»Die gemeinsame Erklärung ist rassistisch«
Vertretungen der Ovaherero und Nama wollen die namibisch-deutsche Vereinbarung zum Völkermord kippen
Von Ulrike Wagener
Sima Luipert steht auf der Bühne des Berliner Hauses der Kulturen der Welt (HKW) und erzählt die Geschichte ihres Kleides. Wie die Frauen aus Textilfetzen, die sie am Rande des Konzentrationslagers fanden, Patchwork-Kleider machten, genäht nach der viktorianischen Mode, die die europäischen Missionarinnen trugen. »Mein Kleid ist ein lebendiges Archiv von Kolonialismus und dem Widerstand dagegen«, sagt sie.
Ihre Rede auf der Konferenz »Der deutsche Völkermord in Namibia. Ein Fall für Reparationen« Anfang November berührt viele Menschen im Saal, das Publikum klatscht mit Standing Ovations. Die 53-Jährige berät die Nama Traditional Leaders Association in Bezug auf den Genozid, den deutsche Truppen zwischen 1904 und 1908 an den Ovaherero und Nama begangen haben. Deutsche Truppen töteten Historiker*innen zufolge etwa 65.000 der 80.000 Herero und mindestens 10.000 der 20.000 Nama und beraubten sie ihres Landes und ihrer Lebensgrundlage. Bis heute sind rund 70 Prozent des fruchtbaren Privatlands im Besitz Nachfahren weißer Europäer*innen. Viele Herero und Nama leben in großer Armut.
»Keine leugnerischen Verhandlungen werden uns verschwinden lassen. Keine Nachverhandlungen werden uns verschwinden lassen«, sagt Luipert. Sie kämpft seit Jahren für die Selbstrepräsentation der Herero und Nama bei Verhandlungen mit Deutschland. Zusammen mit Anwalt Patrick Kauta bereiten die Ovaherero Traditional Authority, Nama Traditional Leaders Association und Bernadus Swaartpooi, Vorsitzender des Landless People Movement (Landlosenbewegung), eine Klage gegen die namibische Regierung vor.
Die Klage in Namibia wäre die erste ihrer Art vor dem Gericht einer ehemaligen Kolonie. Die drei Parteien wollen die Gemeinsame Erklärung zwischen Deutschland und Namibia kippen. Das Papier sieht eine Finanzbeihilfe über 1,1 Milliarden Euro über einen Zeitraum von 30 Jahren vor. Außerdem die juristisch verklausulierte Anerkennung des Genozids »aus heutiger Perspektive« und eine öffentliche Entschuldigung (ak 672 & 674). Als das Papier im Sommer vergangenen Jahres im namibischen Parlament auf der Tagesordnung stand, stürmten Protestierende das Gelände. Innerhalb des Parlaments gab es keine Einigung, das Dokument wurde bis heute nicht ratifiziert und von beiden Seiten nicht unterschrieben. Eine Bundestagsdebatte über das Papier ist nicht vorgesehen.
Die Klage in Namibia wäre die erste ihrer Art vor dem Gericht einer ehemaligen Kolonie.
Die Organisationen wollen selbst mit Deutschland über Reparationen verhandeln. Im Laufe der Verhandlungen hat Namibia ein »Chiefs Forum« eingerichtet, wo traditionelle Vertretungen der Herero und Nama als Berater*innen in den Prozess eingebunden sein sollten. Die traditionelle Autorität der Ovaherero (OTA) und die Vereinigung der traditionellen Nama-Chiefs (NTLA) lehnten das ab. »Wir wollen nicht beraten, wir wollen selbst verhandeln«, sagt Luipert. Einige Vertretungen der Ovaherero, die in Royal Houses organisiert sind, nahmen dies jedoch wahr. Gänzlich ausgeschlossen werden durch die zwischenstaatlichen Verhandlungen die Ovaherero und Nama in der Diaspora, deren Vorfahren aufgrund des Genozids nach Botswana, Angola oder in andere Länder vertrieben wurden und heute nicht in Namibia leben. Katijua sagt: »Nur die traditionellen Vertretungen der Ovaherero und Nama sind transnational«, im Gegensatz zum namibischen Staat. Die Gruppen befürchten außerdem, dass die namibische Regierung die Gelder nicht zugunsten der betroffenen Bevölkerungsgruppen verteilen könnte, sondern zugunsten der Mehrheitsgesellschaft.
Keine rechtliche Anerkennung
Im Oktober dieses Jahres verkündete die namibische Regierung, man wolle Nachverhandlungen über die Höhe der Zahlungen. Seitens der Bundesregierung hieß es, beide Seiten hielten an der Gemeinsamen Erklärung fest, einzig über offene Fragen der Umsetzung würde derzeit in vertraulichen Gesprächen ein Nachtrag entwickelt. »Wir sind nicht für Neuverhandlungen eines fehlerhaften Vertrags. Wir werden neu verhandeln«, sagt Katjiua. Doch Verhandlungen mit und Reparationen an die Nachfahren der betroffenen Gruppen lehnt Deutschland kategorisch ab. In der Gemeinsamen Erklärung wurden jegliche juristische Begriffe, die einen Präzendenzfall für andere ehemaligen Kolonien schaffen könnten, vermieden. Stattdessen heißt es: »Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkrieges verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden.« Damit wird der Genozid nur politisch, nicht aber rechtlich anerkannt.
Diese Formulierung ist einer der Gründe für die mögliche Klage. »Die gemeinsame Erklärung ist rassistisch. Sie untermauert die juristischen Argumente Deutschlands vor dem New Yorker Gericht, dass wir zum Zeitpunkt des Völkermordes ›Wilde‹ waren und daher nicht unter den Schutz des Völkerrechts fallen«, sagt Katjiua im Gespräch mit ak. 2015 hatten die Organisationen die Bundesregierung vor ein New Yorker Gericht gebracht. Die Klage wurde abgewiesen, das Gericht sah sich nicht zuständig für den Fall.
Die Juristin Karina Theurer berät den Anwalt Patrick Kauta auf dem Gebiet des Völkerrechts. Sie erklärt gegenüber ak: »Völkermord war auch damals nach europäischen Normen ein Rechtsbruch, aber nur, wenn er an einem ›zivilisierten Volk‹ verübt wurde. Indem die Bundesregierung den Genozid an den Herero und Nama nur aus ›heutiger Perspektive‹ anerkennt, wendet sie die kolonialrassistische Annahme an, sie seien ›unzivilisierte Völker‹ gewesen.«
Die namibische Regierung trage das in der Erklärung mit. »Das verstößt gegen ihre verfassungsgemäßen Pflichten, gegen die Reproduktion von Rassismus vorzugehen«, sagt Kauta. Der Windhuker Anwalt ist selbst Herero. Aus seiner Sicht ist die Gemeinsame Erklärung in ihrer jetzigen Form »nicht im Einklang mit der Verfassung, sie verletzt die Menschenrechte und das Völkergewohnheitsrecht«. Dafür nennt er drei weitere Gründe: Indem sie Deutschland in geheimen Verhandlungen zugesichert habe, die finanziellen Forderungen seien hiermit auch für künftige Generationen abgeschlossen, habe sie ihre verfassungsgemäßen Befugnisse überschritten. Der Auftrag des Parlaments, »volle Entschädigung im Sinne des Völkerrechts« zu verhandeln, sei durch die vereinbarte Finanzbeihilfe nicht erfüllt.
Außerdem widerspreche der Ausschluss der Ovaherero und Nama als Verhandlungspartner*innen dem Selbstbestimmungsrecht indigener Völker, dass sich aus einer UNO-Deklaration ergibt. All das hatte Kauta bereits im September an den Generalstaatsanwalt herangetragen und eine Zusicherung eingefordert, dass die Gemeinsame Erklärung nicht ohne Beteiligung des Parlaments unterzeichnet werden dürfe. Der Generalstaatsanwalt ist in Namibia für die Wahrung der Verfassung zuständig. Seine Antwort war eher ungehalten, er drohte Kautas Klient*innen mit Strafzahlungen.
Die Konferenz »Der deutsche Völkermord in Namibia«
Auf der Konferenz »Der deutsche Völkermord in Namibia. Ein Fall für Reparationen« am 5. November 2022 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin wurden in Kollaboration mit dem ECCHR Recherchen von Forensic Architecture vorgestellt, die die systematische Vertreibung der Ovaherero und Nama durch die deutschen Kolonialtruppen rekonstruieren. Auf dem Podium sprachen Vertreter*innen der Communities der Ovaherero, Ovambanderu und Nama über die Auswirkungen der Kolonialverbrechen auf ihr Leben bis heute und ihre Forderungen nach Reparationen und Wiedergutmachung.
Luiperts Kleid erzählt den Genozid aus der Perspektive der Frauen, die, während die Männer mit Waffen gegen deutsche Truppen kämpften, sich um Kinder kümmerten und Lebensmittel beschafften. Sie waren immenser Gewalt ausgesetzt: Frauen wurden vergewaltigt, nackt erhängt, sie mussten die Schädel ihrer ermordeten Männer abschaben, die zu Zwecken rassistischer »Forschung« nach Deutschland gebracht wurden. Viele dieser Schädel befinden sich bis heute unter anderem im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Nicht wenige Ovaherero und Nama haben weiße deutsche Urgroßväter. »Das hat einen Effekt auf die Menschen heute: Wie kommt es, dass ich lebe?«, das fragen sich viele, sagt Esther Muinjangue auf der Konferenz im HKW. Die 51-Jährige sitzt für die National Unity Democratic Organisation (Nationale Demokratische Einheitsorganisation) im namibischen Parlament und ist Vizeministerin für Gesundheit und Soziale Dienste. Sie ist Herero und die erste Oppositionspolitikerin, die seit der Unabhängigkeit 1990 so ein hohes Amt im Land bekleidet.
»Dieses Trauma wird von einer Generation an die nächste weitergegeben«, sagt sie. Doch Gender-Fragen würden in der Gemeinsamen Erklärung nicht angesprochen. Für sie ist auch das ein Grund, zurück an den Verhandlungstisch zu gehen: »Es geht hier nicht nur um Geld. Wir wollen uns selbst wiederherstellen.« (We want to restore ourselves.)
Dafür kämpfen auch Kautas Klient*innen. Um den Preis, dass ein Abschluss der Verhandlungen sich noch weiter hinziehen könnte. »Unser Recht auf Selbstbestimmung wird sowohl von der namibischen, als auch von der deutschen Regierung verletzt und das schon seit 16 Jahren. Wir haben also keine andere Wahl, als den Rechtsweg zu beschreiten«, sagt Sima Luipert im Gespräch mit ak. »Wir wollen keine Entwicklungshilfe von Deutschland, wir wollen Reparationen.«