Der Geschmack der urbanen Mittelschicht
Die Kölner Keupstraße zeigt, wie die Aufwertung von »Brennpunkten« durch Verdrängung die Stadtplanungspolitik prägt
Von Çağan Varol
Der Kölner Stadtteil Mülheim hat im Ranking der Veedel (Viertel) einen ambivalenten Ruf: Aufgrund seiner Lage am Rhein ist Mülheim mit seinen rund 40.000 Einwohner*innen einerseits sehr beliebt, wird aber andererseits oft mit Arbeitslosigkeit, Kriminalität und einer problematischen Bewohner*innenschaft in Verbindung gebracht. Es ist anscheinend schön dort, nur, so könnte man die mediale Berichterstattung zu Mülheim zusammenfassen, leben noch zu viele migrantisierte und von Armut betroffene Menschen in den begehrten Wohnlagen.
Traurige Bekanntheit erlangte Mülheim bundesweit, als der NSU im Sommer 2004 in der hier gelegenen Keupstraße einen Nagelbombenanschlag verübte. 22 Menschen wurden damals zum Teil schwer verletzt. Ein Jahrzehnt nach der Aufdeckung des rechtsterroristischen Netzwerks erscheint dieses Ereignis nur noch als eine Randnotiz: Der Stadtteil hat sich verändert und seine frühere Bewohner*innenschaft ist durch die ökonomische Aufwertung immer mehr in die Randbezirke verdrängt worden. Rund um die noch immer migrantisch geprägte Keupstraße mit ihren zahlreichen Ladenzeilen sind neue Bürogebäude und Wohnkomplexe in der Entstehung begriffen. Hier verblasst die Erinnerung an den rassistischen Anschlag.
In solchen Verdrängungsprozessen zeigt sich ein Gefüge politischer Herrschaft, das Köln-Mülheim und viele andere Orte in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert hat, und sich am besten als »sozialräumlicher Rassismus« beschreiben lässt: Arme und marginalisierte Menschen werden ethnisiert, kriminalisiert und aus den Vierteln gedrängt, bezahlbarer Wohnraum, ökonomische und sozialen Ressourcen werden ihnen auch anderswo vorenthalten oder entzogen. Bezirksvertretung und Stadtverwaltung diskutieren zwar Erhaltungsmaßnahmen, um den Verdrängungsprozess zu verlangsamen. Derlei Konzepte sind in der Praxis aber untauglich. Sie beziehen bewusst die von der Verdrängung betroffenen Straßenzüge nicht mit ein.
Bei Erhaltungssatzungen geht es zudem nur um die Vermeidung von einseitigen Bevölkerungsstrukturen. Aufwertungsprozesse und Mietsteigerungen können darüber nicht aufgehalten werden. Die Stadtverwaltung erkennt lediglich an, dass Verdrängung in bestimmten Vierteln stattfindet und erklärt, dass die aktuelle Bewohner*innenstruktur erhalten werden soll. Weite Teile Mülheims haben jedoch bereits eine andere Mieter*innenstruktur als vor 20 Jahren, viele Altmieter*innen wurden verdrängt.
Wettbewerb um Raum
Der Niedergang ehemaliger Industriestädte durch den Strukturwandel hat zur Neubewertung der Kategorie Raum geführt. Unternehmerische Interessen und soziale Stadtpolitiken haben sich in diesem Prozess immer weiter angeglichen. Zugezogene Akademiker*innen, Angestellte oder Beamt*innen sollen in den sogenannten sozialen Brennpunkten für eine Aufwertung sorgen. Diese Politik war so »erfolgreich«, dass das mittelständische Milieu in vielen Stadtteilen nun selbst von einer Verdrängung durch besser Verdienende betroffen ist. Die ehemaligen Arbeiter*innenviertel, in denen viele Menschen mit Migrationsgeschichte leben, wie Köln-Ehrenfeld, die Südstadt oder Köln-Nippes, wurden nach und nach erfolgreich gentrifiziert – angetrieben auch von einem intensiven Wettbewerb der Städte und Stadtteile untereinander.
Die Entwicklung in Köln-Mülheim setzte später ein, doch das direkt am Rhein gelegene Stadtviertel zieht heute immer mehr einkommensstarke Schichten an. Die Neubebauung im Umfeld der Keupstraße hat bereits begonnen. Im direkt an die Keupstraße angrenzenden Quartier »Ehemaliger Güterbahnhof« entstehen Büros und neue Infrastrukturen für deren 7.000 Mitarbeiter*innen. Das Projekt gilt schon jetzt als großer Erfolg: Namhafte Firmen wie Siemens, Cancom oder BNP Paribas haben sich dort bereits vor der Fertigstellung der Gebäude eingemietet. Die Osmab Holding AG, ein Bauentwickler und Immobilieninvestor, hat den Großteil der Fläche des ehemaligen Güterbahnhofs aufgekauft und entwickelt diesen nun in einem Joint Venture mit Art-Invest Real Estate weiter. In einem Artikel, der 2019 auf der Homepage der Holding erschien, machte diese deutlich, wohin die Reise gehen soll: »Weg vom Problemquartier – Ein Veedel auf der Überholspur«. (1)
Teilhabe gibt es nicht geschenkt
Die öffentliche Darstellung der Stadtviertel spielt bei Gentrifizierungsprozessen insgesamt eine wichtige Rolle. In der medialen Berichterstattung über die heute an das Neubaugebiet angrenzende Keupstraße rückte schon Ende der 1990er Jahre, neben dem positiven Bezug auf die dort ansässige »Kreativbranche« und die »Multi-Kulti-Atmosphäre«, auch die »Brennpunkt«-Thematik immer stärker in den Mittelpunkt. Dieses Brennpunktimage wurde den angeblichen Vorzügen der Gentrifizierung gegenübergestellt. Nur der NSU-Anschlag von 2004 wirkte hier als kurze Zäsur. Dennoch wurde deutlich: Die aktuellen Bauvorhaben im Köln-Mülheimer Raum waren von Beginn an nicht für die Menschen gedacht, die seit Generationen in der Keupstraße oder in anderen ehemaligen Arbeiter*innenvierteln lebten, sondern »für eine ganz andere Gesellschaft« – so drückt es eine Broschüre der Initiative »Herkesin Meydanı – Platz für Alle« (2) aus, die zum 15. Jahrestag des Gedenkens an die Opfer des NSU veröffentlicht wurde. Sie illustriert die Brisanz der städtebaulichen Entwicklung: »Die Verdrängung der Bevölkerung ist gewollt.« Projekte wie der Ehemalige Güterbahnhof oder auch das Bauprojekt Coloneo I und II in Mülheim-Süd würden »den gesamten Stadtteil so stark verändern, dass nach der Fertigstellung nichts mehr so sein wird wie vorher«. (3)
Defizite bei der Quartiersentwicklung werden von der Politik vor allem auf Seiten der migrantischen Gewerbetreibenden verortet.
Die Kommunalpolitik sieht die Entwicklungen in Mülheim dennoch positiv. Defizite bei der Quartiersentwicklung werden von der Politik vor allem auf Seiten der migrantischen Gewerbetreibenden verortet. Diese hätten es bisher beispielsweise versäumt, die kulinarischen Bedürfnisse der neuen Klientel in ihre Menüs einzubeziehen: Kein Wunder also, dass sie von der Aufwertung nicht so stark profitierten. Ohne Smoothies oder Salatvariationen auf der Speisekarte bliebe ihnen die Teilhabe am ökonomischen Aufschwung ihres Viertels verwehrt. Diese Logik zeugt von einer ignoranten Unkenntnis der lang gewachsenen Strukturen vor Ort: Die spezialisierten migrantischen Ökonomien, die sich überall herausgebildet haben – so gibt es auf der Keupstraße allein 15 Juweliere, die selbst mit Gold arbeiten, sowie große Restaurants, die seit Generationen in Familienhand sind und etliche Festangestellte beschäftigen –, werden in der medialen Darstellung auf Kioske und Handygeschäfte reduziert. Das Konsumverhalten und der Geschmack der alteingesessenen Kundschaft wird als austauschbar betrachtet. Neue Angebote würden auch die Bedürfnisse der Anwohner*innen verändern, so die Rechnung der Verantwortlichen. In früheren Untersuchungen bezeichnete man solche Versuche der Disziplinierung und Modifizierung von Alltagsbedürfnissen über den Markt als »Domestication by Cappuccino«: Nach und nach wurden in vielen Vierteln der Geschmack und die Werte der urbanen Mittelschicht als Präferenz gesetzt und die alte Kundschaft verdrängt.
Mediale Schützenhilfe für die Verdrängung
Die selektive Anwendung von städtebaulichen Schutzsatzungen beschleunigt solche Prozesse in einigen Stadtvierteln noch. So ist die Keupstraße nicht in den Wirkungskreis der für angrenzende Gebiete geltenden Erhaltungsmaßnahmen einbezogen. Der Ausschluss von einzelnen Straßenzügen (auch die Berliner Straße gehört dazu) von den Vorzügen einer bewahrenden Stadtpolitik geht Hand in Hand mit der ethnisierenden Berichterstattung über den angeblichen »sozialen Brennpunkt« Keupstraße. Das Viertel ist für die einkommensstarken Schichten als Wohnumgebung (noch) nicht attraktiv genug. Das soll sich – gerade auch im Zuge der Bebauung des angrenzenden Güterbahnhofgeländes – nach dem Willen der Städteplaner*innen bald ändern. Viele Familien, die noch in der Straße wohnen, haben bereits Kündigungsschreiben erhalten, denn zunehmend werden Häuser in der Keupstraße von einem privaten Investor aufgekauft. Dass die Bewohner*innen dabei durch die Stadtverwaltung bewusst allein gelassen werden, ist offensichtlich. Die verdrängten Familien, darunter viele aus Bulgarien und Rumänien stammende Rom*nja, dürften es aufgrund des Rassismus auf dem Wohnungsmarkt schwer haben, woanders eine Wohnung zu finden.
Nicht einmal 20 Jahre nachdem der NSU aus rassistischen Motiven einen verheerenden Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße verübte, zeigt sich, wie sozialräumlicher Rassismus wieder zu einem tragenden Element stadtplanerischer Politiken geworden ist. Die Verdrängung der vermeintlichen »Problembewohnerschaft«, so bringt es Andrej Holm auf den Punkt, ist in diesem Sinne »das Wesen der Gentrification und kein ungewollter Nebeneffekt«. Die städtische Politik bedient sich vielfach rassistischer Narrative, um diese Verdrängung zu rechtfertigen. Durch die Skandalisierung von sogenannten sozialen Brennpunkten werden urbane Räume als Angsträume dargestellt, während ein Handlungsdruck auf die Verwaltung erzeugt wird, das Problem endlich in den Griff zu bekommen. Dass die Keupstraße zeitgleich als »Multi-Kulti-Straße« vermarktet wird, ist dabei ebenso wenig ein Widerspruch, wie die zunehmende Attraktivität der Straße für Investor*innen: Die jahrelange Desinvestition in »benachteiligte Viertel« hat diese zu günstigen und damit begehrten Gebieten gemacht.
Anmerkungen:
1) Der Satz »Weg vom Problemquartier« wurde einige Monate später durch »Weg vom Problem« ersetzt. Der Titel wurde umgeändert in »Ein Veedel auf der Überholspur«.
2) Das Bündnis ist größtenteils aus der Bewegung »Tribunal NSU-Komplex Auflösen« hervorgegangen. Die Kernforderung des Bündnisses war die Errichtung eines 2015 beschlossenen Mahnmals an der Keupstraße. Bis 2024 soll dessen der Bau verwirklicht werden.
3) Flyer vom 9. Juni 2019.