»Die fossile Industrie propagiert Phantom-Klimaschutz«
Die Journalistin Kathrin Hartmann über Opferzonen in den USA und Kohlenstoff-Kolonialismus
Interview: Guido Speckmann
Eigentlich liegt es auf der Hand: Mehr Klimaschutz ist dringend nötig, denn die Emissionen steigen weiter. Doch die deutsche Klimapolitik setzt auf Flüssigerdgas, grünen Wasserstoff und die Speicherung von CO2 unter der Nordsee. All das ist »Öl ins Feuer« und heizt die Klimakrise weiter an, kritisiert Kathrin Hartmann in ihrem gleichnamigen Buch.
Frau Hartmann, Sie haben in die Hölle geschaut, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch – und die Hölle sei die »klimaneutrale Klimakatastrophe«. Das sind starke Worte, die Sie erläutern müssten.
Kathrin Hartmann: In die Hölle geschaut habe ich auf meiner Reise nach Texas und Louisiana an der US-Golfküste. Dort ist die Öl- und Gasindustrie konzentriert, Raffinerie reiht sich an Raffinerie, Chemiefabrik an Chemiefabrik. Ich war in der sogenannten Cancer Alley in Louisiana, diesem Teil des Mississippi, wo auf 180 Kilometern sage und schreibe 200 fossile und petrochemische Anlagen stehen. Und in direkter Nachbarschaft dazu gibt es Gemeinden, die vor allem von Armen und People of Color bewohnt werden. Dort wird nichts mehr in die soziale Infrastruktur investiert, die Gebiete werden zu Industriegebieten erklärt, die Menschen quasi unsichtbar gemacht. Die Krebsraten dort sind exorbitant hoch, Atemwegserkrankungen aufgrund der Luftverschmutzung weit verbreitet. Schon Dreijährige sind auf Atemgeräte angewiesen. Ich habe den Dreck auch sofort selbst bemerkt, hatte ständig Augenbrennen und Halskratzen. Mein Begleiter, der Aktivist John Beard aus Port Arthur, hat mir erzählt, dass sie nur im Urlaub kein Nasenbluten, keine Kopfschmerzen und keinen Hautausschlag haben.
Gibt es keine Vorschriften für die Industrien?
Die Industrie wird kaum reguliert. An der Golfküste stehen auch die Exportterminals für verflüssigtes Erdgas, LNG, das unter anderem nach Deutschland verschifft wird. Das sorgt für noch mehr Emissionen von giftigen Stoffen. Der fossile Ausbau wird dort vorangetrieben, um der Gasindustrie das Geschäft zu sichern. Gleichzeitig ist die US-Golfküste ein Ort, der von der Klimakatastrophe bedroht ist. Die Hurrikane nehmen zu, und die Menschen können sich keine Versicherungen leisten. Und wenn, dann zahlen sie nicht. Die Folge: Es gibt Gegenden, in denen viele Ruinen stehen oder Dächer mit türkisfarbenen Plastikplanen abgedeckt sind, weil die Menschen ihre beschädigten Häuser nicht mehr reparieren können. Gemeinhin geht man ja davon aus, dass der Kapitalismus ein Außen braucht, wo er sein Gift und seinen Dreck abladen kann. Aber das wird normalerweise im Globalen Süden verortet. Doch an der US-Golfküste ist dieses Außen gleich nebenan. Täter, Tatort und Opfer liegen auf engstem Raum beieinander.
Eine Kernthese Ihres Buches lautet: Nicht mehr die Klimaleugnung ist das Problem, sondern technologische Scheinlösungen, mit denen Profite gemacht werden. Über welche Technologien reden wir hier?
Darunter fallen das Abfangen und Speichern von CO2 bei industriellen Prozessen, bekannt unter der Abkürzung CCS, die für Carbon Capture and Storage steht. Es geht auch um Direct Air Capture, das Herausfiltern von CO2 aus der Umgebungsluft, oder um alles, was unter Geoengineering fällt – etwa die Verdunkelung der Sonne. Aber auch um grünen Wasserstoff. Denn den gibt es de facto nicht.
Kathrin Hartmann
arbeitete als Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau und beim Neon Magazin. Seit 2009 veröffentlicht sie Bücher, die sich vor allem mit Themen im Spannungsfeld von Umweltpolitik und Konzerninteressen beschäftigen. Beispiele sind »Aus kontrolliertem Raubbau« (2015) und »Die grüne Lüge« (2018). Ihr jüngstes Buch trägt den Titel »Öl ins Feuer. Wie eine verfehlte Klimapolitik die globale Krise vorantreibt« (Rowohlt, Hamburg 2024. 271 Seiten, 18 Euro). Foto: Thomas Dashuber
Wieso nicht?
Weil höchstens ein Prozent des weltweit produzierten Wasserstoffs grün ist, und die Herstellung von grünem Wasserstoff aufwändig, teuer und ineffizient ist. Bei der Elektrolyse aus Wasser geht ein Drittel der Energie verloren. Die Bundesregierung will 75 Prozent des Wasserstoffs importieren, weil sie weiß, dass sie nicht so viel Fläche für Windkraftanlagen, also Ökostrom, zur Verfügung stellen kann, wie für die Produktion der angestrebten Menge grünen Wasserstoffs nötig wäre. Ein einziges Stahlwerk benötigt dafür 3.000 Windräder, das sind zehn Prozent aller Windräder in Deutschland. Die Flächen sollen bitte schön andere Länder – vor allem im Globalen Süden – zur Verfügung stellen. Damit werden ungleiche Machtverhältnisse und koloniale Muster fortgeschrieben.
Was ist mit CO2-Speicherung? Immerhin werden solche Projekte in Norwegen doch als Vorzeigemodelle gehandelt.
Ja, zum Beispiel von unserem Minister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck. Aber selbst die bringen nicht das, was man sich von ihnen erhofft hat. Bei der Anlage Sleipner ist das gespeicherte CO2 in eine höhere Gesteinsschicht, die trotz aufwändiger vorheriger Untersuchung nicht entdeckt worden war, entwichen. Bei der Anlage Snøhvit war die Speicherkapazität viel geringer als angenommen. Der Druck stieg so sehr, dass für weitere Millionen Euro eine neue Lagerstätte gesucht werden musste. Generell gilt: CCS-Projekte sind wahnsinnig teuer und gefährlich. 80 Prozent der Pilotprojekte sind gescheitert.
Viel Geld wird in Scheinlösungen gesteckt und fehlt für klimapolitisch sinnvolle Projekte.
Aber kann die CO2-Speicherung nicht doch irgendwann mal funktionieren?
Selbst alle Anlagen, die es heute weltweit gibt und die geplant werden, würden nur ein Prozent der globalen CO2-Emissionen einfangen. Nur zum Vergleich: Sleipner und Snøhvit speichern zusammen 1,8 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Ein Tempolimit, das nichts kostet, die Luft verbessert und die Unfallgefahr reduziert, 6,7 Millionen Tonnen. Dieses viele Geld, das in solche Scheinlösungen gesteckt wird, fehlt für die Klimaanpassung der Städte oder für klimapolitisch sinnvolle Projekte. Und wir verlieren dadurch weitere Jahre im Kampf gegen die Klimakrise.
Warum wird dann immer mehr Hoffnung auf diese Scheinlösungen gesetzt?
Weil sie in Aussicht stellen, dass es technische Lösungen gibt, mit denen alles so weitergehen kann wie bisher. Es ist interessant, dass die Akteure der früheren Klimaleugnung und der gegenwärtigen Scheinlösungen dieselben sind. Die fossile Industrie hat systematisch Zweifel am menschengemachten Klimawandel gesät und jetzt propagieren sie Phantom-Klimaschutzinstrumente. Carbon Capture ist eine Technologie zur Ölförderung: Seit Jahrzehnten wird abgespaltenes CO2 in Erdölreservoirs gepumpt, um die Ausbeute zu steigern. Das nennt sich Enhanced Oil Recovery (EOR). In den USA gilt solches Öl als »emissionsarm« und wird subventioniert. Die Ölindustrie gibt offen zu, dass sie damit ihr fossiles Geschäft weiter betreiben können. So zum Beispiel Vicki Hollub, Präsidentin des Öl- und Gaskonzerns Occidental Petroleum. Sie sprach mit Blick auf CCS und Co. von einer Verlängerung ihres Geschäftsmodells für die nächsten sechzig, siebzig, achtzig Jahre.
Die Lektüre Ihres Buches hat bei mir eine etwas fatalistische Stimmung hinterlassen. Es wird nicht nur zu wenig Klimaschutz betrieben, sondern das, was man gemeinhin als Klimapolitik bezeichnet, sind Strategien, um der fossilen Industrie auch in Zukunft ihr Geschäft zu ermöglichen. Sie haben auf Ihren Recherchereisen Umweltaktivist*innen getroffen. Haben Ihnen diese Begegnungen Hoffnung gegeben?
Mir ging es bei den Recherchen und Reisen ähnlich. Ich dachte, okay, das war’s jetzt. Aber das kann und darf ich mir natürlich nicht erlauben, weil die Aktivist*innen, mit denen ich unterwegs war, jeden Tag in den Opferzonen leben müssen. Und auch gar nicht weg wollen: Darum kämpfen sie gegen diese Industrie. Viele der Schwarzen Aktivist*innen sind Nachfahren der Versklavten. Oft waren sie vorher in Nachbarschaftsinitiativen aktiv, um Menschen nach Hurrikans zu helfen. Dann haben sie erkannt, dass sie auch die Ursachen von Wetterextremen bekämpfen müssen. Sie haben oft auch eine Vision von einem anderen Leben – etwas, das mir in Deutschland fehlt. In den USA gibt es eine wachsende Solidaritätsbewegung gegen schmutzige Industrien vor Ort, teils auch angeführt von ehemaligen Beschäftigten dieser Industrie. Und diese schafft es auch, mit dem Arbeitsplatz-Narrativ zu brechen. Denn die wenigen Jobs werden nicht mal für die Menschen vor Ort geschaffen. Das macht mich zuversichtlich – ebenso wie die Zusammenarbeit von Aktivist*innen in den USA und Deutschland im Anti-LNG-Widerstand oder Beispiele für agrarökologische Projekte von Kleinbäuer*innen in Sambia. Dort habe ich Menschen getroffen, die zeigen, wie man ohne den teuren und die Erde zerstörenden Dünger der Chemieindustrie viel besser leben kann.
Kohlenstoff-Kolonialismus heißt ein Kapitel in Ihrem Buch. Was ist damit gemeint?
Kohlenstoff-Kolonialismus zielt auf den Handel mit Kohlenstoff-Zertifikaten. Man kennt das vom Einkaufen. Produkte werden als »klimaneutral« bezeichnet, weil der Hersteller in Aufforstungs- oder Waldschutzprojekte im Globalen Süden investiert, also CO2-Kompensation betreibt. Auf diese Weise kann sich die Industrie auf dem Papier klimaneutral rechnen, weil sie entsprechende Zertifikate aus dem Globalen Süden einkauft. In Sambia beispielsweise soll Wald geschützt werden. Aber: Das geht mit dem Ausschluss von Bäuerinnen und Bauern und Communities einher, die ich getroffen habe. Die dürfen plötzlich ihren Wald nicht mehr oder nur noch eingeschränkt nutzen, weil es heißt, die lokale Bevölkerung würde den Wald zerstören – übrigens ein rassistisches und koloniales Narrativ. Für den Klimaschutz bringt es nichts, weil die Projekte zum Betrug einladen, die Annahmen falsch sind, letztlich mit heißer Luft gehandelt wird. Das ist für mich der Inbegriff der klimaneutralen Klimakatastrophe. Diejenigen, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, aber am meisten darunter leiden, werden auch noch zu Tatortreinigung der Klimakrise degradiert.
Handelt es sich bei den Kompensationsprojekten nicht auch um unterschiedliche CO2-Kreisläufe?
Ja, CO2 ist nicht gleich CO2. Öl und Gas lagern seit Millionen und Abermillionen von Jahren in der Erde und würden dort für immer bleiben, wenn die Industrie sie nicht fördern würde. Wälder speichern zwar Kohlenstoff, aber erstens müssen die Bäume dafür viele Jahre wachsen und zweitens sorgt die Klimakrise nicht nur für Waldbrände, sondern auch für Dürren und Schädlingsbefall, was die die Speicherkapazität der Bäume reduziert.
Sehen Sie einen Ausweg aus der klimaneutralen Klimakatastrophe?
In der Wissenschaft ist das im Grunde klar, wie der aussehen muss, teils auch in der Politik. Fossile Energien müssen im Boden bleiben, erneuerbare ausgebaut werden. Außerdem bräuchten wir eine Agrarwende weg von der wahnsinnigen Fleischproduktion und inputintensiven Monokulturen, wir brauchen eine Mobilitätswende: weniger Autos, Investitionen in Schiene und öffentlichen Nahverkehr. Doch in Deutschland passiert in dieser Richtung kaum etwas. Ein Tempolimit, das nichts kostet, aber die Emissionen senkt, ist nicht durchsetzbar. Das Gebäudeenergiegesetz wurde aufgeweicht, ebenso das Klimaschutzgesetz mit seinen einzelnen Sektorzielen. Auch die umweltschädlichen Subventionen werden nicht angegangen. Der Klimaschutz wird zurückgefahren – und das hängt auch damit zusammen, dass man auf Scheinlösungen wie Technologien oder Kompensationen setzt. Deshalb ist es so wichtig, diese Scheinlösungen zu entlarven.