Kampf um Renten und Anerkennung
Die Bundesrepublik verweigert den DDR-Bergleuten von Espenhain die versprochene Pension
Von Hanno Hinrichs
Werner Friedrich ist aus der Zeit gefallen. In seiner alten Bergmannsmontur wartet der 80-Jährige vor den Rolltreppen der dreistöckigen Einkaufspassagen im Leipziger Hauptbahnhof. Sie ist sein Erkennungszeichen, wenn er Politiker*innen oder Journalist*innen in die Kleinstadt Borna rund 30 Kilometer südlich von Leipzig eskortiert. Er friert. Der schwarze Bergkittel aus DDR-Polyester ist zu dünn für Anfang Februar.
»Die Fahrt dauert bloß eine halbe Stunde«, verspricht der Rentner, während er in seinen Ford Fiesta steigt. Jahrzehntelang war dies sein Arbeitsweg zur Braunkohleveredlung Borna-Espenhain. In 25 Meter hohen Schwelöfen produzierten die Kumpel Koks, Teer und Gas. Einige von ihnen warten auch heute wieder auf ihn, obwohl der Dreischichtbetrieb vor über 30 Jahren zum Erliegen kam. Weil die Ost-West-Rentenüberleitung ihre Altersvorsorge liquidiert hatte, schlossen sie sich 1997 in einem Verein zusammen: der Solidargemeinschaft der Bergleute Braunkohlenveredelung Borna-Espenhain.
Während der gelernte Schlosser anfängt zu erzählen, ziehen die Säulen des Bundesverwaltungsgerichts an der Beifahrerseite vorbei. Sein Bild vom Rechtsstaat ist getrübt. Wegen der enormen Gesundheitsbelastung versprach ihm die DDR eine höhere und frühere Rente. Im westdeutschen Sozialgesetzbuch ist davon keine Spur mehr, obwohl solche Verwaltungsakte laut Einigungsvertrag in die BRD überführt werden sollten. Um ihren Rentenanspruch geltend zu machen, standen die Bergleute schon häufig vor Gericht – erfolglos.
(Ge-)Schichten der Braunkohleregion
Um die alte Fernverkehrsstraße Richtung Chemnitz windet sich die Baustelle der neuen Bundesautobahn A72. Sie zieht einen Längsschnitt durch die Landschaft – lässt die Geschichte der Kohleregion im Profil erscheinen. Werner Friedrich deutet nach links: »Dort liegen noch die Trümmer aus dem Zweiten Weltkrieg.« 1.392 Bomben fielen auf das Espenhainer Werk, das für die Kriegswirtschaft strategisch sehr wichtig gewesen war. Bis zum Schluss wurde hier der Treibstoff für die Panzer der Wehrmacht produziert.
Noch tiefere Krater rissen die Kohlebagger in die Erde, nachdem der Betrieb unter sowjetischer Besatzung wieder aufgenommen wurde. Eher provisorisch wurde die Anlage wieder zusammengeflickt. Der Qualm der Schornsteine überzog die ganze Region mit einer Schicht aus Dreck und Gift. »Wenn man im Wald Pilze sammeln ging, wurde man komplett schwarz«, erinnert sich Friedrich. »Die DDR hatte ein großes Umweltproblem.« Davon ist heute nur noch wenig zu sehen. Aus Tagebau wurde Badesee – »und in den Flüssen schwimmen sogar wieder Fische.«
Das Braunkohlenkombinat war sein zweites Zuhause, so zermürbend die Arbeit auch war.
Kurz vor Borna deutet der Bergmann auf ein Industriegebiet, das links der Fahrbahn hinter einer Reihe von Bäumen empor ragt: »Hier stand die Schwelerei.« Das Braunkohlenkombinat war sein zweites Zuhause, so zermürbend die Arbeit auch war. Nachdem 1991 die Öfen erloschen, arbeitete er weitere neun Jahre im Abriss der Fabrik. Immerhin nicht arbeitslos, wie viele andere. »Ich habe meine eigene Lebensleistung wieder zerstört«, lautet seine Pointe. Was von der Arbeit der Bergleute übrig blieb, ist bloß ein dünnes Sediment aus Schwelgas und Baustaub.
Ein ewiger Rechtsstreit
Ortseingangsschild Borna. Eine weitere Bergmannsuniform bewegt sich auf der schmalen Straße Richtung Stadtkulturhaus. »Na, passt sie dir noch?«, scherzt er. »Ich krieg’ sie vorne nicht mehr ganz zu.« Immer mehr Männer und Frauen in Bergkittel versammeln sich zu einer Sitzung der Solidargemeinschaft. Schließlich sind es neun Personen, einige von ihnen kennen sich seit einem halben Jahrhundert.
Günter Freitag, der Sprecher der Solidargemeinschaft, ergreift das Wort. Oder besser gesagt: wird vom Wort ergriffen – 25 Jahre Rechtsstreit sprudeln aus ihm heraus. Auf einem Beistelltisch türmen sich Zeitungsartikel, Briefe und ausgedruckte E-Mails, die ihm die Stichworte zuwerfen. Da war der Petitionsausschuss des Bundestages, der »fachlich falsche« Schriftsätze vorgelegt habe, die ehemalige Bundesarbeitsministerin und SPD-Vorsitzende Andrea Nahles, die den Rechtsanspruch zur Fiktion erklärte, und schließlich der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble – der gar nicht erst antwortete. Es ist vor allem das Missverstehen, das die Bergleute ärgert.
Immer wieder wird die Braunkohleveredlung als Carbochemie klassifiziert, obwohl sie rechtlich davon unterschieden wurde. »Braunkohle hat ganz andere stoffliche Eigenschaften als Steinkohle«, betont Artur Hänel, dessen Uniform durch besondere Kragenspiegel imponiert. Der ehemalige Berginspektor erklärt, dass durch den höheren Schwefelgehalt giftigere Abgase entstehen. Aufgrund der gesundheitlichen Gefahren galten in der DDR deshalb dieselben Rentenansprüche wie für die Arbeit unter Tage. Da im Westen vor allem Steinkohle veredelt wurde, fällt diese Besonderheit meist unter den Tisch. »Die westdeutschen sogenannten Fachleute hatten keine Ahnung von der Braunkohleveredelung«, spottet Hänel.
Arbeit ist im Kurs gefallen
Diese feinen Unterschiede entpuppen sich heute als existenziell. Da die Carbochemie in der Bundesrepublik nicht zu den bergmännischen Tätigkeiten zählt, gelten die Espenhainer Bergleute auch nicht mehr als Bergleute. »Wir sind keine Spinner«, empört sich Freitag, »wir haben jahrzehntelang bergmännisch gearbeitet und können das belegen!« Dabei kramt er ein grünes Büchlein hervor, den Sozialversicherungsausweis der DDR: »Das ist unser Heiligtum.« Ihre gesamte Arbeitsleistung ist in diesem Buch dokumentiert. Es ist der einzige Zeuge, dem vielleicht noch Glauben geschenkt wird.
»Ich war Aktivist«, erinnert sich Friedrich, »die Hälfte von uns war es.« Die Partei zeichnete diejenigen, die ihr Soll übererfüllten, als »Aktivisten der sozialistischen Arbeit« aus. Die Anerkennung diente als Ausgleich für die unhaltbare Belastung in der Schwelerei. Mitte der 1980er Jahre kamen auf 100 Beschäftigte jährlich 39,5 Unfälle. Und trotzdem: »Arbeit stand bei uns an erster Stelle«, betonen die Bergleute unisono. Mit der Wiedervereinigung ist sie im Kurs gefallen. Gleich den Abgasen der Schwelöfen hat sich ihre Lebensleistung im neuen Rechtssystem in Luft aufgelöst.
Ein Vierteljahrhundert haben politische Maßnahmen gegen die Rentenungerechtigkeit auf sich warten lassen. Im Januar beschloss die Bundesregierung einen Härtefallfonds, bei dem Betroffene aus Ostdeutschland einmalig 2.500 Euro beantragen können. Eine symbolische Geste der Anerkennung, so scheint es. Für die Bergleute spricht sie eine andere Sprache. Da ihr Einkommen knapp über dem Schwellenwert liegt, ist niemand von ihnen leistungsberechtigt. Sie fallen allesamt durchs Raster. Nun gilt das Thema »DDR-Renten« seitens der Bundesregierung als erledigt. Das Möglichkeitsfenster für eine echte Entschädigung schließt sich.
Für viele ehemalige Kumpel käme sie ohnehin zu spät. Lungenkrebs, Bronchitis, Herzprobleme – die Liste der Folgeschäden ist lang. So auch die Liste der Verstorbenen: 234 der 600 Bergleute sind an den Folgen ihrer Arbeit bereits »jämmerlich zugrunde gegangen«, wie ihr Sprecher formuliert. Was sie hinterlassen sind unzählige schwarze Bergkittel. Ihre Forderung nach Anerkennung bleibt bis heute unabgegolten.