Deutschland mit auf Patrouille
Seit dem vergangenen Herbst wurde der Grenzschutz in der EU auch dort verstärkt, wo es eigentlich keine Grenzen mehr gibt – im Schengen-Raum
Im Herbst 2021 blickten die europäische Öffentlichkeit und die Medien voller Schrecken auf die EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus, wo verzweifelte Geflüchtete aus Irak, Syrien, Afghanistan und anderen Herkunftsländern von Grenzschützern brutal daran gehindert wurden, polnisches Staatsgebiet zu betreten. Gefangen im Niemandsland zwischen dem EU-Mitgliedsstaat Polen und dem von Machthaber Aljaksandr Lukaschenka diktatorisch regierten Belarus, die beide gewaltsam gegen die Geflüchteten vorgingen, starben und sterben bis heute etliche Menschen an Hunger, Kälte oder Erschöpfung. EU-Vertreter*innen gaben ihre Empörung über die brutale Missachtung der Menschenrechte zu Protokoll – und rüsteten zugleich ihre Binnengrenzen mit anderen EU-Staaten auf. Um den vermeintlich grenzkontrollfreien Schengen-Raum vor Asylgesuchen abzuschotten.
Vorne beim Grenzschutz mit dabei ist die deutsche Bundespolizei, die seitdem verstärkt auch auf polnischem Hoheitsgebiet patrouilliert. In gemeinsamen Streifen mit der polnischen Polizei durchkämmen die Beamt*innen das deutsch-polnische Grenzgebiet, kontrollieren an Hauptstraßen von Grenzübergängen und in grenzüberschreitenden Zügen, um Menschen auf ihrer Flucht aufzuhalten und in Polen festzusetzen.
Bundespolizei in Polen
Zu diesen gemeinsamen Polizeistreifen auf polnischem Boden hatte im September 2021 der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer aufgerufen. Zeitgleich wurden mindestens acht Hundertschaften der Bundespolizei zur deutsch-polnischen Grenze entsandt, um Identitätskontrollen im Grenzgebiet zu verstärken. Diese gezielten Streifen sollen Deutschland abschirmen, ohne die Schengen-Binnengrenze zwischen Deutschland und Polen zu schließen. Die polizeiliche Zusammenarbeit der beiden Länder beruht auf dem aktuell geltenden bilateralen Abkommen der deutschen und polnischen Polizei-, Grenz- und Zollbehörden, das seit 2015 zu grenzüberschreitenden operativen Polizeistreifen ermächtigt. Dadurch haben Beamt*innen das Recht, im Hoheitsgebiet des Partners Maßnahmen zur Feststellung der Identität einzuleiten und Personen vorläufig festzunehmen, um sie an Beamt*innen der jeweils anderen Partei zu übergeben. Auch der Ausbau gemeinsamer Dienststellen wie die in Swiecko, Pomellen und Ludwigsdorf wurde vorangetrieben.
Viele Schutzsuchende möchten nicht in Polen Asyl beantragen. Nach oft monatelangem Ringen ums Überleben in den Wäldern und Sümpfen des belarussisch-polnischen Grenzgebiets ist das Misstrauen gegenüber polnischen Behörden hoch. Zu oft wurde ihr Recht auf Asyl in der EU von polnischen Grenzschützer*innen, die Geflüchtete im Rahmen sogenannter Pushbacks über die Grenze nach Belarus zurückgedrängt haben, missachtet. Für die Chance, in ihrem »Zielland« Asyl beantragen zu können, stellt die behördliche Registrierung in Polen zudem eine Gefahr dar. Denn sie bedeutet im Rahmen der EU-Asylpolitik, dass gemäß der Dublin-III-Verordnung vorerst nur das Land für das Asylverfahren zuständig ist, in dem die ersten Fingerabdrücke und biometrischen Daten in der Eurodac-Datenbank erfasst wurden. Regelmäßig werden Schutzsuchende aus Deutschland in das Land der ersten Einreise abgeschoben. Um die Registrierung zu umgehen, müssen Schutzsuchende »untertauchen«, um sich weiter fortzubewegen. Nach dieser »Sekundärbewegung« wird von inner-europäischen Staaten verstärkt gefahndet. So kann Deutschland von den operativen Polizeistreifen auf polnischem Territorium profitieren, da Geflüchtete, bevor sie die Grenze überschreiten, abgefangen werden und die Verantwortung für das Asylverfahren dem Abkommenspartner Polen überlassen wird.
Zu diesen gemeinsamen Polizeistreifen auf polnischem Boden hatte im September der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer aufgerufen.
Aus diesem Grund beteiligt sich die Bundespolizei daran, Schutzsuchende in die polnischen Internierungszentren, die offiziell als »Bewachte Zentren für Ausländer« bezeichnet werden, zu bringen. Nahe der deutschen Grenze werden Schutzsuchende im Zentrum Wędrzyn, auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz umgeben von Stacheldraht, oder im Langzeitzentrum Krosno Odrazanskie, von jeglichem Kontakt nach außen isoliert. Mittlerweile befinden sich 2.000 Menschen, unter ihnen Hunderte Kinder, in polnischer Internierungshaft. Sie werden auf nur zwei Quadratmetern pro Person untergebracht, was nur die Hälfte dessen ist, was die Norm des Ausschusses des Europarats zur Verhütung von Folter vorsieht. Darüber hinaus werden sie entgegen den EU-Richtlinien zur Gewährleistung internationalen Schutzes nicht über ihre Rechte oder das Verfahren zur Beantragung von Asyl aufgeklärt und haben in der Isolation quasi keine Möglichkeit, einen Rechtsbeistand zu bekommen. Die Aussicht auf ein erfolgreiches Asylverfahren wird zusätzlich verringert, indem Handys mit »Beweismaterial« abgenommen werden, wichtige Dokumente oft gar nicht oder mangelhaft übersetzt sind und keine Möglichkeit gegeben wird, sich auf die Online-Asylanhörungen, die per Videokonferenz nach Warschau stattfinden, vorzubereiten. Schutzsuchende berichten, dass sie vom Wachpersonal in den Zentren ständig mit der Abschiebung in ihr Herkunftsland bedroht werden. Überdies bezeugen sie, von den Wachen völlig entmenschlichend behandelt zu werden. Diese sprechen sie nur mit Nummern an, führen unnötige und demütigende »Strip-Searches«, also die Durchsuchung des nackten Körpers, durch und bestrafen immer wieder willkürlich. Die dehumanisierende Internierung über Monate ohne jegliche Information zur Aufenthaltsdauer führt bei vielen zu psychischer Zermürbung bis hin zu Suizidgedanken.
Kosten der Grenzschließungen
Das verstärkte gemeinsame Polizieren innerhalb des Schengen Grenzgebiets sowie die effektive Rückschiebung von Menschen auf der Flucht und ihre Inhaftnahme – auch von Minderjährigen – wird von der EU-Kommission 2017 explizit empfohlen, um die Durchlässigkeit offener Binnengrenzen zu kompensieren. Mit ihnen soll die Wiedereinführung von Grenzkontrollen wie in der Schengen-Krise von 2015, die in der EU als »Migrationskrise« propagiert wird, unbedingt verhindert werden. In dem von der EU-Kommission als Reaktion auf die Krise vorgelegten Fahrplan »Zurück zu Schengen« von 2016 wird die grenzenlose »Bewegungsfreiheit« für die Zirkulation von Waren und Personen als »eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration« hervorgehoben. Dabei ist diese vor allem ein wirtschaftliches Kalkül: Die jährlichen Kosten der Grenzschließungen an den Binnengrenzen schätzt die Kommission auf 5 bis 18 Milliarden Euro. Zukünftig sollen deswegen Mitgliedsstaaten bei »steigenden Migrationsdruck« oder bei »Lücken« im EU-Außengrenzmanagement kompensatorische Maßnahmen anwenden und die Grenzschließung mit allen Mitteln vermeiden. Legitimiert werden die Polizeikontrollen innerhalb der Binnengrenzgebiete mit dem Artikel 23 des Schengener Grenzkodex, der betont, dass diese durchgeführt werden können, wenn sie nicht als Grenzkontrollen erkannt werden. Mit den neuen Maßnahmen und Instrumenten wird die – im kriegerischen Jargon der EU-Kommission – »Bekämpfung unerlaubter Sekundärmigration« vorangetrieben. Die Kommission deklariert diese in ihren Empfehlungen als »derzeitige Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit« – im gleichen Satz neben Terrorismus und schwerer grenzüberschreitender Kriminalität.
Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen geraten in den Fokus der Kritik am Grenzregime, während die anderen EU-Länder die brutale Grenzgewalt nicht nur finanzieren, sondern gleichzeitig die Abschottung der eigenen Binnengrenzen effektiver ausbauen. Es wächst fortlaufend ein Netzwerk an bi- und multilateralen Abkommen zwischen Mitgliedsstaaten, in denen polizeiliche Befugnisse definiert und nicht mehr auf nationale Gerichtsbarkeit beschränkt sind. Die EU-Kommission empfiehlt die grenzüberschreitenden Polizeikontrollen explizit, die sich wegen ihrer Flexibilität als effektiveres Überwachungsorgan des Binnengrenzregimes erwiesen haben als die traditionellen statischen Grenzkontrollen. Die Kontrollen innerhalb von Grenzgebieten erfolgen unter dem öffentlichen Radar, da sie dezentral, zu verschiedenen Zeiten und an versteckten Orten durchgeführt werden. Innerhalb der flexiblen Kontrollen werden Menschen selektiv-rassistisch verdächtigt, kontrolliert und teilweise sofort weggesperrt. Durch die Verborgenheit des polizeilichen Agierens und der folgenden Isolation sind Schutzsuchende dabei der willkürlichen Gewalt europäischer Ordnungshüter*innen ausgeliefert.
Den Fokus erweitern
Der Ausbau der Festung Europa – wie ihn die Journalist*innen Jennifer Rigby und James Crisp in der britischen Zeitung The Telegraph eindrücklich darstellen – manifestiert sich zusätzlich durch die 1.800 Kilometer an Grenzmauern und Grenzzäunen, die aktuell um und in Europa gebaut oder geplant sind. Die Begrenzung der Analyse von Grenzgewalt auf das Geschehen an einzelnen Hotspots, wie jenes im Wald in der belarussisch-polnischen militärischen Sperrzone, auf dem tödlichen Seeweg über das türkisch-griechische Mittelmeer oder der streng bewachten Balkanroute, auf der Flüchtende brutalen Pushbacks ausgesetzt sind, verschleiert dabei die zugrunde liegende Systematik des EU-Grenzschutzes und der innereuropäischen Abschottung. Und erlaubt der Europäischen Union und all denjenigen, die von ihrer nach Außen abgeschotteten Bewegungsfreiheit profitieren, sich weiterhin aus der Verantwortung für das tödliche Grenzregime zu ziehen.