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Lebensgefahr Gewahrsam

Die Initiative Death in Custody über Kriterien und Grenzfälle

Von Sonja John und Lina Schmid

Oury Jalloh ist wohl der bekannsteste Fall eines Toten in einer deutschen Polizeizelle. Foto: anonym / Wikimedia Commons, Public Domain

Qosay Sadam Khalaf starb dieses Jahr im Polizeigewahrsam in Delmenhorst. Dies brachte die regelmäßigen Tode in polizeilicher »Obhut« wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Wie so häufig, ist es auch hier schwer herauszufinden, warum Qosay Sadam Khalaf sterben musste. Ist es der Unwille oder die Unfähigkeit der Verantwortlichen, die Todesursache festzustellen? Auf den Tod von Khalaf folgten wie immer schleppende Ermittlungen und ungeklärte Fragen. Deshalb ist es wichtig, dass jenseits staatlicher Institutionen Aufklärung vorangetrieben wird. Denn allein unsere Recherche hat 181 Fälle seit 1990 ergeben. Doch nach welchen Kriterien haben wir die Fälle in die Dokumentation aufgenommen?

Am Internationalen Tag gegen Polizeigewalt, dem 15. März 2021, stellten wir, die Recherche-AG von Death in Custody, unsere Ergebnisse vor und publizierten diese auf der Seite doku.deathincustody.info. Diese Dokumentation stützt sich auf die Arbeit von der Kampagne für Opfer rassistischer Gewalt (KOP) und die der Antirassistischen Initiative zu den tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik, auf die jährlichen Veröffentlichungen der Zeitschrift CILIP zu polizeilichen Todesschüssen und die Recherchen der vielen Initiativen, die sich für die Aufklärung einzelner Todesfälle in Gewahrsam einsetzen. Die Kriterien, nach denen wir Todesfälle dokumentieren, haben wir kollektiv erarbeitet und in Auseinandersetzung mit konkreten Todesfällen entwickelt. Wichtig ist nicht nur, welche Vorkommnisse aufgenommen werden, sondern auch, welche nicht und wo die Grenze verläuft. Diese Überlegungen gehen mit andauernden Diskussionen einher.

Rassismus

Ein zentrales Kriterium ist natürlich, ob bei einem konkreten Todesfall Rassismus vorliegt. Unsere Recherche basiert auf einem breiten Rassismusverständnis, das sich nicht auf körperliche Merkmale der Betroffenen beschränkt, sondern auch Faktoren wie Flucht, Migration und Illegalisierung mit einbezieht. Es umfasst alle Menschen, die aufgrund von rassifizierenden Zuschreibungen als »anders« und dadurch als potenziell »kriminell«, »gefährlich« oder »illegal« markiert werden. Zu relevanten Merkmalen gehören Hautfarbe, Haarfarbe, Kleidung und andere wahrnehmbare und feststellbare Merkmale wie religiöse Symbole, Sprache, Name, Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus.

In vielen Fällen wird eine Gewahrsamssituation dadurch hergestellt, dass die Polizei durch ihr Handeln eine ausweglose Situation schafft, aus der die Betroffenen sich nicht lebend befreien können.

So tauchen in der Dokumentation viele Menschen aus Osteuropa auf oder auch der 37-jährige Italiener, der am 15. August 2020 auf der Polizeidirektion in Dresden das Bewusstsein verlor und in derselben Nacht im Krankenhaus starb. Nicht aufgenommen wurde hingegen Dennis J., der am 31. Dezember 2009 im Alter von 26 Jahren in Schönfließ, Brandenburg, kurz vor den Toren Berlins von der Berliner Polizei gejagt wurde. Bei der versuchten Flucht schoss ein Beamter acht Mal auf ihn und traf tödlich. Die Chronik von KOP  führt Dennis J. auf, weil sein Freundeskreis überwiegend aus migrantischen Leuten aus dem Schillerkiez bestand, wo J. aufwuchs. Wir haben den Fall hingegen nicht aufgenommen, weil rassifizierende Zuschreibungen nach den oben genannten Merkmalen nur schwer erkennbar waren. Legten wir ein noch breiteres Rassismusverständnis − wie das von Ruth Wilson Gilmore, die Rassismus als staatliches Herbeiführen von Gefahrenlagen durch frühzeitigen Tod und Knast als Klassenkrieg definiert − zugrunde, zählten so gut wie alle Inhaftierte als rassifizierte Personen.

Gewahrsam

Auch unser Verständnis von Gewahrsam ist breit angelegt. Wir unterscheiden zwischen einer räumlichen und einer akteursbezogenen Perspektive. Räumlich bedeutet, dass sich der Tod an einem Ort ereignete, an dem die betreffende Person auf staatliche Anordnung gegen ihren Willen festgehalten wurde: im Gefängnis, in Polizeigewahrsam, in einer geschlossenen Psychiatrie oder im Flugzeug während einer Abschiebung. Akteursbezogen heißt, dass die Staatsgewalt für den Tod direkt verantwortlich ist. Daher erfassen wir auch Tod durch Erschießen, durch physische Gewaltanwendung der Polizei oder auf der unmittelbaren Flucht vor der Polizei. In solchen Fällen wird eine Gewahrsamssituation dadurch hergestellt, dass die Polizei durch ihr Handeln eine ausweglose Situation schafft, aus der die Betreffenden sich nicht lebend befreien können. Auf diese Weise können sowohl strukturelle Formen von Gewalt als auch direkte physische Gewaltausübung durch Polizei und Wachdienste erfasst werden. Todesfälle in Lagern (sogenannte Ankerzentren oder Aufnahmeeinrichtungen) werden nur aufgenommen, wenn Wachdienste oder Polizist*innen direkt daran beteiligt waren.

Faschist*innen gedenken?

Wir haben ausgiebig darüber diskutiert, ob an Menschen, die organisierten faschistischen oder menschenverachtenden Gruppen angehören, mit unseren Gedenkposts auf Social Media in gleicher Form erinnert werden soll wie friedfertigen Opfern staatlicher Gewalt. Am 12. Oktober 2016 starb der 22-jährige Syrer Dschaber al-Bakr an »Suizid« nach einem Hungerstreik in der JVA Leipzig. Er wird dem sogenannten Islamischen Staat zugeordnet, der für die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen, die Verfolgung und Unterwerfung religiöser Minderheiten und Andersdenkender steht und u. a. für den Genozid an den Êzid*innen in Südkurdistan im August 2014 verantwortlich ist.

Dies steht im klaren Widerspruch zu den politischen Zielen der Kampagne Death in Custody. Dennoch wurde Dschaber al-Bakr in die Dokumentation mit aufgenommen, denn entscheidend für die Aufnahme von Todesfällen ist weniger, ob die getötete Person uns politisch nahesteht, sondern ob die Todesumstände den Kriterien entsprechen. Gleiches gilt auch für den 43-jährigen Hamid P., ein »führendes Mitglied« der türkischen Rockergruppe Osmanen-Germania. Er wurde am 9. Februar 2018 in Wuppertal von einem SEK-Beamten mit einem Schuss ins Herz hingerichtet. Bei der Osmanen-Germania handelt es sich um eine mittlerweile verbotene Rockergruppierung, die für organisierte Kriminalität und ihre Nähe zu den faschistischen Grauen Wölfen, die Gewalt und Einschüchterungen gegenüber Kurd*innen, Linken und Oppositionellen aus der Türkei ausüben, bekannt ist. Das steht im Widerspruch zum antirassistischen und antifaschistischen Anspruch der Kampagne Death in Custody.

Wir richten uns selbstverständlich gegen jede Verharmlosung und Rechtfertigung von Partnerschaftsgewalt bzw. häuslicher Gewalt. Dass wir auch die Todesfälle etwaiger Täter*innen in unsere Chronik aufnehmen und mit Posts auf Social Media an sie erinnern, bedeutet keine Billigung des vorherigen Verhaltens. Das Töten in Gewahrsam muss aufhören. Unsere Dokumentation versucht offenzulegen, wie häufig und kontinuierlich von Rassismus betroffene Menschen in Deutschland in Gewahrsam sterben, und die Muster der Tötungen sichtbar zu machen. Entscheidend für die Aufnahme in unsere Statistik ist deshalb lediglich, ob die Todesumstände in unsere Recherchekriterien fallen.

Bewaffnete Situationen

Wir haben uns grundsätzlich dagegen entschieden, Fälle mit aufzunehmen, in denen die getötete Person mit einer Schusswaffe hantierte und zuvor unbeteiligte Dritte willentlich in Lebensgefahr gebracht hat. So fand der 41-jährige Rafik Y., der am 17. September 2015 in Berlin-Spandau während seiner Festnahme eine Polizistin verletzte, keinen Eingang in die Dokumentation. Aufgenommen wurde hingegen der Fall des 26-jährigen Eritreers, den die Polizei am 2. November 2019 im rheinland-pfälzischen Hoppstädten-Weiersbach erschossen hat. Vorher war er mit einer Axt unterwegs gewesen und soll einen Menschen bedroht und auf ein Auto eingeschlagen haben. Der Mann wurde durch einen Kopfschuss getötet.

Neben den von uns dokumentierten Fällen von in deutschem Gewahrsam getöteten Schwarzen Menschen und People of Color (BPoC) gibt es also weitere, die uns bekannt sind. Diese Todesfällen haben wir aber aufgrund unserer Kriterien nicht mit aufgenommen. Zudem gehen wir aufgrund der schlechten Datenlage davon aus, dass die Dunkelziffer sehr hoch sein muss. Wir können keine Aussage zu der häufig gestellten Frage treffen, wie groß der Anteil von BPoC an allen in Gewahrsam oder durch Polizeigewalt getöteten Menschen ist, da in Deutschland darüber keine Daten erhoben werden und so die Möglichkeiten einer Recherche dazu stark begrenzt sind. Nur die Staatsbürgerschaft wird vermerkt. Wir gehen davon aus, dass es sehr viel mehr Vorkommnisse gibt, und setzen daher die Recherche fort und aktualisieren stetig die Internetseite. Gerne nehmen wir Hinweise zu Todesfällen entgegen, die bislang fehlen.

Sonja John

ist in der Kampagne Death in Custody aktiv und hat die Recherche-AG mitgegründet. Kontakt: death-in-custody@riseup.net

Lina Schmid

ist in der Kampagne Death in Custody aktiv und hat die Recherche-AG mitgegründet. Kontakt: death-in-custody@riseup.net