Jetzt wird an der Uhr gedreht
Die Ampelkoalition in spe will den Acht-Stunden-Tag abschaffen
Von Johannes Tesfai und Nelli Tügel
Die SPD und ihr Sidekick, die Grüne Partei, sind wie der nervige Wecker, den man am Wochenende auszustellen vergessen hat und der einen unnötigerweise aus den Federn holt. Alles, was man spätestens seit der Agenda 2010 nicht mehr hören möchte, rufen sie ungefragt wieder in Erinnerung – und bringen damals noch nicht »Erreichtes« wieder aufs Tableau. In ihrem Bundestagswahlprogramm »Aus Respekt für deine Zukunft« behaupteten die Sozialdemokraten noch leichtfertig: »Eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit schließen wir aus.« Nun scheint alles anders zu sein: Ein Ergebnis der Sondierungsgespräche mit Grünen und FDP ist, Stand jetzt, die Abschaffung des Acht-Stunden-Tags. Schreibt das Arbeitszeitgesetz bis dato – mit Ausnahmen – ein Verbot von mehr als acht Stunden Arbeit am Tag fest, will die kommende Regierung 13 Stunden möglich machen. Auch die zwischen zwei Arbeitseinsätzen vorgeschriebenen Ruhepausen könnten demnach verkürzt werden. »Experimentierräume« nennen die Ampelmänner und -frauen das. Experimentieren wollen sie überdies mit den Einkommensgrenzen der Mini- und Midijobs, damit würden mehr Beschäftigte aus der Sozialversicherung fallen.
Nach dem Koalitionspoker – wenn er denn zu einem Ergebnis führt, denn noch steht die Ampel auf wackeligen Füßen – wird die Sozialdemokratie behaupten können, dass Kompromisse wichtig seien. Sie sorgt sich präventiv um den Koalitionsfrieden und ist den arbeitgeberfreundlichen Forderungen der FDP nicht abgeneigt. Hier geht es allerdings ans Eingemachte: Versuche, an der Arbeitszeituhr zu drehen, werden von Unternehmer*innenseite schon seit 200 Jahren unternommen. So lange, wie es Versuche gibt, durch Arbeitsschutzgesetze das Elend in den Fabriken zu begrenzen. Gute Voraussetzungen dafür, der künftigen Koalition ihren ultra-neoliberalen Stempel aufzudrücken hat die FDP – als kleinste Partei im illustren Dreierbündnis – auch deshalb, weil ein liberaler Finanzminister immer wahrscheinlicher wird. Christian Lindner steht bereits in den Startlöchern und mit ihm die Austerität.
Es ist dennoch wohlfeil, SPD oder Grünen jetzt Verrat an ihren Idealen vorzuwerfen. Beide Parteien haben unter Gerhard Schröder zur Genüge einen zynischen Pragmatismus hinsichtlich von Arbeiter*innenrechten bewiesen, sahen sich vor allem dem Wirtschaftsstandort Deutschland verpflichtet und weniger den von Arbeiter*innen erkämpften Rechten. Sie können sich mit der FDP gut arrangieren. Kommt es zur Ampel, wird die SPD die nächsten vier Jahre Kritik an unsozialer Politik mit dem Verweis auf die Mindestlohnerhöhung abzuräumen versuchen und die Grünen – nun ja – wahrscheinlich mit irgendwelchen vermeintlichen Fortschrittchen beim Klimaschutz.
Die Ausgangslage ist trotzdem eine andere als zu rot-grünen Schröder-Zeiten: Zwar hat die Pandemie für einen starken Konjunktureinbruch gesorgt und die Sanierung einer lädierten Ökonomie wird meist über die Beschäftigten bewerkstelligt – mit Klassenkampf von oben. Gleichzeitig herrscht allerorten Fachkräftemangel, in der Gastronomie, den Krankenhäusern, aber auch in der Produktion. Das erhöht das Selbstbewusstsein unter Arbeiter*innen und verbessert ihre Kampfbedingungen.
Den Beschäftigten ist daher nur zu wünschen, dass die vielen Streiks der letzten Monate nicht abbrechen – sie beweisen, besonders in jenen Berufen, die in der Pandemie am meisten gefordert waren, dass sie sich nicht mehr alles gefallen lassen. Dem Respekt-Gerede des SPD-Wahlkampfs und den »progressiven« Grünen kann man nur mit dem Slogan einer bekannten Baumarktkette entgegnen: »Respekt, wer’s selber macht.« Das gilt für Fortschritt ebenso. Haltelinien müssen die Beschäftigten selber setzen, Verbesserungen mit eigener Kraft erkämpfen – damit der rot-grüne Wecker nicht nochmal das Wochenende versaut.