Demokratischer Konsens gegen Geflüchtete
Die deutsche Öffentlichkeit ist sich einig: Am Elend der Migrant*innen sind Lukaschenko und Putin schuld
Von Ewgeniy Kasakow
Die »Flüchtlingskrise« an der Grenze zwischen Belarus und den EU-Ländern Polen und Litauen verschwindet langsam aus den Schlagzeilen. Statt Bilder von Geflüchteten, die versuchen, die Grenze zu überwinden, erreichen die Öffentlichkeit solche von der Unterbringung von Tausenden von Menschen aus dem Nahen Osten in belarussischen Lagerhallen. Von dort gibt es für sie nur zwei Wege: zurück in ihre Herkunftsländer oder erneut an die EU-Grenze. Das Letztere aber wird in der Winterzeit immer schwieriger. Ihr Verbleib in Belarus, so macht die Regierung klar, ist nicht möglich.
Minsk und Moskau bot die Behandlung der Geflüchteten durch die EU die Möglichkeit, eine Menschenrechtsdebatte gegen jene Länder zu eröffnen, die dieses Thema gerne selbst nutzen, um sich in innere Angelegenheiten von anderen Staaten einzumischen.
Die deutschen Medien wiederum hatten das plötzliche Auftauchen der Migrant*innen an der EU-Grenze im Herbst sofort durchschaut: Der »Oberschleuser« und »Geiselnehmer« (SZ) Alexander Lukaschenko habe der EU mit russischer Unterstützung einen »hybriden Krieg« erklärt. Das von der EU nicht als legitim anerkannte Staatsoberhaupt habe zu einer besonders bedrohlichen Waffe gegriffen: Menschen, die aus den Kriegs- und Krisengebieten fliehen. Ihnen ermögliche Belarus die Durchreise zur EU-Grenze, wo die Geflüchteten hoffen, Asyl zu bekommen. Noch schuldiger als Lukaschenko ist, so die einhellige Meinung, nur noch Wladimir Putin. Er habe einen großen Einfluss auf den belarussischen Machthaber, stehe einer unfreundlichen Atommacht vor und sei damit nicht so einfach in Schach zu halten.
Werte und Grenzen
Während Belarus und Russland die Einreise erleichtern und suggerieren, dass eine Durchreise in die EU möglich ist, verbreiten ihre Staatsmedien nach innen und außen (beispielweise über »Russia Today«) seit 2015 die Falschinformation, Deutschland hätte die Migrant*innen im Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise aktiv »eingeladen«. Dies erfüllt gleich mehrere Funktionen: Es zeichnet der eigenen Bevölkerung das Bild des kommenden Untergangs des Westens durch die Migration, mobilisiert die rassistische Opposition in der EU gegen ihre Regierungen und erhöht die Motivation der potenziellen Migrant*innen, sich auf den Weg zu machen. Die politische Entscheidung, die Einreise nach Belarus zu erleichtern, ermöglicht im Nahen Osten ein profitables Geschäft mit Tickets. Migrationshilfe wird zur Dienstleistung. Im Gegensatz zur »Schleuserei« findet es aber im Rahmen geltenden Rechts statt.
Jetzt kommt es, so kann man es den meinungsmachenden Medien entnehmen, auf die europäische Solidarität im Namen der demokratischen Werte an: darauf, den Geflüchteten den Grenzübergang zu verwehren, notfalls auch bewaffnet. Denn, so Bild-TV, »die Russen wollen uns ins moralische Dilemma bringen.« Das dürfen sich Demokrat*innen von Diktatoren nicht gefallen lassen! Wie die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel zutreffend feststellte, sind die Geflüchteten »sozusagen Opfer einer menschenfeindlichen Politik«.
Damit ist allerdings auf gar keinen Fall die Politik der EU-Länder gemeint! Die berechnende Visavergabe an die Migrationswilligen aus den Kriegs- und Krisenregionen durch die belarussische Regierung wird als Tat eines wahnsinnigen Potentaten pathologisiert, während der Einsatz der Staatsgewalt durch die EU als einzige rationale Reaktion dargestellt wird.
Die Visavergabe durch die belarussische Regierung wird als Tat eines wahnsinnigen Potentaten pathologisiert, der Einsatz der Staatsgewalt durch die EU als einzige rationale Reaktion dargestellt.
Dafür haben Medien, die schon mal in einem Tempolimit Anzeichen einer kommenden Diktatur sehen, volles Verständnis. »Das gehört mit dazu, man darf seine Grenze tatsächlich auch verteidigen und es findet ein Angriff statt«, stellt Bild-Chefreporter Peter Tiede am 8. November fest. Dass die Geflüchteten zu diesem Zeitpunkt noch unbewaffnet seien und noch keinen gewaltsamen Widerstand leisteten, dürfe niemanden täuschen – denn »Lukaschenko schießt mit Menschen auf die Europäische Union«, so Tiede.
Die SZ empört sich währenddessen über die gewissenlosen Fluglinien, die Menschen einfach so um des Profits willen nach Belarus fliegen. Und der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen klärt über Twitter auf, dass der Minsker Diktator die »Europäer« (er selber ist wohl keiner) »für ihre Solidarität mit den Belarussen« bestrafen möchte. Und zwar indem er diesen hilfsbedürftige Nichteuropäer auf den Hals hetze. Da hat er aber die Rechnung ohne den EU-Wirt Deutschland gemacht!
Wenn in Russland die Polizei Reporter*innen bei den Protesten nicht filmen lässt, zeige da ein Unrechtsregime sein wahres Gesicht, so der Konsens der guten Demokrat*innen. Wenn Polen aber weder Journalist*innen noch Hilfsorganisationen ins Grenzgebiet lässt, als würden dort Kämpfe stattfinden und nicht ein Einsatz der Armee gegen unbewaffnete, ausgehungerte und frierende Zivilist*innen, dann sei laut sächsischen Innenminister Roland Wöller Dank angesagt. Denn, so das CDU-Mitglied, Polen »schützt Deutschland« und auch »Europa«.
Verheerendes Telefonat
Aus den Reihen der neuen Regierungspartei der Grünen kommt scharfe Kritik. Allerdings weniger an der Behandlung der Menschen, sondern am Telefonkontakt von Angela Merkel zum zwar aus der EU-Sicht illegitimen, aber doch amtierenden Präsidenten von Belarus. »Verheerend, dass Frau Merkel mit ihm telefoniert hat«, sagte der Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour im »Deutschlandfunk«. Lieber nichts an der Lage der Menschen verbessern, als den ohnehin regierenden Lukaschenko anerkennen.
Auch die Koalitionspartner von der FDP wissen über Ursache und Wirkung Bescheid: »Was Lukaschenko da macht, ist vollkommen klar: Das ist eine künstlich produzierte Migrationskrise«, sagt Alexander Graf Lambsdorff. Eine natürlich produzierte Migrationskrise würde er wohl schon von Weitem von künstlichen unterscheiden können. Nicht Not und Elend in den Herkunftsländern, sondern Lukaschenkos Manöver treibe die Migrant*innen in die EU. Aber im Gegensatz zur Diktatur, die sie weiterreisen lasse, greifen die Demokratien im Namen des Rechtsstaates durch. »Illegale Grenzübertritte sind schließlich verboten«, wie Expert*innen und Politiker*innen bei Bild-TV wie um die Wette wiederholen.
Da klingt selbst die Stimme des »Identitären« Martin Sellner nüchterner, wenn er die Asylpolitik der EU mit der südkoreanischen Erfolgsserie »Squid Game« vergleicht und darauf hinweist, dass in einem Atemzug Asyl und Integration für diejenigen, die es über die Grenze schaffen, in Aussicht gestellt und größere Hindernisse für die Grenzüberquerung gefordert werden.
Dabei würde Lukaschenkos Manöver nicht ohne die in der EU massiv geschürten Angst vor Migration funktionieren. Abwehr der Geflüchteten ist kein Reflex, sondern die Entscheidung souveräner Staaten. Belarus und Russland können nur deswegen die Bilder von leidenden Migrant*innen propagandistisch ausschlachten, weil sie davon ausgehen, dass die Regierungen von Polen und Litauen allein schon ihren Wähler*innen zuliebe Härte zeigen werden.