Deutschland im Abschiebefieber
Der Überbietungswettbewerb in Sachen Asylrechtsverschärfungen kennt keine Grenzen
Von Christian Jakob
Am Ende blickte kaum noch jemand durch: Als die Ampel am Mittwoch, den 11. Oktober, neue Pläne für schnellere Abschiebungen vorlegte, wussten selbst manche Menschen, die sich beruflich mit Asylpolitik befassen, nicht, ob das noch alte Vorschläge oder schon wieder neue waren. Sowohl auf europäischer als auch auf nationaler deutscher Ebene war lange nicht mehr so viel Druck beim Thema Asyl: So, wie sich zu Beginn der Pandemie alle einig waren, die Kurve der Corona-Infektionen drücken zu müssen, heißt es nun seit Wochen, wenn nicht seit Monaten, in fast allen Medien und – mit Ausnahme der Linken – bei allen Parteien: Die Zahlen müssen runter.
Der ohnehin schon seit Langem laufende Überbietungswettbewerb in Sachen Asylrechtsverschärfungen nahm abermals an Fahrt auf: Die »Bezahlkarte« und die Arbeitspflicht für Schutzsuchende kam auf den Tisch, mehr und längere Haft vor Abschiebungen, das Durchsuchen von Wohnungen und das Handyauslesen – alles schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte. Die FDP will ein Geldüberweisungsverbot, fast alle wollen Sachleistungen statt Bargeld – was vor allem die Kommunen wegen des hohen bürokratischen Aufwands ablehnen. Die Liste sichere Herkunftsländer soll erweitert werden, und immer häufiger ist die Forderung nach einem Ende des individuellen Grundrechts auf Asyl zu hören.
Eine fatale Dynamik ist dabei im Gang: Keine Partei mochte dabei außen vor bleiben, und fast alle sahen sich gezwungen, irgendwie noch eins draufzulegen. Selbst die Grünen, die nach der bleiernen Seehofer-Ära mit der Ampel in der Migrationspolitik so vieles ganz anders machen wollten, riefen nach mehr und schnelleren Abschiebungen, für die der Bundes-Migrationsbeauftragte Joachim Stamp (FDP) nun bitte endlich schneller mit Staaten wie Tunesien verhandeln möge.
Irrationalismus in Reinform
Der vermeintliche Handlungsdruck wurde durch eine fast hysterische Reaktion auf vier Umstände erzeugt: Da wäre die in den ersten neun Monaten auf 233.000 angestiegene Zahl der Asyl-Erstanträge in Deutschland. Es ist der höchste Wert seit 2016, allerdings nicht sehr viel mehr als jene 200.000, die der CSU-Innenminister Horst Seehofer einst als »Obergrenze« durchsetzen wollte und bei der er die Integration für problemlos hielt.
Doch nun, und das war der zweite Umstand, waren noch Hunderttausende Ukrainer*innen, 2022 ins Land gekommen, in Asyleinrichtungen, und manche Kommunen wussten tatsächlich nicht, wohin mit den Ankommenden. Gleichzeitig lässt die Schwäche der Ampel die AfD zu schockierender Stärke anwachsen. Die Bilder der Mitte September auf Lampedusa ankommenden Boote – als »Invasion« weidlich ausgeschlachtet von rechten Medien allerorten – taten ihr Übriges.
Flatten the curve bei den Asylanträgen also. Und zwar koste es, was es wolle. Das war die Devise von Rechtsaußen bis zu den Grünen. Die Betriebsamkeit war dabei aufseiten der EU wie national ähnlich.
»Berlin macht Weg frei für EU-Asylreform« – so oder ähnlich titelten Anfang Oktober deutsche Zeitungen. Gemeint war die sogenannte »Krisenverordnung« der EU – eines von insgesamt elf Gesetzen, die als Teil der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode, also bis Februar, beschlossen werden sollen.
Flatten the curve bei den Asylanträgen – und zwar koste es, was es wolle. Das ist die Devise von Rechtsaußen bis zu den Grünen.
Der Druck ist auch hier groß: In Brüssel sind bis auf die Linke fast alle Parteien, die nicht selbst rechtsextrem sind, der Meinung, dass nur eine Einigung auf ein GEAS, das vom Asylrecht nicht viel übrig lässt, starke weitere Gewinne der Populisten bei der Wahl im Juni verhindern kann.
Doch diese Reaktion ist aus Sicht jener, die Menschenrechte wichtig und die AfD grässlich finden, maximal dumm: Wenn sich wirklich alle permanent darin bestätigen, dass die Flüchtlinge das größte Problem sind, die Zahlen aber nicht sinken – dann wird die AfD ganz automatisch stärker. Dass die extreme Rechte etwa in Italien regiert und auch dort nicht imstande ist, die Ankunftszahlen zu drücken, ändert an der Wahrnehmung der AfD hierzulande noch nichts.
Geflüchtete als Waffe?
Die EU-Innenminister jedenfalls winkten die Krisenverordnung Anfang Oktober durch, sodass die finalen Verhandlungen mit dem Parlament starten können. Die Verordnung sieht vor, dass in bestimmten Fällen die Rechte von Asylsuchenden leichter eingeschränkt werden können – bei »Massenankünften«, höherer Gewalt wie Krieg oder Naturkatastrophen oder dann, wenn Flüchtlinge instrumentalisiert werden, um der EU zu schaden. Werden Flüchtlinge als Waffe gegen Europa eingesetzt, darf man ihre Rechte einschränken, das ist das Konzept.
Drei Fälle von »Instrumentalisierung« hat es in der jüngeren Vergangenheit gegeben, auf die die EU zur Begründung der Verordnung verwiesen hatte: 2020 stellte die Türkei die Bewachung der Grenze zu Griechenland ein und ermunterte einige Zehntausend Menschen, sie zu überqueren. Erdoğan wollte mehr Geld für die Verlängerung des EU-Flüchtlingsdeals. 2021 tat Marokko dasselbe mit der Grenze zu Melilla – und zwang so Spanien, Marokkos Anspruch auf die besetzte Westsahara anzuerkennen. Belarus, und wohl auch Russland, schickten im Herbst 2021 zehntausende Menschen über die zuvor gemeinsam bewachte Grenze nach Polen – wohl, um ein Ende der EU-Sanktionen gegen Minsk wegen des Wahlbetrugs zu erzwingen.
Deutschland hatte sich lange gegen die Pläne gesperrt – vor allem wegen menschenrechtlicher Bedenken der Grünen. Dann aber gaben Bundeskanzler Olaf Schulz und Innenministerin Nancy Faeser ihre Einwilligung. Faeser sprach von einem »hervorragenden Kompromiss«. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Hasselmann freute sich darüber, dass die »klare deutsche Haltung« endlich »Bewegung in die Gespräche« gebracht habe. Es war eine der vielen Kehrtwenden der Grünen im Hinblick auf Asyl in letzter Zeit. Erst kurz zuvor hatte es geheißen, die Verordnung sei »nicht zustimmungsfähig«.
Der Verordnungsentwurf setze »vor allem auf verlängerte Registrierungsfristen, mehr Grenzverfahren und längere Unterbringung in geschlossenen grenznahen Einrichtungen«, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Hakan Demir. Er sei »skeptisch«, dass das die richtige Antwort auf die Ankunft vieler Schutzsuchender sei. Gut sei, dass – anders als zuvor geplant – die Verordnung nur nach Prüfung durch eine Kommission und auf Beschluss des Rates aktiviert werden könne.
Der Grüne MdB Julian Pahlke, selbst Ex-Seenotretter, sagte, die Verordnung werde »nur mehr Chaos schaffen«. Wenn die Mitgliedsstaaten in solchen Fällen die Ankommenden vier Wochen lang nicht zu registrieren brauchen, könnten diese einfach in andere EU-Staaten »weitergeleitet werden«. In einer Situation, in der viele Menschen Schutz suchen, eine Inhaftierung für alle vorzusehen, sei »das Gegenteil von Krisenresilienz«, meint Pahlke.
Dass die EU sich nicht mit Flüchtlingen erpressen lassen will, ist naheliegend. Dass genau das aber überhaupt möglich ist – daran trägt sie selbst die Schuld. Seit Jahren ist für die ganze Welt zu sehen, wie panisch in Europa auf Ankommende reagiert wird und welche »destabilisierenden« Effekte das hat: Populisten, die unter anderem Russland zugeneigt sind, geraten an die Macht, Gesellschaften driften auseinander.
Es war die EU selbst, die Flüchtlinge unter dem Eindruck der Ankünfte aus Belarus zu einer »hybriden Bedrohung« erklärte, einer Art softer Kriegswaffe. Wer das tut, lädt seine Gegner*innen geradezu ein, sie entsprechend zu nutzen.
Darauf zu reagieren, indem man den Menschen Rechte entzieht – nichts anderes sieht die neue Verordnung vor –, ändert nichts daran. Die EU bleibt erpressbar, solange sie selbst die Flüchtlinge ständig zur »größten Gefahr« erklärt. Den Ankommenden mit Knast und anderen Schikanen das Leben schwer zu machen, hat allenfalls den Effekt, der Öffentlichkeit zu signalisieren, irgendetwas »gegen die ganzen Flüchtlinge« zu unternehmen. Und so traurig es ist, kaum etwas scheint der Politik gerade wichtiger.