Stirbt die deutsche Industrie?
Von Lene Kempe
Robert Habeck, seines Zeichens Wirtschafts- und Klimaschutzminister, hat sich etwas vorgenommen: Er will den Standort Deutschland vor der »Deindustrialisierung« bewahren. Denn die Industrie, so formuliert Habeck in einem Ende Oktober vorgestellten Positionspapier, ist »unsere größte Stärke«. Sie trage »entscheidend zum sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft bei und auch zu ihrer demokratischen Stabilität«. Und sie leide: unter den geopolitischen Verwerfungen, der globalen Konjunkturflaute, der schwachen chinesischen Nachfrage, unter der Inflation, den hohen Energiekosten und der Export-Konkurrenz, unter Überregulierung, Bürokratie und Fachkräftemangel.
Und tatsächlich scheint ein Blick in die Presse Habecks Sorgen vor einem industriellen Meltdown am Standort Deutschland zu bestätigen: BASF etwa will mehrere Produktionsanlagen in Ludwigshafen stilllegen und dort perspektivisch 4.200 Jobs streichen, beim Spezialchemiekonzern Lanxess sollen es 460 sein. Auch Autobauer Ford will 2.300 Jobs an den Standorten Köln und Aachen abbauen, VW in Wolfsburg etwa 4.000. Laut Handelsblatt bereiten auch viele Autozulieferer Sparpläne vor. Im Maschinenbau klagt nahezu die gesamte Branche seit Monaten laut über Auftragseinbrüche. KraussMaffei kündigte im Februar an, 4.700 Arbeitsplätze einsparen zu wollen, der Branchen-Verband gibt sich aber auch mit Blick auf die vielen Mittelständler alarmiert. Und Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf stößt in das gleiche Horn, spricht von Auftragseinbrüchen, Abwanderung, Stellenabbau und fordert die Politik zum Handeln auf. »Die Deindustrialisierung in Deutschland hat begonnen«, kommentierte Lanxess-Chef Matthias Zachert diese Entwicklungen. Verliert die deutsche Wirtschaft also »die Maschine, die den Karren zieht« (BDI)? Es lohnt sich, die Sachlage etwas genauer anzusehen.
Denn zum einen kommt der relative Bedeutungsverlust dieser (ehemaligen) deutschen Schlüsselindustrien wenig überraschend, bringt der lange absehbare Strukturwandel der Wirtschaft hin zu »grüneren Technologien« und mehr Energieeffizienz doch notgedrungen Veränderungen im industriellen Sektor mit sich. Zum anderen werden derzeit etliche Fördertöpfe aufgelegt, um die Ansiedlung neuer Industrien zu unterstützen. Auf EU-Ebene wurden gleich mehrere Gesetze auf den Weg gebracht, um die staatliche Industrieförderung – unter Liberalen lange verpönt – in den Mitgliedstaaten für neue Technologien zu ermöglichen. Die Bundesregierung macht davon regen Gebrauch, Chipgiganten wie Intel, TSMC und Infineon wurden mit Milliardensubventionen angelockt, Ostdeutschland ist zum neuen Technologiestandort geworden. Aber auch Elektromobilität wird massiv mit Steuergeldern gefördert, inklusive Batteriefabriken und Rohstoffabbau. Die »alten Industrien«, denen es bislang nur schleppend gelingt, sich diesem Strukturwandel anzupassen, »sterben« außerdem nicht einfach. Aktuell strukturieren sie ihre Unternehmen um, trennen sich von »unprofitablen« Bereichen, verändern ihre Produktpalette oder verlagern Produktion, wenn die Gewinnmargen hierzulande sinken. Nach China zum Beispiel, so macht es BASF, oder nach Osteuropa, so machen es etliche Mittelständler aus dem Maschinenbau oder der Automobilindustrie – seit Jahrzehnten schon. Auch für die meisten Beschäftigten in den alten Industriebetrieben ist die Lage weniger bedrohlich, als es auf den ersten Blick scheint, denn Automobil-, Metall- und Elektroindustrie, die Chemiebranche und der Maschinenbau sind die stärksten Bastionen der deutschen Gewerkschaften. Zumindest die Stammbelegschaften sind tariflich abgesichert und so geht es bislang überwiegend um einen sozialverträglichen Abbau von Stellen: Wer etwa in Rente geht, wird nicht nachbesetzt. Eine extrem schlechte Nachricht ist diese Entwicklung dennoch gerade für die Gewerkschaften, die in den »Zukunftsbranchen« bislang nur schwer Fuß fassen und deren Mitgliederbasis nun weiter zu erodieren droht.
Das, was unter dem politischen Kampfbegriff »Deindustrialisierung« verhandelt wird, ist also durchaus eine besorgniserregende Entwicklung, weil gewerkschaftliche Handlungsmacht und hart erkämpfte tarifliche Errungenschaften darin verloren gehen. Die Industrieunternehmen, die aktuell am lautesten jammern, haben aber wenig zu befürchten. Habeck hat ihnen in seinem Papier volle Unterstützung signalisiert. Anfang November konnte er nun eine Einigung beim lange umstrittenen Industriestrompreis (ak 697) verkünden – für fünf Jahre sollen insbesondere die energieintensiven Unternehmen entlastet werden, 2024 allein mit rund zwölf Milliarden Euro. Die Aktien von BASF und Co. stiegen deutlich. Und die Unternehmen, die neu auf den Markt drängen, dürfen sich auch freuen: Über den Eifer, mit dem sich der Standort Deutschland jetzt auf ihre Bedürfnisse einstellt, um nicht doch noch als Agrarstaat zu enden.