Der Tod von Elyas H.
Selbsttötung im deutschen Asylsystem oder unterlassene Hilfeleistung aus rassistischen Motiven? Eine Spurensuche in Buckow, Brandenburg
Am 7. September wurde Elyas H., ein junger Mann aus Eritrea, tot in einem See in Brandenburg gefunden. Eine Woche zuvor hatte Elyas sich in seinem Zimmer in einer Unterkunft in Buckow schwere Selbstverletzungen zugefügt. Ein Krankenwagen kam trotz der lebensgefährlichen Verletzungen erst nach eineinhalb Stunden. Vor Ort weigerten sich die Sanitäter*innen aber, die Unterkunft ohne Begleitung von Polizist*innen zu betreten. Als diese eintraf, flüchtete Elyas aus Angst vor den Beamt*innen ohne Schuhe schwerverletzt aus dem Fenster. Bei der darauffolgenden Suche wurde Elyas nicht gefunden. Erst am 7. September wurde sein Körper schließlich geborgen.
Die offizielle Version ist die einer Selbstverletzung mit Todesfolge. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass diese Version wesentliche Aspekte der Geschichte verschweigt.
Gemeinsam mit Genoss*innen of Colour, die sich in der Gruppe Barnim für Alle gegen rassistische Ausgrenzung in Brandenburg organisieren, fahre ich nach Buckow, wo wir uns in Gesprächen mit Elyas’ Nachbar*innen der Geschichte hinter den Ereignissen vom 1. September nähern.
Als wir am Sonntag in Buckow ankommen, ist es Mohannad, der uns an der Straße begrüßt. Er kennt Ahmed, einen Aktivisten von Barnim für alle, mit dem ich zur Unterkunft komme. Ohne Mohannad hätten wir das Heim für Geflüchtete nicht gefunden, denn es liegt abseits des Dorfes, etwas versetzt an der Hauptstraße, völlig isoliert von jeglicher sozialer und ökonomischer Infrastruktur. Von Geflüchteten wird es deshalb, so wie die Unterkunft in Hohenleipisch, ebenfalls in Brandenburg, als Isolationsheim bezeichnet. In Hohenleipisch lebte Rita Awour Ojunge, die am 7. April 2019 von ihren Angehörigen vermisst gemeldet wurde. Die junge Mutter von zwei kleinen Kindern, die bereits seit 2012 mit Duldungsstatus in dem Heim lebte, wurde im Juni 2019 ermordet in der Nähe der Unterkunft aufgefunden.
Tatsächlich könnte die staatlich verordnete soziale und räumliche Isolation von BPoC (1), denen sich der Staat gerne wieder entledigen würde, kaum deutlicher sein als in Buckow. Eine Atmosphäre der Angst – vor Abschiebungen, vor Gewalt durch Polizei und Sicherheitsdienste –, welche die Alltagsrealitäten in den meisten Heimen dominiert (ak 640), schlägt uns beim Betreten der Unterkunft entgegen und prägt die Gespräche mit den Bewohner*innen.
Elyas H. lebte seit mehr als sechs Jahren in der Unterkunft in Buckow. Das Dorf ist zehn Kilometer von Eberswalde entfernt, ein Bus fährt nur selten. Doch selbst wenn er fährt, ist es nicht sicher, dass die Bewohner*innen der Unterkunft befördert werden. Bewohner*innen schildern, wie Busfahrer*innen regelmäßig an ihnen vorbeifahren, wenn nicht auch weiße Deutsche an der Haltestelle stehen. Auf Nachfrage beim Busunternehmen will man von dieser Praxis, die an die Segregationspolitik der Jim-Crow Ära in den USA erinnert, nichts wissen. Alle Fahrer*innen seien »sensibilisiert«. Elyas Nachbar*innen erzählen zudem, dass Elyas mehrmals aus dem Bus geworfen worden sei, mit der Begründung, er habe zu laut telefoniert.
Demütigung im Jobcenter
Was Elyas jedoch vor allem in die Verzweiflung trieb, waren der Druck und die Entwürdigung, denen er im Jobcenter in Eberswalde ausgesetzt war. Seine Bezüge waren vor seinem Tod komplett gestrichen worden. Zuvor hatte er, wie viele andere Bewohner*innen des Heims auch, nur 170 Euro monatlich bekommen. Das Jobcenter beschuldigte Elyas, er sei seiner »Mitwirkungspflicht« nicht nachgekommen, außerdem habe er zuvor zu viel Geld erhalten, und stellte die Zahlung der zum Überleben ohnehin kaum ausreichenden Leistungen ganz ein. Um die »Schulden« durch den angeblich zu hohen Betrag der Vormonate einzutreiben, zahlte das Jobcenter Elyas über zwei Monate gar kein Geld mehr aus. Seine Nachbar*innen erzählen, wie Elyas zum Essen zu ihnen kam, da er nicht einmal mehr Nahrungsmittel kaufen konnte. Anstatt ihn bei der Bewältigung des bürokratischen Wahnsinns zu unterstützen, drohte ihm die Heimleitung nach Aussagen der Bewohner*innen mit Obdachlosigkeit. Sofern er nicht selbst für das Zweibettzimmer aufkommen könne, müsse er ausziehen, da die Kosten der Unterkunft nicht mehr übernommen würden.
Seine traumatischen Erfahrungen auf der Flucht interessierten die Zuständigen im Jobcenter ebenso wenig wie der Umstand, dass Elyas nicht in der Lage war, die Briefe zu verstehen, die selbst für viele Muttersprachler*innen kaum zu entschlüsseln sind. Zwar hatte das Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe 2019 geurteilt, dass Sanktionen nur dann zulässig sind, wenn die Betroffenen in der Lage sind, die Kürzungen durch »eigenes Verhalten abzuwenden« – was angesichts der fehlenden Übersetzungshilfe sowie der starken psychischen Belastung, unter der Elyas litt, kaum angenommen werden kann. Auf das Handeln der Jobcenter gegenüber geflüchteten Menschen hat dieses Urteil keine Auswirkungen.
Auf die Frage, ob die Sozialarbeitenden der von der Kinder-, Jugend- und Seniorenhilfe in Buckow GmbH betriebenen Unterkunft nicht bei den bürokratischen Prozeduren helfen würden, winken die Bewohner*innen nur ab. Leistungskürzungen bis weit unter das Existenzminimum sind hier Alltag. Mitarbeiter*innen der Unterkunft treten weder durch Unterstützung bei behördlichen Problemen noch bei anderen Anliegen in Erscheinung.
Geflüchtetenunterkunft oder Haftanstalt?
Wie stattdessen die Grenze zwischen Geflüchtetenunterkunft und Haftanstalt verschwimmen, erfahren wir auch bei unserem Besuch. Als wir in einem Zimmer zum Tee zusammensitzen, klopft ein Mitarbeiter der Security aggressiv an die Tür. Der Besuch von Gästen ist offenbar nicht gern gesehen. Wer wir seien und ob wir hier etwas aufnehmen, werden wir gefragt. Erst auf die Frage nach seinem Arbeitgeber in formalem Deutsch ändert sich der Tonfall. Als »deutsch genug« wahrgenommen zu werden, ist hier offenbar, wie in den meisten Unterkünften, die Voraussetzung, um als Mensch mit Rechten behandelt zu werden.
Dass der Sicherheitsdienst nicht dazu da ist, das Leben der Bewohner*innen sicherer zu machen, wird auch in der Nacht von Elyas’ Verschwinden deutlich. Denn bis heute ist ungeklärt, warum der Security-Mitarbeiter, der von Bewohner*innen alarmiert wird, die Tür zum Zimmer, in dem Elyas schwer verletzt liegt, wieder schließt, keine Erste Hilfe leistet und die eineinhalb Stunden bis zum Eintreffen des Krankenwagens nichts unternimmt. Diese Untätigkeit spielt, neben der Weigerung der Sanitäter*innen, einen schwer verletzten Geflüchteten ohne Polizeibegleitung zu behandeln, eine entscheidende Rolle für den Tod von Elyas.
Vor allem aber spricht der Umstand Bände, dass BPoC in Deutschland lieber schwer verletzt flüchten, als in einer Ausnahmesituation auf Polizist*innen zu treffen. Für diese Angst gibt es gute Gründe. Denn Kontakt mit der Polizei ist für nicht-weiße Personen in solchen Situationen oft mörderisch, wie die vielen Fälle von Erschießungen von BPoC in den letzten Jahren belegen.
Tödlicher Kontakt mit der Polizei
Im August 2019 wurde Aman Alizada in einer Unterkunft in Stade von Beamten erschossen. Der Asylantrag des 19-jährigen Afghanen war nach seinem 18. Geburtstag abgelehnt worden, seitdem kämpfte er mit psychischen Belastungen. Als er einen akuten psychotischen Schub durchlief, rief ein Mitbewohner die Polizei; die Beamt*innen gaben trotz bereits eingesetzten Pfeffersprays fünf tödliche Schüssen auf ihn ab und beriefen sich später auf Notwehr. Ein anderer verstörender Fall ist der von Adel B., der im Juni 2019 in Essen durch seine Haustür hindurch von Polizeibeamten erschossen wurde. Adel B. hatte zuvor selbst die Polizei gerufen, um sich als suizidgefährdet zu melden. Auch in diesem Fall behaupteten die Polizist*innen, Adel B. habe sie angegriffen. Diese Behauptung wurde durch das Videos eines Nachbarn widerlegt. Mohammed Idrissi wurde 2020 in Bremen von einem Beamten erschossen, nachdem er wegen einer Zwangsräumung eine akute Krise durchlief.
Im Mai dieses Jahres erinnerten Initiativen an die bis heute unaufgeklärte Tötung der Schwarzen Deutschen Christy Schwundeck im Jobcenter Gallus in Frankfurt im Mai 2011.
In der Nacht auf den 4. Oktober dieses Jahres erschossen Polizist*innen Kamal Ibrahim in einer Geflüchtetenunterkunft im niederländischen Landkreis Stade. Der 40-jährige Mann aus dem Sudan hatte laut Zeitungsberichten noch wenige Stunden zuvor angeboten, sich selbst in Gewahrsam zu begeben.
Dies sind nur einige der vielen Fälle, in denen unbewaffnete BPoC in psychischen Krisen von Gefährdeten zur Gefahr gemacht und dann in »Notwehr« erschossen wurden. Elyas’ Flucht vor der Polizei kann insofern nicht als irrationale Reaktion gedeutet werden.
Barnim für Alle
ist eine Gruppe selbstorganisierter BPoC in Brandenburg, die zusammen mit einigen weißen Verbündeten gegen die rassistische Ausgrenzung in Unterkünften mobilisieren und der Isolation von Menschen, die dort leben, entgegentreten. Für die Aktionen der Gruppe, die auch praktische Solidarität für von Abschiebungen Betroffen organisiert, kann gespendet werden: Spendenkonto Barnim für alle, IBAN: DE 78 1705 2000 1110 0262 22, Sparkasse Barnim Website: refugeeswelcomebarnim.blogsport.de.
Die polizeiliche Praxis, regelmäßig tödliche Schüsse auf BPoC abzugeben, die sich in psychischen Ausnahmesituationen befinden, ist umso folgenschwerer angesichts der massiven psychischen Belastungen, denen Menschen in Unterkünften durch das Zusammenspiel von fehlender Privatsphäre, Behördenterror und rassistischen Abwertungen ausgesetzt sind. So kam es allein in einer Unterkunft im baden-württembergischen Ellwangen zwischen 2018 und 2020 zu 13 bekannten Suizidversuchen. Insgesamt sind im Jahr 2020 mehr als 300 Suizidversuche in Unterkünften in Deutschland dokumentiert. Diese Zahl offenbart die vernichtende Alltagsrealität in Unterkünften und macht die Frage nach Alternativen zum Polizeiruf in Momenten psychischer Krisen von BPoC umso dringender.
Bevor wir uns in Buckow verabschieden, erzählt Mohannad uns von denjenigen in der Unterkunft, die die Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland aufgegeben haben und an den »freiwillige Rückkehrprogrammen« der Bundesregierung teilnehmen wollen. »Elyas hat das auch überlegt. Selbst Leute aus dem Tschad wollen zurück, kannst du dir das vorstellen? Meine Familie ist immer noch in Darfur, deswegen muss ich irgendwie versuchen, sie von hier zu unterstützen. Aber es ist kein Leben, dass wir hier führen.«
Anmerkung:
1) BPoC steht für Black and People of Colour – Schwarze Menschen und Menschen, die nicht als weiß und westlich wahrgenommen werden.