Der größte Steuerraub in der Geschichte.
Warum sah der Staat den gigantischen CumCum- und CumEx-Deals viele Jahre untätig zu? Ein Erklärungsversuch
Von Andreas Kallert
Als »steuergetriebene Aktiengeschäfte« sind sie der Finanzwelt, als »CumEx« bzw. »CumCum-Deals« der medialen Öffentlichkeit bekannt: komplexe milliardenschwere Finanztransaktionen mit börsennotierten Wertpapieren. Das Ziel dieser Deals ist es, einmal bezahlte Steuern auf Dividenden mehrfach (CumEx) oder gar nicht bezahlte Steuern (CumCum) erstattet zu bekommen. Die Beteiligten und Begünstigten dieser Geschäfte sind Banken, Vermögensverwalter*innen, Rechts- und Steuerkanzleien sowie willfährige Gutachter*innen und Superreiche. Der von Anfang der 2000er bis 2015 durch CumEx- und CumCum-Deals verursachte Schaden ist mit 31,8 Milliarden Euro für Deutschland und 55 Milliarden für Europa jetzt schon grotesk hoch. So gelten die CumCum- und CumEx-Deals bereits als größter Steuerraub der Geschichte. Und: nach Recherchen von Correctiv können reiche Investor*innen noch immer Geld vom Fiskus abzweigen. Seit vergangenen September werden die Steuerdeals nun vor dem Bonner Landgericht verhandelt.
Augenscheinlich ist die Erstattung von nicht gezahlten Steuern moralisch verwerflich, schließlich fehlt dem Staat dadurch jede Menge Geld für andere Ausgaben, etwa im sozialen Bereich. Lange konnten sich die beteiligten Akteure dennoch darauf berufen, lediglich eine Gesetzeslücke auszunutzen. Nun hat das Bonner Landgericht deutlich gemacht, dass es die Steuerdeals für strafbar hält. Das sehen längst nicht alle so. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb kürzlich: »Im Steuerrecht zählt der gesunde Menschenverstand nicht viel.« Entsprechend hätten die CumEx-Banker gar nicht wissen können, dass ihr Tun verboten sei.
Der Staat schaut weg
Und der Staat? Der wusste spätestens seit 2002 über den Steuerraub Bescheid, tat aber wenig. Wie lässt sich das jahrelange wissentliche Ignorieren des dreisten Griffs in die Staatskasse erklären? In einer kritischen staatstheoretischen Perspektive ist der bürgerliche Staat weder ein fester Block noch ein neutraler Akteur. Stattdessen kann der Staat, mit dem Staatstheoretiker Nicos Poulantzas gesprochen, als die »materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse« verstanden werden, der bestimmte Interessen strukturell gegenüber anderen begünstigt (»strukturelle Selektivitäten«). Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus und der Stärkung des internationalen Finanzkapitals wuchs der Einfluss finanzieller Kapitalfraktionen im Staat und somit auch der von Wirtschafts- und Finanzministerien. Nationale Abhängigkeiten von der enorm gewachsenen Finanzindustrie mit ihren Banken, Versicherungen und Fonds spie-gelten sich in einer Politik wieder, die auf die Interessen dieser Akteure besondere Rücksicht nahm. Infolgedessen reagierte die Politik auf die vor allem von Banken verursachte weltweite Finanzkrise 2007/2008 mit der staatlichen Rettung eben jener Finanzinstitute. Während die Bevölkerungen der am stärksten betroffenen Länder in Südeuropa im Zuge harter Sparmaßnahmen die Schulden der jeweiligen Staatshaushalte abstottern mussten, wurden die Banken als Gläubiger der Staaten geschont.
Beispiele für derlei strukturelle Begünstigungen bestimmter kapitalistischer Interessen gibt es viele: Ob Riester-Rente, Studienkredite, private Pflegeversicherungen oder die Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen, den Interessen des Finanzkapitals wird seitens des Staates häufig sehr wohlwollend entsprochen. Mit Blick auf CumCum und CumEx bleiben dennoch Fragen offen, wurden hier doch über Jahre nahezu risikofrei Kapitalertragssteuern von der öffentlichen Hand erstattet, die nie bezahlt worden waren. Es ist gerade diese Direktheit und Unvermitteltheit der Steuergeschenke, die erklärungsbedürftig ist.
Im Falle von CumCum und CumEx sind die Finanzministerien in Bund und Ländern mit ihren untergeordneten Auf-sichtsbehörden wie der Bundesanstalt für Finanzaufsicht (Bafin) die wichtigsten Staatsapparate: Am ehesten sie hätten die teuren Tricks der Finanzbranche stoppen können. Tatsächlich blieben die Finanzbehörden jedoch über viele Jahre hinweg untätig, obwohl die Praxis längst bekannt war. Bereits Anfang der 2000er wussten die Behörden über die CumEx-Geschäfte Bescheid. Halbherzige Regulierungen 2007 und 2009 verleiteten die Branche gar dazu, in der Untätigkeit des Finanzministeriums eine stillschweigende Zustimmung zu sehen und die Geschäftspraxis auszubauen. Egal ob sozialdemokratische (Hans Eichel, Peer Steinbrück, Olaf Scholz) oder christdemokratische (Wolfgang Schäuble) Bundesfinanzminister, so wirklich stört(e) sich keiner am Steuerraub. Zwar wurden nach und nach einige Praktiken untersagt, es blieben aber immer Schlupflöcher. Schließlich wurde 2012 CumEx effektiv verhindert, das Ausmaß von CumCum dagegen erst 2015 richtig bekannt – letztere Praxis funktioniert womöglich immer noch.
Strukturell betrachtet verwundert es wenig, wenn ein Finanzministerium, das besonders offen für neoliberale Ideen ist und nur wenig ambitioniert gegen den Steuerraub vorgeht: Es träfe mit den Finanzkapitalien genau jene Fraktionen, die der nationale Wettbewerbsstaat in den letzten Jahrzehnten besonders gestärkt hat. In den 2000ern standen dabei besonders die deutschen Banken im Fokus: Zunächst kämpften diese gegen ihre internationalen Konkurrenten um ihren Teil der gigantischen Profite, die der Börsenboom und die Deregulierungen hervorbrachten. Der deutsche Staat sah sich damals vor der selbstgesteckten Aufgabe, neben zwei Global Playern – Deutsche Bank und Commerzbank – noch weitere Finanzinstitute auf dem weltweiten Finanzmarkt zu platzieren. Das Zusatzgeschäft aus CumEx kam da möglicherweise gerade zur rechten Zeit, konnten dadurch die deutschen Banken einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihrer Konkurrenz ausspielen. Dann allerdings brachte die Finanzkrise viele Finanzhäuser ins Schwanken. Der Staat sah sich als Retter in letzter Not und sprang mit Steuermilliarden für die heimischen Banken ein. Er ließ CumEx mehr oder weniger ungehindert weiterlaufen, da ein härteres Vorgehen politisch und aus Gründen der Finanzstabilität vermutlich nicht opportun war. Die fehlenden Extraeinnahmen und drohende Strafzahlungen hätten die bereits gefährlich niedrigen Eigenkapitalquoten der Banken weiter strapaziert und möglicher-weise weitere staatliche Bankenrettungen notwendig gemacht.
Personelle Verflechtungen
Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, wie verflochten der deutsche Politikbetrieb mit der Finanzbranche ist – nicht nur mit der privaten Finanzwirtschaft, sondern auch über die Staatsbanken (z.B. das staatliche Kreditinstitut für Wiederaufbau KfW oder die teilverstaatlichte Commerzbank), Landesbanken und Sparkassen. Die Landesbanken und Sparkassen sind oft nicht nur große örtliche Arbeitgeber, sie erweitern auch indirekt den politischen Handlungsspielraum für private und öffentliche Investitionen. Vor allem die Landesbanken HSH-Nordbank und die Landesbank Baden-Württemberg betrieben Geschäfte mit CumEx und CumCum. Das ist angesichts der vielen politischen Mandatsträger*innen in den Aufsichtsräten und der öffentlichen Eigentümerverhältnisse besonders pikant.
Zudem rekrutiert das Finanzministerium sein Spitzenpersonal oftmals aus der Finanzwirtschaft – und umgekehrt. So hatte der Bankenverband einen »Maulwurf« im Finanzministerium untergebracht und war dadurch stets über alle Interna informiert. Eine entscheidende Gesetzesänderung 2007 konnte der Lobbyverein so direkt in die Feder der Finanzbeamten diktieren. Mit Elisabeth Roegele ist eine ehemalige Chefjuristin der DekaBank seit 2018 Vizepräsidentin der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin). Genau diese Finanzaufsicht hatte die CumEx-Geschäfte der DekaBank gestoppt und 53 Millionen Euro zurückgefordert. Roegele hatte dagegen als Bank-Juristin Klage eingereicht – wenn auch erfolglos. Wolfgang Kubicki (FDP) galt 2017 gar als Kandidat für das Bundesfinanzministeramt, dabei vertritt er Hanno Berger anwaltschaftlich, der wegen riesiger CumEx-Geschäfte angeklagt ist. Auch Friedrich Merz (CDU) hatte bei seinen Tätigkeiten für den Investmentgiganten BlackRock und die Kanzlei Mayer Brown mehrfach mit CumEx zu tun und hält sich bei seinen Auskünften darüber sehr bedeckt.
Insgesamt bleibt die Antwort auf die Frage, wie es über ein Jahrzehnt zu diesen Steuertransfers an Vermögende und Finanzindustrie kommen konnte, trotz einiger Näherungen spekulativer Natur. Warum etwa die Bundesregierung ihre EU-Nachbarstaaten erst 2015 über die verbreitete CumEx-Praxis in Kenntnis setzte, ist unklar – die klassische Erklärung des Steuerwettbewerbs greift hier nicht, wurden doch gar keine Steuern gezahlt. Möglicherweise wurden die deutschen Banken von der Bundesregierung schlichtweg geschont. Sie gelten als renditeschwach und werden von der europäischen und globalen Konkurrenz immer weiter abgehängt. Was aus kritischer Perspektive bleibt, ist die Bestätigung, dass der bürgerliche Staat zuvörderst der »Staat des Kapitals« (Johannes Agnoli) ist – er organisiert die kapitalistische Vergesellschaftung. Die CumEx-Geschäfte lassen sich aus dieser Perspektive als ein organisiertes Zugeständnis an eine einflussreiche gesellschaftliche Gruppe interpretieren.
Derlei Beispiele für staatliche Klientelpolitik gibt es viele: E-Auto-Prämien für Firmenlimousinen (und damit für die Autowirtschaft), Baukindergeld für wohlsituierte Mittelschichtsfamilien (und damit für die Immobilien- und Bauwirtschaft) oder Share-Deals für Finanzinvestor*innen, um die Grunderwerbssteuer zu umgehen. In all diesen Fällen ist es der Staat, der eine finanzielle Umverteilung von unten nach oben organisiert und damit jene gesellschaftlichen Gruppen stärkt, die den kapitalistischen Status Quo sichern helfen und weiter vorantreiben. Selten jedoch zeigt sich diese Praxis so drastisch und unverhohlen, wie im Falle der milliardenschweren CumCum und CumEx-Geschäfte der Finanzindustrie.