Wir sind dann mal weg
Deutsche Unternehmen stehen an der Seite der Ukraine – so lange sie müssen
Von Lene Kempe
Zum Glück ist eine gewisse Normalität da«, sagte Aldo Kamper, Chef des Nürnberger Unternehmens Leoni Ende März auf einer Pressekonferenz. Der Automobilzulieferer hatte da gerade verkündet, die Produktion in seinen beiden Werken in der weniger umkämpften Westukraine wieder aufgenommen zu haben. Dort werden sogenannte Kabelbäume hergestellt, elektronische Bauteile, auf die die Autoindustrie dringend angewiesen ist. Sie bündeln und verbinden Leitungen, die sich kilometerlang durch alle Fahrzeuge ziehen und ohne die kein Auto vom Band laufen kann.
Insgesamt sind rund 2.000 Unternehmen mit deutscher Beteiligung in der Ukraine aktiv, in der Agrarwirtschaft, der Lebensmittelproduktion oder dem IT-Sektor. Viele Automobilzulieferer haben in den letzten 20 Jahren eigene Standorte errichtet. Sie produzieren und beliefern von dort aus nahezu die gesamte, auch europäische Autoindustrie mit Kabelbäumen und anderen elektrischen Komponenten. Mit Ausbruch des Krieges brach die Produktion ein, bei BMW, Porsche, VW und Co. standen die Bänder still. Sollte der Krieg anhalten und die Produktion von Kabelbäumen weiter stocken oder gar ganz zum Erliegen kommen, würden zwischen 650.000 und 1,5 Millionen Fahrzeuge im ersten Halbjahr 2022 nicht gebaut werden können, prognostizierten Analyst*innen.
Kabelbäume für den Frieden
Die Nachricht aus Nürnberg ließ die Konzernspitzen in Deutschland aufatmen: Die Produktion in den ukrainischen Leoni-Werken würde schrittweise auf 70 Prozent hochgefahren, wegen Fliegeralarm müssten die Mitarbeiter*innen dabei immer wieder von der Werkshalle in die Luftschutzbunker wechseln, häufig kämen sie übermüdet zur Arbeit. Audi-Chef Markus Duesmann gab zu Protokoll, es rühre ihn »fast zu Tränen«, wie die Ukrainer*innen mit wenigen Leuten versuchten, die Produktion aufrechtzuerhalten.
Leoni ist nicht das einzige deutsche Unternehmen, das »das Unmögliche möglich macht« (Kamper) und die hiesige Autoindustrie direkt aus dem Kriegsgebiet beliefert, mehrere Unternehmen nahmen zumindest Teile der Produktion wieder auf. Darunter auch der Autozulieferer Prettl SWH, der in der Westukraine Spezialkabel herstellen lässt und schon am Tag nach Kriegsausbruch weiterarbeiten ließ. »Unsere Mitarbeiter wollen zeigen, dass die Ukraine ein wichtiger Teil der Lieferkette bleibt. Wer arbeitet, der kämpft auch um die Zukunft des Landes«, erklärte Günther Ungericht, Unternehmensleiter in der Region.
Vor allem für die Produktion der Kabelbäume hat sich die ländlich geprägte Westukraine zu einem äußerst beliebten Standort entwickelt, weil die Löhne hier extrem niedrig sind. Für eine Arbeitsstunde werden drei Euro bezahlt, inklusive Lohnnebenkosten. In Deutschland müsste die Autoindustrie für dieselbe Tätigkeit etwa 54 Euro bezahlen. Denn die Kabelbaumproduktion besteht zu mehr als 30 Prozent aus Handarbeit, weil Kabel, Schläuche und Stecker manuell und entsprechend der Ausstattung für jedes Modell einzeln zusammengesetzt werden müssen. Kabelbaumbauer werden deshalb die »Teppichknüpfer der Autoindustrie« genannt.
Leoni hatte das kostensenkende Potenzial osteuropäischer Arbeitskräfte schon früh erkannt. Der Zulieferer hatte zunächst Standorte in Polen, Ungarn und der Slowakei eröffnet. Als die Produktion dort wegen der anstehenden EU-Beitritte zu teuer werden drohte, zog das Unternehmen 2003 weiter in die noch günstigere Ukraine. Wenngleich die Löhne auch hier in den letzten Jahren deutlich anstiegen, lag der durchschnittliche Bruttomonatslohn 2020 mit umgerechnet 376 Euro immer noch deutlich unter dem entsprechenden Wert in den EU-Mitgliedsländern Polen (1.163 Euro) oder Slowakei (1.133 Euro).
Neoliberaler Reformturbo
Aus Unternehmenssicht ist die Ukraine also vor allem ein Pool extrem günstiger Arbeitskräfte. Dass das vor den »Toren Europas« gelegene Land bis dato kein EU-Mitglied ist, war kein Nachteil. Zwar gibt es ein politisches und wirtschaftliches Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU (das Ringen darum war 2013 bekanntlich ein Auslöser der Euromaidan-Proteste), das seit 2016 vollständig in Kraft ist. Allerdings gab es für die Ukraine – bis zum Versprechen bei Ausbruch des jüngsten Krieges – keine klare EU-Beitrittsperspektive. Laut der Stiftung für Wissenschaft und Politik existierte »im Westen« auch kein Konsens darüber, »dass die Ukraine selbst im Falle erfolgreicher Reformen vollständig integriert werden sollte«.
Das »Abkommen neuen Typs« beinhaltet Verpflichtungen zu weitreichenden wirtschaftlichen und rechtlichen Reformen auf Seiten der Ukraine, in denen es letztlich um einen besseren Marktzugang, Investitionsschutz und Rechtssicherheit für ausländische Unternehmen und Investor*innen geht. Der Ukraine wurde allerdings im Gegenzug keine wirkliche Beteiligung am europäischen Binnenmarkt zugesichert. So wird etwa die Freizügigkeit ukrainischer Arbeitnehmer*innen, also die Möglichkeit, sich auf Arbeitssuche in anderen EU-Ländern zu begeben, nur in sehr geringem Umfang gewährleistet, etwa für Unternehmensleitungen, die eine Niederlassung in einem EU-Gastland errichten wollen. Auch der Abbau von Zollschranken auf Seiten der EU gehört nicht zum Vertrag.
Selenskyj versprach Haushaltsdisziplin, Privatisierungen von Staatsbetrieben, die Kürzung von staatlichen Subventionen und Sozialausgaben.
Neben der EU drängen auch Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) auf weitere Reformen im Land. Der IWF hat der hoch verschuldeten Ukraine in den letzten Jahren mehrere Milliarden-Kredite gewährt – gebunden an Bedingungen wie Haushaltskonsolidierungen, eine umfassende Renten- und Bildungsreform und die schrittweise Freigabe des stark regulierten Handels mit Agrarland. Der vorangegangenen Regierung Petro Poroschenko wurde von den westlichen Geldgebern und Investor*innen dabei ein beeindruckender Reformwille bescheinigt. Aber auch Wolodymyr Selenskyj führte den neoliberalen Kurs seit seiner Wahl zum Präsidenten 2019 fort. Er verabschiedete mit seiner Parlamentsmehrheit Gesetze im Eilverfahren, wie die Liberalisierung des Agrarlandhandels, die ausländischen Investor*innen ab 2024 über die Hintertür einer Beteiligung an ukrainischen Unternehmen Zutritt zum lukrativen Agrarmarkt verschaffen könnte. Selenskyj versprach Haushaltsdisziplin, Privatisierungen von Staatsbetrieben, die Kürzung von staatlichen Subventionen und Sozialausgaben und eine Fortführung des geforderten kostensparenden Umbaus des Bildungs- und Gesundheitssektors.
Wenngleich dieses von deutschen Regierungsvertreter*innen und Medien anerkennend als »Turboregime« bezeichnete Vorgehen Selenskyjs in den letzten zwei Jahren ins Stocken geriet (auch weil Selenkskyj die Sicherheitsinteressen seines Landes gegenüber den vom Westen geforderten Reformen stärker in den Vordergrund seiner Politik rückte), besteht kaum Zweifel an dessen Bereitschaft, sein Land den knallharten Wettbewerbsbedingungen von IWF und EU weiter anzupassen. Kurz nach Kriegsbeginn brachte Selenskyj ein Gesetz durchs Parlament, das die Rechte ukrainischer Arbeitnehmer*innen während des Kriegszustandes drastisch beschneidet. Kündigungsschutz, Lohnansprüche, Arbeitsschutzbestimmungen oder Rechte aus Tarifverträgen sind seitdem in weiten Teilen aufgehoben. Gewerkschaftseigentum wurde zwangsweise zur Versorgung von Geflüchteten umfunktioniert. Die Gewerkschaften tragen diese Maßnahmen aufgrund der Kriegssituation mit, befürchten aber, dass damit die Basis für eine radikale Umgestaltung des Arbeits- und Gewerkschaftsrechts auch nach Beendigung des Krieges gelegt ist. Denn schon vor Kriegsausbruch hatte die Regierung versucht, drastische Eingriffe in das noch aus der Sowjetzeit stammende Arbeitsrecht, das westlichen Unternehmen als zu arbeitnehmerfreundlich galt, vorzunehmen. Gewerkschaften sahen in der damals diskutierten Gesetzesvorlage, an dessen Ausarbeitung sich auch das britische Außenministerium beteiligt hatte, ihre systematische Entmachtung angelegt, weil neben dem Abbau von Arbeitnehmer*innenrechten auch die Hürden für Gewerkschaftsgründungen erhöht und Gewerkschaftseigentum großflächig enteignen werden sollte.
»We stand with Ukraine«
Wie es mit der ukrainischen Wirtschaft nach dem Krieg weitergehen wird, ist von heute aus kaum zu beurteilen. Sicher ist aber, dass deutsche Unternehmen, die seit Ausbruch des Krieges nicht müde werden, ihre Solidarität und ihre praktischen Hilfen für die Ukrainer*innen zu betonen, bereits halblaut über den Rückzug aus dem kriegszerstörten Land nachdenken.
Produktionsverlagerung in andere Niedriglohnländer seien laut Handelsblatt zwar politisch heikel, dennoch habe der Krieg den Standort Ukraine grundsätzlich infrage gestellt. Auch Leoni arbeitet bereits daran, die Kapazitäten der Kabelbaumproduktion in Rumänien und Serbien auszubauen. Das dauere allerdings bis zu sechs Monate. Bis dahin wird die deutsche Autoindustrie wohl versuchen, die Werke im Kriegsgebiet laufen zu lassen. Und ihre Kabelbäume von entrechteten und schlecht bezahlten ukrainischen Arbeiter*innen »zwischen Werkshalle und Luftschutzbunker« produzieren zu lassen.