Die erneute Häutung der Schlange
Mit dem Rauswurf von Andreas Kalbitz geht der Flügelkampf der AfD in die nächste Runde
Von Maike Zimmermann
Wir sind Grundgesetz«, postet die AfD auf ihrer Facebookseite. Der Landesverband Brandenburg zeigt ein Banner mit dem Slogan: »Staatlich überwachte Opposition? Kennen wir schon. #Verfassungsschutz statt Regierungsschutz«. Und der sächsische Landesverband mutmaßt: »Neuer Verfassungsschutzchef: Totalitärer Umbau Richtung Stasi?«
Spätestens seit Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang am 12. März die Beobachtung des Flügels verkündete, gehört der deutsche Inlandsgeheimdienst zu den ausgemachten Feindobjekten der AfD. Es handele sich beim Flügel, so Haldenwang, um eine »gesichert rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung«. Bei der Pressekonferenz bezeichnete er namentlich Björn Höcke und Andreas Kalbitz explizit als Rechtsextremisten. Beide werden, was ihre außerparlamentarischen Tätigkeiten angeht, seit Anfang des Jahres mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet.
Seitdem ist durchaus etwas wie Verunsicherung in Teilen der AfD festzustellen. Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass sich nun etwa kritisch mit dem eigenen Personal, deren Verbindungen in die extreme Rechte und deren Positionen auseinandergesetzt würde. Die Fragen sind eher strategischer Natur und fokussieren darauf, was der Partei am wenigsten Schaden zufügt. Entsprechend gibt man sich kämpferisch: Nicht die rechtsextremen Bestrebungen des Flügels sind das Problem, sondern der Staat, der darauf reagiert. Die AfD versucht sich dabei absurderweise als Rechtsstaatspartei zu inszenieren, die das Grundgesetz gegen einen totalitär umgebauten Staat verteidigt. Im Prinzip fügt sich das nahtlos ein in die alte Leier vom »Mut zur Wahrheit« und dem Gezeter über eine angebliche Meinungsdiktatur, eine weitere Opferinszenierung also. Dabei ist die Frage, wie man mit dem Flügel verfahren sollte, durchaus etwas kniffelig.
Die Gretchenfrage der AfD
Björn Höcke und Andreas Kalbitz hatten den Flügel-Anhänger*innen am 24. März per Facebook mitgeteilt: »Wir fordern alle, die sich der Interessensgemeinschaft angehörig fühlen, auf, bis zum 30. April ihre Aktivitäten im Rahmen des Flügels einzustellen.« Aber was heißt das? Sind die rund 7.000 Flügel-Anhänger*innen nun aus dem Schneider? Oder droht etwa die Beobachtung ganzer Landesverbände? Oder spielt es am Ende gar keine Rolle, ob sich eine Bestrebung, die es als Organisation ja angeblich nie gegeben hat, formal aufgelöst hat oder nicht? Denn: Zusammenschlüsse gelten unter bestimmten Bedingungen auch ohne eine formale Gründung als nicht-eingetragene Vereine, und selbst inoffizielle Verbindungen, wie zum Beispiel Neonazikameradschaften wurden in der Vergangenheit mit Hilfe des Vereinsrechts verboten.
Die Gretchenfrage der AfD lautet: »Wie halten wir es mit dem Rechtsextremismus?« Aber diese Frage wird nicht etwa inhaltlich gestellt, es geht nicht darum, ob die AfD Rechtsextremismus falsch oder gefährlich oder menschenverachtend findet. Es geht darum, ob eine mangelnde Abgrenzung dem Aufstieg der Partei schadet oder ob ihr die Sammlung aller Kräfte am rechten Rand im Gegenteil sogar nützt. Das Streben nach Koalitionsfähigkeit steht dem Modell der fundamental-oppositionellen Bewegungspartei entgegen.
Dass eine mangelnde Abgrenzung vom Rechtsextremismus der AfD zumindest an den Wahlurnen kaum schadet, zeigen die Wahlergebnisse bei Flügel-dominierten Landesverbänden. Krassestes Beispiel: Andreas Kalbitz. Antifaschist*innen und Journalist*innen decken seit rund zwei Jahren wieder und wieder dessen Verbindungen in die Neonaziszene auf. 2018 veröffentlichte das Magazin Kontraste Bilder, die den früheren Brandenburger Landeschef der AfD bei einem Pfingstlager der im Jahr 2009 verbotenen Heimattreuen deutschen Jugend (HDJ) zeigten: Fotos aus dem Jahr 2007, nicht lange vor seinem Eintritt in die AfD im Jahr 2013. Kalbitz reagierte ausweichend, ähnlich wie er es bereits ein Jahr vorher getan hatte. Da ging es allerdings nicht um Neonazikontakte, sondern um sein angebliches Informatikstudium in Brandenburg an der Havel. Als es nicht mehr anders ging, gab er zu, dort nie wirklich studiert zu haben. »Ich war aber mal da und habe auch mit einer Professorin gesprochen.« An Namen konnte er sich allerdings nicht mehr erinnern. Das passiert dem ehemaligen Fallschirmjäger offensichtlich häufiger. Ach echt? Ich war mal bei der HDJ? Weiß ich gar nicht mehr so genau. Habe ich mir wahrscheinlich nur mal angeguckt. Oh, ich war mit NPD-Funktionären zu Besuch bei der neonazistischen Goldenen Morgenröte in Griechenland? Naja, schon möglich, aber das ist so lange her… Ich bin halt ein neugieriger Mensch.
Das Verrückte an dieser jahrelang währenden Salamitaktik: Es war seinen Wähler*innen egal. 23,5 Prozent jener Wahlberechtigten, die in Brandenburg im Herbst 2019 ihr Stimmrecht wahrnahmen, wählten diesen Mann, die meisten davon sicherlich nicht aus Versehen. Zusätzlich wurde der politische Ziehsohn von Alexander Gauland neben Björn Höcke zur Führungsfigur des Flügels. Dieser war bis zu seiner Auflösung zwar in der Partei zahlenmäßig klar in der Minderheit, beeinflusste die Geschicke der AfD jedoch wie keine andere innerparteiliche Gruppierung. Das ist nach früherem Kuschelkurs nun wohl auch AfD-Parteichef Jörg Meuthen aufgefallen − oder zumindest nützt es ihm. »Tatsächlich zeigte sich immer stärker, dass maßgebliche Akteure des Flügels als Minderheit schrittweise die ganze Partei übernehmen wollten«, sagte er Ende Mai der Augsburger Allgemeinen.
Nur machtstrategisches Kalkül
Wenn dann durch den Verfassungsschutz bestätigt wird, dass ein Andreas Kalbitz die Formalia beim Parteieintritt nicht eingehalten hat, ja sogar gelogen zu haben scheint, ist das natürlich die Gelegenheit, um dem Flügel post mortem die Flügel zu stutzen, indem man Kalbitz aus der Partei ausschließt. Denn mit einer AfD à la Kalbitz sieht es auf absehbare Zeit schlecht aus mit der Koalitionsfähigkeit. Nochmal: Niemand in der AfD scheint ein Problem damit zu haben, dass dieser Mann ein Neonazi sein könnte oder zumindest enge Kontakte zu Neonazis pflegt oder gepflegt hat.
Der Streit zwischen Meuthen und Kalbitz, bei dem nun auch auf verschiedenen Ebenen der Rechtsweg beschritten wird, ist dabei vorangegangenen innerparteilichen Konflikten nicht unähnlich. Erinnern wir uns zum Beispiel an Frauke Petry: In ihrem Zukunftsantrag aus dem Jahr 2017 ging es um eine strategische Distanzierung vom Rechtsextremismus, um früher regierungsfähig zu werden. Warum dies die richtige Strategie sei, erklärte sie in einem Video sinngemäß so: Das deutsche Volk habe keine Zeit zu warten, denn wenn die AfD so lange brauche wie die Grünen, sei es zu spät, und es wären schlicht keine Biodeutschen mehr da. Deswegen die Schlussfolgerung: Die AfD müsse schnell regierungsfähig werden, und dafür sei es nun mal sinnvoll, nicht als rechtsextrem verschrien zu sein.
Petry musste damals die Partei verlassen. Ob Meuthen das gleiche Schicksal ereilen wird, ist bisher noch nicht abzusehen. Unterstützung erfährt er von einer der größten und ältesten Zeitungen der Neuen Rechten, der Jungen Freiheit. Diese gab im April beim Meinungsforschungsinstitut Insa eine Umfrage in Auftrag. Demnach wünschten sich 45 Prozent der AfD-Wähler*innen eine stärkere Abgrenzung nach rechts, 38 Prozent fänden dies falsch.
Auf der anderen Seite gibt es viel Rückhalt für Andreas Kalbitz, nicht zuletzt von seinem Landesverband. Damit Kalbitz auch nach seinem Parteiausschuss Teil der AfD-Fraktion bleiben kann, änderte die Brandenburger AfD-Fraktion eigens ihre Geschäftsordnung − 18 von 21 der anwesenden Abgeordneten stimmten dafür, eine überwältigende Mehrheit.
Es wird sich wohl über den Sommer entscheiden, wie diese Parteiposse ausgehen wird. Dabei sind beide möglichen Ergebnisse unangenehm: Mit einer Rückkehr von Andreas Kalbitz würden ein weiteres Mal die rechtsextremen Teile der Partei gewinnen. Sollte sich die AfD aber ihrer Neonazis entledigen, würde sie das nicht weniger gefährlich machen. Im Gegenteil: Eine Normalisierung rechter und rassistischer Positionen fiele ihr vermutlich noch leichter als jetzt.
Doch vielleicht kommt auch alles ganz anders. Erst Verfassungsschutz, dann Parteistreit um die Causa Kalbitz und dann auch noch eine wirklich schlechte Figur in der Corona-Krise − zack! Die AfD sackt in bundesweiten Umfragen auf unter zehn Prozent. Damit sich dieser Trend fortsetzt, ist es vor allem wichtig, der AfD in der drohenden Wirtschaftskrise nicht das Feld zu überlassen. Denn das ist durchaus eine Klaviatur, die diese Partei, insbesondere die Kräfte, die sich bis dato im Flügel sammelten, in der Lage ist zu bespielen.