Die Corona-Verschärfungen im Strafvollzug bringen Gefangene in Gefahr
Inhaftierte zählen in der Corona-Pandemie zur Risikogruppe, doch freigelassen werden die wenigsten
Von Timo Stukenberg
Wer hätte gedacht, dass sich Berliner Anarchist*innen und der Papst einmal einig sein würden? »Gefängnis löst keine Probleme, sondern ist selbst ein Problem, das gelöst werden muss«, sagte der Papst im September vor Mitarbeiter*innen des italienischen Strafvollzugs. Er kritisierte damit die Überbelegung der italienischen Gefängnisse. Berliner Anarchist*innen fordern in der Corona-Krise, wenig überraschend ebenfalls, mehr Gefangene zu entlassen.
Man kann versuchen, dieses Ziel durch Beten oder direkte Aktionen zu erreichen. Christian F. hat es auf juristischem Weg versucht. Der Gefangene der Berliner JVA Plötzensee hat zahlreiche Vorerkrankungen, die ihn laut Robert Koch Institut zur Risikogruppe machen: Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sollte sich der 43-Jährige mit dem Coronavirus infizieren, könnte die Lungenkrankheit Covid-19 bei ihm einen tödlichen Verlauf nehmen. Das hat ihm ein Arzt in einem Attest bestätigt.
Ist das Virus einmal hinter Gittern, sind die Gefangenen einer Ansteckung auf engem Raum schutzlos ausgeliefert.
Der Staat könne im Gefängnis seiner Fürsorgepflicht nicht nachkommen, schreibt die Anwältin von Christian F. in dessen Antrag auf Haftentlassung. Denn ist das Virus einmal hinter Gittern, sind die Gefangenen einer Ansteckung auf engem Raum schutzlos ausgeliefert. Viele Gefangene haben Anträge gestellt, um vorzeitig oder zumindest zeitweise entlassen zu werden. Doch trotz der Gesundheitsgefahr entlassen die Justizbehörden Gefangene nur zögerlich. Auch Christian F. sitzt immer noch in seiner Zelle.
Die Forderung, Haftstrafen weitgehend abzuschaffen, ist nicht neu. Aber in der Pandemie bekommt sie auf einmal eine neue Dringlichkeit.
Hoffen, dass es nicht so schlimm wird
Die Haftanstalten sollen auch in der Krise den Betrieb aufrechterhalten. Dafür versuchen sie, sich abzuschotten und so eine Einschleppung zu verhindern. Keine leichte Aufgabe bei einem 24-Stunden-Betrieb, in dem üblicherweise Lieferant*innen und Handwerker*innen, Anwält*innen und Berater*innen, Freigänger*innen und Mitarbeiter*innen in mehreren Schichten ein- und ausgehen. Daher sind Besuche von Angehörigen seit einigen Wochen komplett verboten, Ausgänge von Gefangenen werden nur unter strikten Voraussetzungen genehmigt, Resozialisierungsmaßnahmen wie Gruppentherapien größtenteils abgesagt.
Die Hamburger JVA Glasmoor, in der der deutschlandweit erste Corona-Infektionsfall bestätigt wurde, hat das Anstaltsleben drei Wochen nach den ersten Maßnahmen nach eigenen Angaben umgekrempelt. Die Küchen auf den Stationen seien geschlossen und würden nur noch für maximal zwei Gefangene gleichzeitig geöffnet, die Mahlzeiten einzeln an die Gefangenen ausgegeben, schreibt ein Sprecher auf Anfrage. Die Duschen und Telefone würden häufiger gereinigt und auf dem Boden Abstandsmarkierungen angebracht.
Zudem wird Platz geschaffen. In fast allen Bundesländern wurden Ersatzfreiheitsstrafer – Menschen, die wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe inhaftiert sind – entlassen. In Bremen gab es zum Beispiel eine »Corona-Amnestie« für 26 Gefangene, die mindestens 50 Jahre alt sind oder eine entsprechende Vorerkrankung haben. In Niedersachsen hingegen gebe es »keine generellen, ›coronabedingten‹ Unterbrechungen von (Ersatz-)Freiheitsstrafen«, schreibt ein Sprecher des Justizministeriums auf Anfrage.
Damit sich die Gefängnisse nicht wieder füllen, wurden Haftantritte verschoben. Je nach Bundesland bei Menschen mit Haftstrafen von bis zu sechs Monaten oder bis zu drei Jahren. In den unbelegten Zellen sollen infizierte Gefangene und Verdachtsfälle in Quarantäne genommen werden.
Strafverschärfung durch die Pandemie
Die Grundrechte von Gefangenen sind bereits drastisch beschnitten. Jede weitere Einschränkung haut besonders rein. Zum Beispiel das Besuchsverbot. Besuche sind essenziell, um den Kontakt nach draußen zu halten: zu Partner*innen, Kindern, Freund*innen. Wer nach der Haft nicht völlig allein oder mit einem Haufen zerrütteter Beziehungen dasteht, wird weniger wahrscheinlich noch einmal straffällig. Besuche sind für viele Gefangene nicht nur ein Lichtblick im tristen Gefängnisalltag. Der Kontakt zur Außenwelt ist ein wesentlicher Bestandteil der Resozialisierung und damit des erklärten Ziels des Strafvollzugs.
Der Staat hat eine Fürsorgepflicht für die Gefangenen. Er muss die gesundheitliche Versorgung sicherstellen. Im Gefängnis sitzen jedoch besonders viele Menschen mit einer psychischen Erkrankung, einem Suchtproblem oder einer Infektionskrankheit wie Hepatitis C oder HIV. Dazu kommen zahlreiche somatische Erkrankungen. Der Stress durch die Haftbedingungen schädigt laut WHO das Immunsystem.
Die medizinische Versorgung hinter Gittern war bereits vor der Corona-Krise oft mangelhaft. In Nordrhein-Westfalen kam eine Expertenkommission nach dem Tod von Amad A. zu dem Schluss, dass die stationäre psychiatrische Versorgung in den 36 Gefängnissen in NRW »unzureichend« sei. In Bayern sperren sich immer noch einige Anstaltsärzt*innen gegen eine Substitution von Opiatabhängigen. Die freie Arztwahl gilt für Gefangene nicht. Eine Anfrage an alle Justizministerien hat ergeben, dass die Justizvollzugskrankenhäuser in Deutschland aktuell lediglich sechs intensivmedizinische Betten haben.
Weil an den Gerichten Corona-Notbetrieb herrscht und Prozesstermine verschoben wurden, darf die Untersuchungshaft länger als die üblichen sechs Monate dauern.
Paradox wird es, wenn Gefangene wegen der Corona-Krise länger im Vollzug sind, als sie es vorher hätten sein müssen. Freigänger*innen zum Beispiel, die im offenen Vollzug untergebracht sind, tagsüber die Anstalt verlassen durften und teilweise nur abends oder für ein paar Nächte pro Woche in die Anstalt mussten, wurden vielerorts wieder rund um die Uhr eingesperrt. Noch drastischer ist es für diejenigen, die nicht einmal verurteilt sind: Untersuchungsgefangene. Weil an den Gerichten Corona-Notbetrieb herrscht und Prozesstermine verschoben wurden, darf die Untersuchungshaft länger als die üblichen sechs Monate dauern.
Die Pandemie zwingt den Justizvollzug abzuwägen – zwischen den Freiheitsrechten und dem Gesundheitsschutz des Einzelnen und dem Schutz der Allgemeinheit. Dabei müssen Gerichte, Staatsanwaltschaften und Gefängnisse verhältnismäßig vorgehen, fordert das Europaratskomitee gegen Folter.
Fast alle aktuell Inhaftierten wurden vor Ausbruch der Pandemie verurteilt. Dabei dürfte den Untersuchungsrichter*innen und Strafkammern zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar gewesen sein, wie viel gefährlicher eine Haftstrafe aktuell ist. Würde ihr Urteil angesichts des medizinischen Risikos heute anders ausfallen?
Was verhältnismäßig ist, steht jetzt zur Diskussion
Mehr als 60.000 Menschen in Deutschland leben in Gefängnissen. Wenn die harschen Einschnitte durch die aktuellen Maßnahmen für weitere Monate bestehen – und davon ist auszugehen –, muss das Gesundheitsrisiko in jedem Einzelfall geprüft werden.
Einen Anfang könnten die Behörden mit knapp der Hälfte aller Strafgefangenen machen, die laut Statistischem Bundesamt voraussichtlich weniger als ein Jahr absitzen. Oder mit den Strafgefangenen, die 50 Jahre oder älter und damit Teil der Risikogruppe, sind. Rund 7.600 waren es 2018 zum Stichtag Ende März.
Wie ernsthaft die Forderung nach Freilassungen diskutiert wird, hängt auch davon ab, wann das Virus durch die Mauern kommt. Weltweit sterben bereits Menschen im Knast an Covid-19. Den ersten Todesfall aus den überfüllten Gefängnissen Italiens meldete die Menschenrechtsorganisation Antigone bereits Anfang April.