkunftsländern. Denn weder die widersprüchliche politische Agenda lateinamerikanischer Regierungen noch Perspektiven von Migrant*innen auf der Flucht oder in der Diaspora und damit derjenigen, die mit der Gewalt auf den Fluchtrouten konfrontiert sind, werden darin thematisiert. Eine Auseinandersetzung mit den durchaus ambivalenten Migrationspolitiken in den Herkunftsländern bleibt in der Debatte daher häufig außen vor. Noch weniger werden die Forderungen und Kämpfe in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik thematisiert.
»Es gibt kein Interesse weder seitens der USA noch guatemaltekischen Regierung, Migranten, die vor Armut fliehen oder ins Exil müssen, angemessen zu behandeln«, sagt Lucía Ixchú, die Guatemala nach Repression und Bedrohung verlassen musste, weil sie Teil feministischer und indigener Kämpfe gegen Landvertreibung ist. Die Maya K’iché lebt heute im Exil in Spanien. Die Folgen dieser Abschottung, erklärt Ixchú, »sind, dass Menschen weiter migrieren, weil die strukturelle Gewalt sich nicht verändert hat und sich nicht verändern wird.«
Ablenkung von innenpolitischen Problemen
Die Gewalt, die Migrant*innen erleben, traumatisiert nicht nur unzählige Familien und Communities in den Herkunftsländern, sondern sorgt auch medial und auf politischer Ebene hin und wieder für Entsetzen. Gleichzeitig wird die Gewalt, die andernorts geschieht, auch instrumentalisiert, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. So kam es der Regierung in El Salvador gelegen, dass mexikanische Politik und Behörden auf ganzer Breite versagten, den eingangs erwähnten Brand in Ciudad Juárez zu verhindern. Öffentlichkeitswirksam bezeichnete sie den Brand als Staatsverbrechen und forderte sofortige Konsequenzen der mexikanischen Behörden.
Die Vehemenz, mit der zu Recht Menschenrechtsverletzungen und Behördenversagen seitens der salvadorianischen Regierung betont werden, dient jedoch auch einer moralischen Legitimation nach Innen. Der Widerspruch wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die aktuelle Regierung unter dem Autokraten und Populisten Nayib Bukele seit mindestens einem Jahr in rasantem Tempo die Grundpfeiler der Rechtsstaatlichkeit aushöhlt und das Land in einen punitiven Autoritarismus stürzt, der durch die Normalisierung von Menschenrechtsverletzungen, Folter und Mord, insbesondere durch willkürliche Massenverhaftungen, gekennzeichnet ist. Gewalt, Vertreibung und willkürliche Verhaftungen sind nicht zuletzt Gründe, warum sich Menschen zur Migration entschließen.
Kämpfe um Flucht und Migration
Zentralamerika sei ein Dreh- und Angelpunkt der Migration in den Amerikas, erklärt Ixchú. Auch deshalb zielt die US-Migrationspolitik auf Abkommen zum Beispiel mit Guatemala, das zu einem sicheren Drittland erklärt worden ist. In der öffentlichen Debatte in Europa jedoch komme Lateinamerika und noch weniger Zentralamerika vor. Hier materialisiert sich jedoch die Grenz- und Migrationspolitik, »weshalb man genau deswegen auf diese Länder schauen müsste, um zu verstehen, was passiert«, erklärt Ixchú.
Aber die »Hinterhof«-Politik ignoriert nicht nur die Realität in den Ländern südlich der USA, sondern auch die dort stattfindenden Kämpfe. »Trotz massiver Hürden organisieren sich Migranten in der Diaspora und in den Ländern selbst, um die Realität, in der sie leben, sichtbar zu machen«, sagt Ixchú, die selbst der Gruppe Festivales Solidarios angehört, die indigenen und feministischen Widerstand gegen Landvertreibung mit Klimakämpfen und kritischer Auseinandersetzung mit Migration und Diaspora verbindet. Mit der Sichtbarmachung der Kämpfe treten auch die Forderungen in den Vordergrund, die, so Ixchú, »vor allem auf den Straßen und in den Landkämpfen entstehen. Das können Forderung nach dem Wahlrecht in den Ankunftsländern sein oder Zugang zu Infrastruktur auf den Fluchtrouten. Außerdem, dass Rechte und Regularien der Flucht und Migration anerkannt und durchgesetzt werden.«