Vier Gleise für ein Halleluja
Jahrzehntelang wurde bei der Bahn gespart, jetzt werden Strecken saniert, aber gleichzeitig soll Personal abgebaut werden
Von Klaus Meier
Bahnkund*innen sind mittlerweile einiges gewohnt: Etwa die Hälfte der Züge sind unpünktlich, etliche Verbindungen fallen ganz aus. Doch die nächsten sechs Jahre dürfte es noch schlimmer kommen. Die Deutsche Bahn (DB) plant bis 2030 eine »Generalsanierung« von 41 »Hochleistungskorridoren« ihres Schienennetzes. Anders als bisher üblich sollen die betroffenen Strecken für die Dauer der Reparaturen komplett stillgelegt werden. Während dieser Zeit werden die Gleise, Weichen, Signalanlagen und Stromversorgung herausgerissen und komplett erneuert.
Angefangen wurde mit der 70 Kilometer langen Riedbahnstrecke zwischen Frankfurt/Main und Mannheim. Seit Mitte Juli dieses Jahres ist sie für voraussichtlich fünf Monate gesperrt. Diese Strecke gilt als die wichtigste Strecke im deutschen Bahnnetz. Täglich sind hier 300 Züge unterwegs, jeder siebte ICE passiert auf seinem Weg durch Deutschland die Riedbahnlinie, dazu kommen internationale Transitbahnen. Die Riedbahn ist aber nur der Anfang. Auch die Strecke zwischen den beiden größten Städten Deutschlands, Hamburg und Berlin, ist bereits für vier Monate gesperrt. Nächstes Jahr wird sie noch ein zweites Mal unterbrochen, dann sogar für neun Monate. Für Bahnkund*innen, ob deutschlandweit oder regional, wird es eine Zeit der Prüfungen, denn Umleitungen oder Schienenersatzverkehr verlängern die Reisezeit.
Viele Reisende fragen sich, ob denn wirklich gleich ganze Bahnabschnitte komplett gesperrt werden müssen. Expert*innen wie der Berliner Verkehrsforscher Christian Böttger beantworten dies mit einem klaren Ja. Die Korridorsanierungen seien alternativlos. Die deutsche Politik hat in die Bahnstrecken jahrzehntelang zu wenig investiert. Dadurch sind sie mittlerweile so marode und abgenutzt, dass nur noch eine Generalsanierung helfen kann. Der Bundesrechnungshof hat die dramatische Lage in einem Gutachten vom März 2023 hochoffiziell bestätigt. »Die Eisenbahninfrastruktur ist in vielen Bereichen überaltert«, und sie sei ein »Sanierungsfall«, heißt es dort.
Tatsächlich ist etwa die Riedbahn so heruntergekommen, dass es auf der Strecke zuletzt jeden Tag eine mittelgroße Betriebsstörung gegeben hat. Ein Teil der Stellwerke ist nahezu 50 Jahre alt, völlig abgenutzt, und die Mechanik der Weichen ist beschädigt. In einem Interview brachte es der Pro-Bahn-Ehrenvorsitzende Karl-Peter Naumann auf den Punkt: »Wenn jahrzehntelang zu wenig Geld in das System investiert worden ist, dann funktioniert ein solch komplexes System wie die Bahn eben irgendwann überhaupt nicht mehr.«
Komplettsanierung finanziell ungesichert
Billig ist die Sanierung der Bahn nicht zu haben. Die Deutsche Bahn selbst schätzt die Kosten auf rund 92 Milliarden Euro. Dazu kommen 18 Milliarden Euro für sanierungsbedürftige Bahnhöfe. Eigentlich müssten dann auch noch 70 Milliarden Euro in die Digitalisierung der Bahn gesteckt werden. Eigentlich ein wichtiges Projekt, aber angesichts der Sparwut der Politik will es die DB bereits verschieben, vermutlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Die DB hat geschätzt, dass bis 2030 allein für die Sanierung in einer ersten Tranche 45 Milliarden Euro aufgebracht werden müssten.
Die Ampel-Regierung hat aber nur 27 Milliarden Euro zugesagt. Für die Jahre 2024 und 2025 sind die Baumaßnahmen noch gesichert. Aber danach? Nächstes Jahr wird es Neuwahlen zum Bundestag geben, und der Bundeskanzler könnte dann Friedrich Merz heißen. Er könnte geneigt sein, die DB noch weiter verwahrlosen zu lassen. In einem ARD-Sommerinterview erklärte er bereits seine krude Logik: »Die Bahn muss ihr Angebot reduzieren, damit das reduzierte Angebot wieder zuverlässig erbracht werden kann. Die Bahn wird überfordert und überfordert sich im Augenblick selbst.« Als Antwort auf den jahrelangen Sanierungsstau und die Unterfinanzierung der Bahn soll sie also noch weiter abgewrackt werden. Was die fast zwei Milliarden Fahrgäste der Deutschen Bahn machen sollen, die vor allem in den Ballungszentren auf die Bahn angewiesen sind, verrät Merz nicht.
Die Trennung von Netz und Betrieb ist kein Erfolgsrezept, siehe das Chaos in Großbritannien.
Mitte des Jahres ging ein neuer Aufschrei durch Politik und Medien: Die Bahn hatte im ersten Halbjahr eine Milliarde Euro Verlust gemacht. Schuld daran waren nicht nur die Regionalzüge, sondern auch der Fernverkehr, wo die Fahrgastzahlen zurückgegangen waren. Im Grunde nicht überraschend angesichts des fortschreitenden Verfalls der Bahnstrukturen, ständiger Verspätungen und immer einen Anstieg der Zugausfälle. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) indes betete seine neoliberalen Glaubenssätze herunter: »Die Bahn muss wirtschaftlicher und wettbewerbsfähiger werden«. Und die Truppe um Bahnchef Richard Lutz reagierte einmal mehr wie eine typisch kapitalistische Saniererin.
In einem neuen Strategiepapier verkündete das DB-Management, dass die Zahl der Verbindungen in den Regionen deutlich reduziert werden müsse. Ein »verlässliches Grundangebot« wäre ausreichend. Gleichzeitig sollen aber die Preise erhöht werden. DB-Finanzchef Levin Holle erklärte: »Wir wollen in den nächsten 5 Jahren den Personalbedarf um etwa 30.000 Vollzeitpersonale reduzieren.« Man müsse es hinkriegen, »mehr Bahn mit weniger Personal« zu schaffen. Das ist offensichtlich eine Personalkürzung nach der Rasenmähermethode: ungezielt und zerstörerisch. Sie dient einzig und allein dazu, die Gewinnmarge zu erhöhen. Bei den Schaffner*innen und den Bordrestaurants soll es keine Neueinstellungen mehr geben. Gleiches gilt für die Disponent*innen, also für jene, die dafür sorgen, dass die Dienste verteilt werden und der Betriebsablauf funktioniert. Heike Moll, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Bahnkonzerns, spricht in einem Schreiben an die Mitarbeiter*innen von einem »Schlag ins Gesicht«. Es sei »illusorisch« zu glauben, dass sich der Bahnbetrieb so künftig noch aufrechterhalten lasse.
Es braucht ein erweitertes Netz
Selbst wenn es gelingt, die notwendigen Mittel für die Sanierung der Schienenwege bereitzustellen, bedeutet dies nur eine Sicherung des Status quo. Angesichts der globalen Klima- und Umweltkatastrophe braucht es aber viel mehr. Die Bahn muss so ausgebaut werden, dass ein nennenswerter Teil der Bevölkerung auf das Auto verzichten kann. Dazu müssen die Netzstruktur ausgebaut und die Zahl der Bahnen gegenüber heute deutlich erhöht werden. Der wachsende Bedarf zeigt sich daran, dass in den letzten Jahren sowohl die Zahl der Fahrgäste als auch die Gütertransporte stark zugenommen haben. Verhältnismäßig einfach wäre die Wiederinbetriebnahme der Bahnstrecken, die zwar stillgelegt wurden, aber noch nicht entwidmet sind. Damit entfallen aufwendige bürokratische Genehmigungsverfahren. Die Allianz pro Schiene hat 277 nicht entwidmete Strecken mit einer Länge von 4.573 Kilometern gezählt. Damit könnten rund 330 Klein- und Mittelstädte mit 3,4 Millionen Einwohner*innen wieder an das Schienennetz angeschlossen werden. Die Kosten wären mit rund 23 Milliarden Euro überschaubar. Doch das könnte erst der Anfang sein. Um eine echte Alternative zum Autoverkehr zu schaffen, müssten auch ganz neue Bahntrassen gebaut werden, vor allem in ländlichen Regionen.
Bei der Bahn ist in den vergangenen drei Jahrzehnten so viel schiefgelaufen, dass es jetzt eine breite Debatte über eine Neuordnung gibt. Die Union hat dazu ein Konzept vorgelegt, wonach die Bereiche Netze, Bahnhöfe und die Energiesparte aus dem DB-Konzern herausgelöst werden sollen. Daraus soll eine Infrastruktur-GmbH des Bundes entstehen, die aus der DB ausgegliedert werden soll. Bei der DB verblieben dann nur noch die Bereiche Nah-, Fern- und Güterverkehr. Damit wäre ein Hindernis aus dem Weg geräumt, um privaten Eisenbahnunternehmen mehr Raum zu geben. Die Privaten beklagen immer wieder, dass die DB ihr Netzmanagement nutzt, um ihnen den Zugang zu den besonders profitablen Fernverkehrsstrecken zu verwehren.
Es sei »illusorisch« zu glauben, dass sich der Bahnbetrieb mit dem geplanten Personalabbau künftig noch aufrecht erhalten lasse.
Doch letztlich ist das Konzept der CDU, nämlich die Trennung von Netz und Betrieb, nichts anderes als ein neuer, gut verpackter Versuch, die Bahn zu privatisieren. Dahinter steckt wieder einmal eine alte Strategie des Kapitalismus: Der Staat soll die Last der Infrastrukturkosten tragen, während sich private Unternehmen die profitablen Rosinen aus dem Kuchen picken können. Wenn dann die Einnahmen aus den profitablen Unternehmensteilen nicht mehr zum finanziellen Ausgleich der anfallenden Infrastrukturkosten verwendet werden können, steigen zwangsläufig die Kosten für die Steuerzahlenden. Genauso wurde es mit der Post gemacht, wo der lukrative Mobilfunk heute in privater Hand ist. Die Folge waren höhere Portopreise, Filialschließungen und massive Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen. Es ist auch eine Illusion, dass mit einem entflochtenen staatlichen Netzbetreiber mehr Geld in die Infrastruktur fließen würde. So ist zwar der Staat für den Straßenbau zuständig, aber das hat die bürgerlichen Politiker*innen nicht daran gehindert, Brücken und Tunnel über Jahre hinweg systematisch zu vernachlässigen.
Privatisierungspläne der Union
Dass die Trennung von Netz und Betrieb kein Erfolgsrezept ist, sondern zu noch mehr Chaos führt, sieht man in Großbritannien. Dort gibt es 28 verschiedene Bahngesellschaften. Sie sind nur den kurzfristigen Gewinnerwartungen ihrer Aktionär*innen verpflichtet. Ständige Zugausfälle, Verspätungen und überhöhte Fahrpreise sind die Folge. Obendrein haben sich die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten extrem verschlechtert. Das britische Modell liefert nicht einmal ansatzweise ein Vorbild für eine Verbesserung der deutschen Bahnmisere. Die neue Labour-Regierung zieht jetzt sogar die Notbremse und will sowohl den Bahnbetrieb als auch das Schienennetz wieder in das Staatsunternehmen British Railways überführen. Ausgerechnet dieses krachend gescheiterte Experiment der Trennung von Betrieb und Netz will die CDU/CSU nun auf Deutschland übertragen.
Die Deutsche Bahn hat heute eine chaotisch verschachtelte Unternehmensstruktur mit 600 Teilgesellschaften, eigenen Vorständen, eigenen Lohnbuchhaltungen und eigenen Personalabteilungen. Gleichzeitig betreibt sie Nahverkehrsprojekte in Delhi, Kairo oder Toronto. Und mit Stuttgart 21 ist ein milliardenteures Projekt im Entstehen, das den Bahnhof verkleinert und im Brandfall zur Todesfalle für Hunderte von Menschen werden kann. All das zeigt: Die Bahn braucht mehr demokratische Teilhabe. Ein wegweisender Schritt wäre, das faktisch oberste Kontrollgremium, das heute noch der Bahnaufsichtsrat ist, dem Zugriff des bürgerlichen Parteienfilzes zu entziehen. Bisher bestimmt die jeweilige Regierungskoalition die Mitglieder dieses Gremiums. Früher waren das vor allem Wirtschaftsvertreter*innen, heute eher Staatssekretär*innen und Bundestagsabgeordnete. Eine Demokratisierung dieses Gremiums könnte so aussehen, dass die Mehrheit der dorthin entsandten Vertreter*innen durch Gewerkschaften sowie Fahrgast- und Umweltverbände bestimmt wird. Das wäre dann statt Verstaatlichung ein Schritt zur Vergesellschaftung der Bahn.